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Pater Fritz Köster
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Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Gedanken über ZeitenWende - WendeZeiten (IV): Unreligiös durch religiöse Erziehung?

Dezember 2004

Durch Jugend- und Bildungsarbeit, durch staatlich garantierten Religionsunterricht in den Schulen tun Kirchen alles Erdenkliche, um junge Menschen religiös zu erziehen. In früheren Zeiten schien dies relativ problemlos zu gelingen - bei gleichzeitiger Sozialisation in vorhandene religiöse Milieus. Heute, wo solche Milieus fehlen, sprechen Indizien dafür, dass das Gegenteil erreicht wird.

In der gegenwärtigen Zeit spielen Worte wie "Ich", "Ich-Werdung", "Selbst-Verwirklichung", "Persönlichkeit"... eine große Rolle. Es sind nicht nur Worte, sondern auch "Taten". Sie spiegeln eine Lebenseinstellung wider, sind auf einen persönlich verantworteten Lebensentwurf angelegt.

In manchen Zweigen der Humanwissenschaft ist es üblich geworden, von verschiedenen Ich-Trieben bzw. Ich-Kräften zu sprechen, die das gesamte Leben des Menschen bestimmen. So entwickelt sich beim Kleinkind schon eine bestimmtes und bestimmendes "Ich". Es ist gekennzeichnet vom Grundgefühl absoluter Abhängigkeit. Ein Kind empfindet sich als "unfertiges Wesen" und ist es auch. Es erlebt sich als schwach, weil den Erwachsenen gegenüber hilflos ausgesetzt. Wird dieser Eindruck von den ersten Bezugspersonen Mutter/Vater durch deren eigene menschliche und pädagogische Unfertigkeit verstärkt, verfestigt sich beim Kind das Gefühl, ich-schwach, minderwertig und "nichts wert" zu sein.

Solche kindliche Empfindungen könnten nur durch die Erfüllung der Sehnsucht nach Liebe, Zuwendung, Geborgenheit und Vertrauen überwunden werden. Sind die Eltern dazu nicht fähig oder gewillt, speichern sich verstärkt im Kind - nach Art eines Computers - Ängste und Gefühle der Minderwertigkeit, Antriebsschwäche, Ich-Verlassenheit und Einsamkeit. Lebt dagegen ein Kind in einer "normal geregelten und menschlich gesunden Umwelt", wird das Ich-Bewußtsein gestärkt. Ebenso die ihm angeborene Fähigkeit, unverkrampft die Dinge so zu sehen und zu erleben, wie sie sind. Ein Kleinkind quietscht vor Vergnügen, strampelt mit Händchen und Beinen, wenn es die Umwelt positiv und unmittelbar als Ich-Bestätigung begreift und in sich aufnimmt. Es vermag auf die Liebe der Mutter, die Zuwendung des Vaters, das Singen des Vogels und auf das Surren der Katze... unvoreingenommen und unverfälscht zu reagieren.

Von dieser Art "Kindsein" sagt Jesus: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder..."(Mt 18.3). Solche Kinder vermögen sich frei, ungezwungen, fröhlich und bedenkenlos in die Arme eines Erwachsenen zu werfen. In Sinne des Evangeliums vermögen sie freimütig und vertrauensvoll "Ja" zu sagen zum Du des anderen, letztlich zum Du in der Bundesgemeinschaft mit Gott.

Mit den ersten Ich-Erfahrungen des Kindes sind also Eltern-Erfahrungen aufs engste verbunden. Eltern zeigen ihre Autorität gewöhnlich dadurch, dass sie dem Kind sagen, was es zu denken, zu tun und zu unterlassen hat. Mit der wachsenden Sozialisation in Familie und Gesellschaft werden Maßstäbe positiver oder negativer Art gesetzt. Verhaltensweisen werden eingeübt. Das "Du musst" und "Du darfst nicht" wird mehr oder weniger durch sozialen Druck auf junge Menschen erreicht. Verhindern diese die Ich-Entfaltung, können für das ganze Leben Ängste und Gewissensbisse entstehen - immer dann, wenn der Mensch es wagt, das Leben anders zu sehen und auf konkrete Anforderungen anders zu reagieren als es von Kindheit an gelernt und im Unterbewusstsein als ein "Du musst" gespeichert wurde.

Die emotional-geistige Prägung zeigt sich im späteren Leben z.B. dadurch, dass Gewalterfahrung in der Kindheit später zur Gewalttätigkeit führt. Eltern, die selbst früher Gewalt erfahren haben, übertragen diese Eigenart auf die eigenen Kinder. Von Generation zu Generation kommt beim Kind immer wieder die "gespeicherte Reaktion" zum Ausbruch: "Wenn ich einmal groß bin...". Was man sich als Kind noch nicht "leisten" kann, wird in späteren Jahren nachgeholt: Endlich selbst groß geworden, schlägt es zurück - wie bei den Eltern beobachtet. Wie bei den Eltern werden Ärger und Verdruß im Alkohol ertränkt. Wie bei den Eltern kein ausgeprägter Sinn für Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit vorhanden war, wird auch das Kind geneigt sein, nach Außen mit Tricks und Scheinheiligkeit zu beeindrucken...

