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Pater Fritz Köster
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Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Ökumenischer Kirchentag in Berlin: Mai/Juni 2003

Entgleitet "den Kirchen" die Dynamik der Ökumene?
Innerkirchliches Schisma zwischen Ökumene "von oben" und Ökumene "von unten".

März 2003

1. Das Schisma

Wenn man jahrelang als Pastoraltheologe durch die Lande zieht - immer im Gespräch und der Konfrontation mit Menschen und Gruppen, denen es (noch) um die Fragen über Kirche und Christsein in der heutigen Welt geht - , dann kann man sich, sobald das Thema "Ökumene" angesprochen wird, des Eindrucks nicht erwehren: es gibt heute zwei sehr unterschiedliche Ebenen, auf denen über dieses Anliegen gedacht und geredet wird. Die eine amtskirchliche Ebene könnte man kurz mit den Sätzen umreißen: Dialog zwischen den Konfessionen; gegenseitiges Verständnis füreinander; Klärung all dessen, was da theologisch kirchentrennend im Raum steht, verbunden mit dem angestrebten Ziel, zu einem gemeinsamen Verständnis richtiger oder für richtig gehaltener Glaubensinhalte zu kommen. - Die andere Ebene lässt sich kurz auf die Formel bringen: gemeinsam leben und Leben gestalten statt gegeneinander oder nebeneinander theologisieren. Nur so kann das "Salz der Erde" überhaupt Wirksamkeit entfalten. Dagegen kann man schnell zu Übereinstimmungen kommen.

Beide Ansätze können, sofern man sie Ernst nimmt und konsequent zu Ende denkt, zu sehr unterschiedlichen, fast konträren Konsequenzen führen. Darüber soll hier zunächst gesprochen werden. Die Tatsache, dass es überhaupt diese unterschiedlichen Ebenen gibt, die kaum miteinander in Einklang gebracht werden können, macht das Drama heutiger Kirchenverhältnisse aus: es gibt nicht nur das "Schisma" zwischen Evangelium und moderner Kultur, wie es Paul VI bereits in "Evangelii nuntiandi" beschworen hat, sondern auch das innerkirchliche Schisma zwischen "oben" und "unten", zwischen Klerus und Volk, zwischen Amtskirche und Basiskirche - ein dramatisches Faktum, welches wohl als eines der wichtigsten Ursachen dafür angesehen werden kann, dass die Menschen die Kirchen verlassen. Denn - so Papst Johannes Paul I - die Menschen verlassen deshalb die Kirche, weil die Kirche sie zuerst verlasen hat. Gemeint ist offensichtlich, dass letztere amtskirchlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist: mit ihrer klugen Theologie, ihrem Amts- und Sakramentenverständnis, ihrem Unfehlbarkeits- und Autoritätsansprüchen, die immer mehr ins Leere laufen.

2. Theologischer Dialog auf "höchster Ebene"

Was den Dialog auf "höchster Ebene" betrifft, so sei aus jüngster Zeit an ein Ereignis erinnert, welches am 31. Oktober 1999 in Augsburg gefeiert wurde. Durch zwei feierliche Unterschriften wurde ein 450 Jahre alter Streit zwischen Lutheranern und Katholiken über die "Rechtfertigungsfrage" beendet. Damit wurden auch die gegenseitigen Verwerfungen und Verurteilungen von einst, mit denen sich die Kirchen jahrhundertelang gegenseitig diffamiert und misstraut hatten, für nichtig erklärt. Die alte Streitfrage, ob gläubige Christen allein durch Gottes Gnade und den Glauben an die Schrift gerechtfertigt werden bzw. vor Gott bestehen können, wie LUTHER verkündete, oder auch durch gute Werke und die Sakramente, wie die katholische Kirche sie lehrt, wurde in dem Grundkonsens des gemeinsamen Glaubens zu Ende geführt. Man könnte den Konsens auf die Formel bringen: die Gnade Gottes erlöst den Menschen, alle seine Werke sind und bleiben von dieser Gnade abhängig... Dem Anspruch und jedem Versuch, Leistungen zum Maßstab der Religion und des Glaubens zu machen, wurde demnach eine gemeinsame Absage erteilt.

