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Pater Fritz Köster
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Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Kann "Kirche" zugleich dogmatisch und demokratisch sein?

November 2003

1. Was heißt: "Dogmatisierung des Glaubens"?

Beim näheren Zusehen ist die Bibel nicht vom dogmatischen Denken bestimmt. Jesus hat zu seinen Jüngern und ersten Begleitern/Innen keine Rechtsgelehrten und (damalige) Theologen erwählt. Er kündete seine Botschaft an einfache Handwerker und Fischer, an Frauen und Männer aus dem "einfachen Volk". Den damals politisch und religiös Mächtigen erteilte er auf weiten Strecken und aus unterschiedlichsten Gründen eine klare Absage.

Tragischerweise denken heutige Kirchenführer viel zu wenig über die simple Tatsache nach, daß Jesus sein Dankgebet "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde" mit dem Satz begründete, "weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast" (Mt 11.25). Paulus greift einen ähnlichen Gedanken aus dem AT auf: "Ich lasse die Weisheit der Weisen vergehen und die Klugheit der Klugen verschwinden. Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?" (1 Kor 1.19f).

Diese und andere Texte lassen die Vermutung zu, daß die Worte und Taten Jesu sehr viel mit dem lebendigen Leben von Menschen zu tun haben (wollen). Sie riskieren, hohle Worte und vielversprechende, aber recht unwirksame Appelle zu werden in dem Augenblick, in dem die Klugheit der Klugen sie in lebensferne Welten entrückt.

Der Verdacht, daß dies allzu sehr geschehen ist, drängt sich spätestens in dem Augenblick der christlichen Geschichte auf, in dem der Fragehorizont der griechischen Philosophie ins biblische Denken eingedrungen ist, um es schließlich zu verdrängen. So kam es, daß die eigentlich großen "Theologen" der Kirche u.a. zwei griechische Denker geworden sind: Platon und Aristoteles. Ohne sie ist die christliche Theologie bis heute nicht denkbar. Weil unsere Gesellschaften heute immer mehr Abschied nehmen von solchem Denken und sich - zu Recht oder zu Unrecht - den naturwissenschaftlich-technischen oder humanwissenschaftlichen Fragestellungen zuwenden, ist der Bruch zum herkömmlichen Christentum offenkundig vollzogen - ganz abgesehen davon, daß die Kirche mit ihrer dogmatischen Lehre in den Kontinenten Afrika, Asien, Lateinamerika weitgehend nur deshalb "ankommt", als deren Völker einen Weg und eine Möglichkeit in ihm sehen, Anschluß an den europäischen Wohlstand zu finden.

In unseren Breiten ist die Dogmatisierung des Glaubens dadurch vollzogen worden, daß die Botschaft Jesu aus dem Leben der Leute herausgeholt und den großen Denkern anvertraut wurde. Diese dachten in allen möglichen Varianten über den "Glauben" nach. Dahinter steckte zunächst ein konkretes Anliegen: im griechischen Umfeld wollte und sollte das Christentum nicht als "primitiv" erscheinen, als eine Religion der ungebildeten Leute. Man suchte die Auseinandersetzung mit der gebildeten Schicht. Der Prozeß fand seine Aufgipfelung in der Gründung der christlich-orientierten Universitäten und Fakultäten. Die Konsequenzen daraus veränderten das Christentum grundlegend: das Christentum ging eine Symbiose ein mit allem, was unter dem Begriff "Kultur" subsumiert wird: mit Musik, bildender Kunst, Philosophie, Wissenschaft...

Theologie und Klerus-Kirche entwickelten ein hohes Niveau des Denkens. Das Christentum wurde so etwas wie eine Spezialisten-, Theologen- und Klerusreligion. Derart angepaßt, wurde es von großen Teilen des damaligen gesellschaftlichen Adels willkommen geheißen, zumal sich die Kirche nach dem Vorbild der Staaten organisierte: monarchisch, hierarchisch, fürstlich- klerikal, zentralistisch ... bis in die einzelnen Pfarreien hinein. Mit Theodor Adorno könnte man sagen: die Kirchentheologie brachte, im Maße sie zum Instrument der Selbstfindung und Selbstbehauptung kirchlicher Interessen wurde, eine verhängnisvolle "Verkürzung des Denkens" mit sich.