Daß solche Urerfahrungen in der religiösen Erziehung nicht durch die Vielzahl frommer Gebete oder durch das Auswendiglernen biblischer Texte aufgearbeitet werden können, liegt auf der Hand. Im Gegenteil: religiöse Wahrheiten und hochgepriesene Ideale können die Diskrepanz zur Wirklichkeit besonders deutlich hervortreten lassen. Hinzu kommt die Erfahrung: ich mußte mein Denken und Verhalten stets nach den Vorgaben anderer ausrichten. Ich konnte dabei nicht frei sein. Nun gilt das auch für den Bereich der Religion! Kirchliche Dogmen, Moralvorschriften, liturgisch festgelegte Abläufe... schreiben dem Menschen vor, was und wie er über Gott zu denken hat; was er zu tun und zu unterlassen hat, um "religiös" und "gläubig" zu sein. Unter solcher "Autorität" wird das Bewusstsein der Abhängigkeit und Unfreiheit auch im Religiösen verstärkt. Es werden zudem Ängste und Zweifel an der eigenen Urteilsfähigkeit geschürt - Ursachen dafür, dass Menschen im "normalen Leben" sehr selbständig zu sein vermögen, im religiösen aber einer unverständlichen Autoritätshörigkeit verhaftet bleiben.

Martin Buber unterscheidet übrigens zwischen dem Du-Glauben und dem Daß-Glauben. Jener bezieht sich auf ein persönliches Gegenüber. Es handelt sich um einen Beziehungs-, Vertrauens- und Gehorsamsglauben, der sich im Raum existentieller Verantwortung und Freiheit entfaltet. Er wird "sichtbar" und "erkennbar" an Lebenshaltungen und Lebensformen - an einer Lebensführung, die sich an religiösen Menschen und ethischen Werten orientiert. Diesem Ich glaube Dir steht der Daß-Glaube gegenüber. Bei ihm handelt es sich um einen Aussage-Glauben, der auf theologische Sätze konzentriert ist und das Gedachte "für wahr hält". Er ist undenkbar ohne eine zu lernende "systematische Lehre" und Theologie. Damit verbündet sich ein nicht hinterfragbares Vertrauen auf einen universitär-akademischen Betrieb, der immer differenzierter - für die meisten unverständlich! - Glaube und Lehre kündet.

Nach Martin Buber sind beide Glaubensformen miteinander unvereinbar. Der jüdische Schriftsteller Benyoetz scheint derselben Meinung zu sein, wenn er schreibt: " Der Glaube hat keinen Gegenstand, ist keine Überzeugung, sondern einzig: Liebe zu Gott".

Im Du-Glauben vermag der Mensch erwachsen und mündig zu werden. Diese Art des Glaubens lebt im Horizont eigener Entscheidungen und Optionen; er ermöglicht ein persönlich entwickeltes Gewissen in Freiheit und Verantwortung; er vermag sich im Du des menschlichen wie göttlichen Gegenüber schrankenlos angenommen und geliebt zu wissen - trotz Fehler und Schwächen. Im Du-Glauben findet der Mensch seinen ihm zugedachten angestammten Platz im Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen Gottes, wie sie von Jesus eingeleitet und verkündet wurden. Der Mensch lernt sich "religiös" zu begreifen als eine unverwechselbare Person, als ein von Gott angenommenes und in Dienst genommenes schöpferisches Wesen, als Mitarbeiter Gottes am Heil der Welt.

Wenn Martin Buber und andere einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Du- und dem Daß-Glauben sehen, dürfen die Nuancen nicht übersehen werden, die diesen Gegensatz bestimmen. Der Daß-Glaube beschäftigt sich primär mit systematischer Lehre und Theologie. Er sucht Menschen in die Pflicht zu nehmen, macht sie gleichzeitig hörig und abhängig. Der Du-Glaube bringt den Menschen in Beziehung zu einem Anderen, zu dessen ethischen und moralischen Werten, die es verbindlich und sinnvoll zu leben gilt. Die Bibel ist voll von solchen zu lebenden Werten wie Liebe, Gerechtigkeit, Toleranz, Gemeinschaft... Jeder noch so ungebildete Mensch kann sie als sinnvoll und lebenswert erfahren. Denn sie bewähren sich im Leben. Sie machen auch deutlich, dass deren Vernachlässigung das Leben und Zusammenleben empfindlich stört, wenn nicht zerstört.. "Nur gedacht, definiert und diskutiert" werden sie schnell zu einer klingenden Schale, zu einem tönenden Erz und hohlen Gefäß (1 Kor 13). Aber ins Leben übersetzt und praktiziert, erweisen sie sich als heilsam und erlösend für den Betroffenen selbst, ebenso für andere und für die Welt. Sie werden zum "Licht der Welt", zum "Sauerteig" - dazu angetan, das Weltgeschehen positiv zu beeinflussen.

Es ist höchste Zeit, dass Menschen im Du-Glauben wieder religiös werden durch religiöse Erziehung - eine Aufgabe, die dem Daß-Glauben entscheidend weniger gelingt, zumal dieser im Verdacht steht, mehr einem System als dem Menschen zu dienen. Der Verkündigung Jesu geht es darum, evangeliumsgemäße Werte leben und tun zu lernen - in verbindlicher Selbstverpflichtung aller, die sich Christen nennen und solche sein wollen.

Es ist nicht von ungefähr, dass in der ersten großen Zeit des Christentums dessen Botschaft von den einfachen Leuten, von Fischern und Handwerkern, von Männern und Frauen aus dem "niederen Volk" am besten verstanden und tragfähig gemacht wurde. Das Christentum ist vom Ansatz her keine Kleriker- und Theologenkultur, sondern eine Lebenskultur. Es hat mit theologischer Gedankenakrobatik nur wenig gemein. Viel eher mit Nachfolge-Gemeinschaften, die mitten im Leben stehen und aus dem Leben herauswachsen.. Der theologischen Expertokratie ist es aufgegeben, ihre entscheidenden Grenzen akzeptieren zu lernen. Das Christentum hat nur eine Zukunft, wenn der theologische Intellektualismus von wenigen durch das "Tun der Wahrheit" von vielen überwunden wird.
 

 


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