Vorausgegangen zu diesem Ereignis waren jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Kommissionsarbeiten theologischer Fachleute. Als es dann endlich so weit war, dass das Dokument schriftreif unterschrieben werden konnte, protestierten 243 evangelische Theologen. Denn fast gleichzeitig verkündete Papst Johannes Paul II einen vollkommenen Ablass für das "heilige Jahr 2000". Zudem ließ Rom keinen Zweifel darüber aufkommen, dass von einem Konsens in Grundwahrheiten keineswegs ausgegangen werden dürfe. Die Frage nach dem katholischen Weihe- und Amtsverständnis wurde von vorneherein ausgeklammert. Die Autorität des Weltbundes der Kirchen wurde als "eine Stimme", die berechtigt für alle spricht, in Frage gestellt. Außerdem sollte von den Gläubigen keineswegs die Genehmigung zur Abendmahlsgemeinschaft daraus abgeleitet werden. Der Besuch eines ökumenischen statt eines katholischen Gottesdienstes am Sonntag galt weiterhin als "nicht ratsam". Von den Protestanten wurde zugleich unter Protest vermerkt, dass sich der Papst im elenden Streit um die Schwangeren - Beratung einmischte, indem er direkt oder indirekt Kompetenz und Entscheidungsbefugnis in dieser und wohl auch in anderen Fragen einer ganzen deutschen Bischofskonferenz absprach ...

Wo es also um für das Leben der Menschen zentrale Anliegen ging, wurde der Tag des "historischen Ereignisses" in Augsburg getrübt durch die Neigung zu neuer gegenseitiger Abgrenzung: nicht nur im Blick auf andere christliche Konfessionen, sondern auch in Richtung "mündiges Volk Gottes" in Fragen persönlichen Gewissens und eigener Gewissensentscheidungen. Letztlich lief die ganze Entwicklung auf die nicht aufgegebene jahrhundertealte Praxis hinaus: wo es um Glauben und Lehren geht, sind immer die theologischen Fachleute zuständig bzw. in letzter Instanz das Lehramt. Wo es um Freiheit und Gewissen geht, handelt es sich weniger darum, dem Menschen zu einem verantworteten Gewissen zu verhelfen bzw. ihm Kriterien für das "Lernen der Freiheit" an die Hand zu geben, sondern - wie es in der Zeit vor der Aufklärung auch gesellschaftlich gang und gebe war - den Menschen nur, wenn überhaupt, ein Gewissen in Abhängigkeit von einer oberen Gewissensinstanz zuzugestehen. Denn Freiheit und Gewissen waren in früheren Zeiten "oben" anzusiedeln und "von unten" abzuberufen. Konnte es denn heute anders sein? Die Fragen im Hintergrund lauteten stets: Wo kommen wir denn hin, wenn jede/jeder eine Meinung und ein Gewissen hat? Würde nicht, was herkömmlich kirchlich noch einig und geschlossen war, in eine neue Zersplitterung und Uneinigkeit münden?

Was den ganzen Vorgang des pompösen Ereignisses in Augsburg betrifft, so waren die Reaktionen und Kommentare der Öffentlichkeit bezeichnend. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 30. Oktober 1999: "Der Festakt ist ein großer Schritt für die Kirchenspitzen, aber ein kleiner für die Menschheit, der es schwer fällt zu verstehen, um was es überhaupt geht... Ein historischer Tag in Augsburg. Einer, der zeigen wird, wie nah beieinander die Kirchen mittlerweile sind - und wie weit zu gleicher Zeit voneinander entfernt." Die FAZ spricht am gleichen Tag vom "faulen Frieden in Augsburg.. Die geschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses ist nicht gegeben, sie ist erzwungen. Seine kirchliche und mediale Inszenierung wirkt insofern grotesk, als gegenwärtig alles dafür spricht, dass die gemeinsame Erklärung binnen kürzester Zeit als kirchendiplomatischer Kompromiss ohne größere Folgen für das Zusammenleben von evangelischen und katholischen Christen eingehen wird." Und die Frage wird gestellt: Was sind ökumenische Formeln eigentlich wert, wenn sie ohne Folgen bleiben für Amts- und Kirchenverständnis, für den Alltag der Gläubigen, wenn sie der kirchlichen Praxis zuwiderlaufen?

3. Das Dilemma des Dialoges auf "höchster Ebene".

Das Dilemma des ewigen Theologenstreites mit - wie es scheint - wenig Aussicht auf Erfolg hat vielleicht der SWR am klarsten zum Ausdruck gebracht insofern, als der "Mann auf der Straße" mit einbezogen wurde. In einem Kommentar von 11. Juni 1999 heißt es:

"Fragt man den Mann oder wahlweise die Frau auf der Straße, was denn der Unterschied zwischen evangelisch und katholisch sei, dann wird man nach einer Schrecksekunde wahrscheinlich mit verlegenem Lächeln gesagt bekommen, die Pfarrer dürften bei den Protestanten heiraten und bei den Katholiken nicht. Und die Lutherischen hätten Probleme mit dem Papst. Trifft man dazu noch auf einen Intellektuellen, wird er womöglich hinzufügen, dass es bei den Protestanten auch mit der Marienverehrung hapert.