Entsprechend wurde der dogmatische Glaube dem Volk vorgelegt: als eine festgelegte Lehre in Dogmen, Sätzen und Begriffen; als ein Für-wahr-halten dessen, was Lehramt und Klerus-Kirche verbindlich zu glauben auftrugen. Ein solches Glaubensverständnis wird heute auf weiten Strecken nicht mehr nachvollzogen. Zum einen wird es als "Nähe zu einer Staatsdoktrin" verstanden, als Maßnahme zur geistigen Gleichschaltung des Volkes unter dem Vorwand der "Einheit der Kirche"; zum anderen entdecken gerade auch Bibelleser eine eklatante Diskrepanz zum Ursprünglichen. Denn die Bibel ist alles andere als dogmatisch und kirchenrechtlich bestimmt.

Was früher einmal eine gewaltige Stärke für Kirche und Christentum war, erweist sich heute als eine tödliche Schwäche. Biblisches Denken ist abhanden gekommen. Ebenso fehlt das aktive Vorhandensein des Volkes. Wo es zum Kirchenerhalt mobilisiert wird, schwindet immer mehr die Kraft. Jetzt rächt sich eine lange Entwicklung: dem Christentum der Spezialisten ist der "consensus fidelium", die "vox populi" verloren gegangen. Das früher ungebildete und heute informierte Volk versteht die Sprache und Probleme der Theologen nicht; und die Theologen theologisieren weit weg von den Anliegen des Volkes. Kirchlich entwickelt sich eine Hierarchie ohne Volk. Keine theologischen Modeströmungen oder Biblizismen vermögen diesen Trend zu stoppen bzw. umzukehren.

Zugegeben: die Leute haben die Theologie der Theologen noch nie verstanden (wenn auch Manches auswendig gelernt wurde). Aber sie wurde in Gehorsam und Ehrfurcht befolgt. Solche "Tugenden", die keine waren, fehlen heute. Die eklatant-wachsende Kluft zwischen "Amtskirche" und Volksempfinden zeigt sich bis heute in der Tatsache, daß jene sich weitgehend mit kircheninternen Problemen beschäftigt, sehr wenig aber mit dem, was für Menschen lebens-wichtig ist. Religionssoziologische Studien von Shell, Allensbach, Jörns usw. werden kirchenamtlich höchstens nebenbei zur Kenntnis genommen. Ernst in die Überlegungen hineingenommen, werden sie nicht.

2. Die Kirche: "Haupthindernis des Glaubens".

Diese Aussage stammt von Josef Ratzinger, dem heutigen Präfekt der römischen Glaubenskongregation. 1968 hat er geschrieben: "Für viele ist die Kirche heute zu einem Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu vertreten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen".

Was 1968 bereits galt, ist bis heute in ein akutes Stadium getreten. Im Blick auf die vielen theologischen "Sprachspiele" der nicht zu eindeutigen Ergebnissen kommenden "ökumenischen Gespräche" fragt eine kommentierende Stimme (2003): "ob das glaubende Volk einer modernen Welterfahrung derart spitzfindig wirkende theologische Sprachspiele überhaupt noch nachvollziehen kann, ja ob eine Theologie des 21.Jahrhunderts nicht längst völlig neue Vorstellungsmodelle und Bildwelten entwickeln muß, um das für heute angemessen zu formulieren, was eine theologisch-philosophische Mystik des 4., 5. und 6. Jahrhunderts gemäß den ihr zur Verfügung stehenden, von uns sehr verschiedenen Denk- und Erkenntnishorizonten auszudrücken versuchte"?

Zugegeben: im katechetischen und pastoralen Bereich sind seit 1945 enorme Bemühungen unternommen worden, um die "Inhalte des Glaubens" sprachlich und methodisch neu zu erschließen. Als "verdächtig" angesehen werden solche Versuche immer, wenn der Eindruck unakzeptierter Beeinflussung, Gängelung und "Inbesitznahme" entsteht - also einer "Proselytenmacherei", die darauf aus ist, Mitglieder zu werben oder bei der Stange zu halten. Dennoch scheint das Haupthindernis darin zu bestehen, daß deduktiv einer Universitäts-, Kirchen- und Lehramtstheologie Vorschub geleistet wird.

Der umgekehrte Weg, bei Menschen, ihren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen anzufangen, also zuerst den "Sitz im Leben" zu erforschen und ihn theologisch-christologisch zu deuten und zu orientieren, käme einem "Paradigmenwechsel" gleich. Er nähme das Leben von Menschen radikal ernst und würde das Tor eröffnen zu einer Theologie des Volkes. Wenn nicht alles täuscht, geht es den Menschen von heute nicht um eine dogmatische Lehre, sondern um die Suche nach einem gelingenden, menschengerechten wie auch gottgemäßen "wahren Leben". Dazu bedarf es glaubwürdiger Vorbilder und Modelle, die deutlich machen, wie das biblisch Gelehrte und Gepredigte in den unterschiedlichsten Situationen des Lebens "machbar" und "lebbar" werden kann?

Die Predigt Jesu und die dynamischen Zeiten christlicher Geschichte lebten und leben immer wieder aus dem, was Menschen konkret verstehen und persönlich mitvollziehen können. Daraus wächst auch Verantwortung. Was in der Predigt Jesu wichtig und unverzichtbar war, wurde von den Menschen als unverzichtbar verstanden für menschliches Zusammenleben und zum Heil der Welt. Letztlich drehte sich alles um die Einübung in ein neues Denken und in Lebenshaltungen, d.h. um die Praxis der Liebe, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Toleranz, Gemeinschaft usw.

Solche Leute-Theologie konnten sogar Ungebildete und Analphabeten entscheidend mitgestalten. Es ging und geht dabei ja nicht um akademische Gedankenakrobatik und abstrakte Definitionen, sondern um das Bewährtsein durch Lebenserfahrungen. Dabei wuchs auch der sensus fidelium zu einer gestaltenden Kraft. Im Tun der Wahrheit und im Austausch darüber kamen Lebensprozesse in Gang, die sich als überzeugender und tragfähiger erwiesen als alle Lehr-Systeme zusammen. Was heute Not tut, ist nicht die Fortsetzung einer "sterilen Dogmenfrömmigkeit" (Goethe), sondern die Wiederbelebung der "naiven Frömmigkeit" einer Glaubensgemeinschaft unter Gleichberechtigten und Gleichgesinnten. Leute-Theologie schließt menschliches Suchen, Fragen, Zweifeln, Hinterfragen nicht aus, sondern lebt von ihnen. Was durch Christen und Menschen überhaupt geschieht, steht nie für sich allein. Es geschieht in einem größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang, so wie der in die Erde gesenkte Same, der dem Tag der Ernte entgegenwächst. Das Glaubensbekenntnis Ernesto Cardenals weist in die richtige Richtung:

Wir glauben an Gott. Er gab denen, die unter dem Gesetz litten, die Liebe. Er gab denen, die fremd waren im Land, ein Zuhause. Er gab denen, die unter die Räuber fielen, seine Hilfe. -
Wir glauben an Jesus Christus, Sohn Gottes, unseren Bruder und Erlöser. Er gab denen, die Hunger hatten, zu essen. Er gab denen, die im Dunkel lebten, das Licht. Er gab denen, die im Gefängnis saßen, die Freiheit.

Wir glauben an den Heiligen Geist. Er gibt denen, die verzweifelt sind, neuen Mut. Er gibt denen, die in der Lüge leben, die Wahrheit. Er gibt denen, die die Schrecken des Todes erfahren, die Hoffnung zum Leben.

3. Der "universalen Erlösungserwartung" eine Stimme geben.

Vom jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig stammt das Wort: "Gott hat nicht die Religion, sondern die Welt erschaffen". Dem könnte man aus christlicher Sicht hinzufügen: Gott geht es primär nicht um die Kirche, sondern um das Heil der Welt. Wenn schon "Kirche", dann nur als Mittel zum Zweck, als Instrument, damit die Welt heiler, gesunder, erlöster... werden kann. Nach nichts verlangt die heutige Weltsituatíon mehr als nach dieser zentralen Aufgabe. Sie läßt sich allerdings nicht durch Appelle lösen, sondern nur durch Motivationsschübe, die wie ein "Ruck" durch die Völker gehen.

Wenn Menschen heute wieder als "religiös" (wenn auch konfessionslos) angesehen werden; wenn Religion wieder "in" ist, dann bestätigt sich das, was Paulus bereits schreibt: "Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes... Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt..."(Röm 8.18-30). -

Was hier mit dem "Offenbarwerden" für die ganze Schöpfung durch die Söhne und Kinder Gottes gemeint ist, kann nichts anderes bedeuten als eine Beauftragung an Christen, die die "Erstlingsgabe" empfangen haben. Solche "Beauftragung" hat wenig mit kirchlicher Selbstbestätigung zu tun; auch nicht mit abstrakten und kontroversen Theorien über "absolute Wahrheiten", sondern mit konkreter Lebensführung und zeugnishafter Weltbewältigung, welche die christologische Orientierung allen Weltgeschehens deutlich machen (vgl. Kol. 1.12-20). Im biblischen Denken gelingt das nur durch das Tun der Wahrheit, d.h. durch das Lernen und Praktizieren dessen, was da mit Liebe, Güte, Geschwisterlichkeit, Toleranz, Gemeinschaft... gemeint ist. Von daher ist auch Glaube zu verstehen.

"Glaube" ist weniger das Für-wahr-halten von theologischen Sätzen als viel mehr die verbindliche Übernahme dessen, was Jesus gesagt und getan hat. Glaube ist nur glaubwürdig, wenn bei Glaubenden wie Glaubenshütern die innere Übereinstimmung zu sehen ist zwischen dem, was das Evangelium an Lebens-Werten verkündet und der konkreten Lebensführung. Glaube an Gott ist immer zugleich auch Glaube an den Menschen und an seine Beauftragung.

Insofern spielen bei Glaubenden humane Lebens-Werte eine entscheidende Rolle. Auch Jesus hat sie verkündet und beispielhaft gelebt. Bei Jesus war es aber kein bloßer "Humanismus" oder "Horizontalismus", sondern er stellte sie in den größeren heils-geschichtlichen Zusammenhang der Vorhaben Gottes mit der Welt. Sie waren nicht "konfessionell" oder "religiös" bestimmt, nicht kirchenamtlich oder kirchenrechtlich festgelegt, nicht nach Mann oder Frau klassifiziert. Wo es um das neue, von Gott gewollte Erlösungsgeschehen ging und geht; um die "Sache Gottes" mit der Menschheit, da waren und sind alle aufgerufen, die eine Spur jener Erlösungssehnsucht in sich tragen, die Paulus beschreibt.

4. "Demokratisch"? - Eine hohle Wortklauberei.

In der Perspektive des universalen Heils- und Erlösungsgeschehens wird die Frage, ob "Kirche" demokratisch oder eher dogmatisch sein muß, zu einer hohlen Wortklauberei. Wo es um "Lebensprozesse" geht, die auf das Wohl und Heil der Welt ausgerichtet sind, muß "Kirche" auf jeden Fall Strukturformen schaffen und erhalten, die die wirklichen "Gottesberufungen" zum Zuge kommen lassen. Das sind gewöhnlich keine Kirchenbeamten oder Glaubens-Funktionäre, sondern "Bewährte" in Glaube und christlicher Lebensführung. Wo diese zum Zuge kommen, da können die langsam entstehenden Lebensprozesse "demokratisch" genannt werden oder gemeinschaftlich, geerdet-pneumatisch oder paritätisch, charismatisch oder lebensbewährt - unverzichtbar ist und bleibt, daß sie schöpferische Kräfte entfalten; daß sie sowohl den Fähigkeiten von Menschen als auch den Anforderungen des Evangeliums gerecht bleiben.

Mitten in der Kirchenkrise muß es vorrangig um die Überwindung steriler Dogmengläubigkeit und "wertloser Wahrheiten" gehen. Ein erneuertes Christentum mit jugendlichem Gesicht ist gefragt: kreativ, einfallsreich, unkonventionell, neugierig, unruhig, hoffend unterwegs - eins "mit offenen Augen und Ohren", denen nichts entgeht, was der Menschheit zum Frieden dient.


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