Würde man die Befragten nun dahingehend aufklären, dass das eigentlich Kirchentrennende seit 500 Jahren die Rechtfertigungslehre sei und hätten die Befragten noch die Geduld abzuwarten, bis man ihnen erklärt hätte, dass es bei der Rechtfertigungslehre um die Frage geht - schlicht gesprochen - wie man in den Himmel kommt, dann wäre es schon sehr merkwürdig, wenn die Angesprochenen nicht spätestens jetzt die Flucht ergriffen hätten. Nur die Hartgesottenen würden sich womöglich noch weitere Erklärungen anhören, dergestalt: dass es bei der Rechtfertigungslehre um die wichtige Frage, ob man von Gott angenommen ist allein durch den Glauben und das Vertrauen in ihn oder ob man das Angenommensein durch Gott durch gute Taten positiv beeinflussen kann. Aber auch die Hartgesottenen würden letztlich doch bei dieser einen Gesichtsausdruck aufsetzen, der in Worte gekleidet sagen würde: Haben Sie keine anderen Probleme?

In der Tat ging es in den letzten 500 Jahren wenigstens unter den Theologen vor allem um die Frage: Muss ich etwas leisten, um von Gott geliebt zu werden? Kann ich mir den Himmel durch gute Werke verdienen oder sogar mit Geld erkaufen? Oder wenn nicht, kann ich ein moralischer Sauhund sein, lügen, betrügen, stehlen und huren - weil allein mein Gottvertrauen mich retten wird?

Der gesunde Menschenverstand würde die Wahrheit in der Mitte vermuten. Es gilt als Christ in der Spannung zu leben: einerseits gewiss zu sein, von Gott geliebt zu werden, ohne dass ich ein Recht auf diese Liebe hätte und andererseits gerade aufgrund der Liebe Gottes nach Kräften Verantwortung in dieser Welt zu übernehmen, ohne den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Wie gesagt: der gesunde Menschenverstand wäre da schon früher drauf gekommen. Die Theologen beider Kirchen fühlten sich zwar im Laufe der Jahrhunderte im Besitz des heiligen Geistes, dafür schien sich der gesunde Menschenverstand streckenweise verabschiedet zu haben. Die katholische Kirche des 16. Jahrhunderts fühlte sich nur provoziert von dem deutschen Mönch MARTIN LUTHER, den eindeutig auch ein bisschen seine persönliche Problematik angetrieben hat, es mit der päpstlich-römischen Kirche aufzunehmen.

Jahrzehntelang haben sich die evangelischen und katholischen Theologen in Kommissionen mit diesem Problem und dessen Lösung herumgeschlagen. Vor zwei Jahren war man sich zunächst einig in einem gemeinsamen Dokument. Dann kam die Stunde des Protestes der Konservativen auf beiden Seiten. Nochmaliges Verhandeln. Und nun wird das Dokument am 31. Oktober in Augsburg hochrangig unterzeichnet. Die protestantische Rechtfertigungslehre ist nicht mehr als kirchentrennend zu bewerten.

Heißt das etwa Fusion zwischen Katholiken und Protestanten? Nein - noch lange nicht. Denn da ist ja noch der Papst und der Zölibat und die Frauenordination und das Amtsverständnis und - wieder für die Intellektuellen - die Marienfrömmigkeit. Und der Mann oder wahlweise die Frau auf der Straße würden sagen, wenn man ihnen noch auf der Flucht nachrufen würde, dass das jetzt ein Durchbruch ist: Das hab ich ja doch vorhin schon gesagt, dass der Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten der ist, dass die Pfarrer bei den Evangelischen heiraten dürfen und die Protestanten Probleme mit dem Papst haben. Haben Sie wirklich keine anderen Sorgen?"


So weit der Kommentar. Wie weit er theologisch exakt wiedergibt, worum es eigentlich geht, bleibe dahin gestellt. Wichtig scheint mir das für die Kirchen immer bedrohlicher werdende Faktum zu sein, dass sich die Menschen auf der Flucht befinden. Weil sie "andere Sorgen" haben? Weil sie sich noch einen "gesunden Menschenverstand" bewahrt haben, der aber im kirchlichen Sprachgebrauch keine Rolle spielt?

Was das Dilemma des Dialoges auf höchster akademischer Ebene betrifft, sind hier einige Anfragen angebracht. Ohne der "Öffentlichkeit" gleich einen bösen Willen gegenüber den Kirchen unterstellen zu wollen oder zu können, weisen sie und überhaupt viele religionssoziologische Untersuchungen (vgl. Shell-Studien seit 20 Jahren usw.) auf Anzeichen hin, die deutlich machen oder zumindestens die Vermutungen nahe legen, dass solche gut gemeinten Dialoge letztlich ins Leere gehen.

  • Erstens stellt sich die Frage, ob Äußerungen des Paulus im Römerbrief nicht sehr "situativ" zu verstehen sind im Blick auf Menschen, die aus ihren guten Werken eine Art Ersatzreligion zu machen versuchen und auch die Würde des Menschen als Person davon abhängig machen. Da andere Bibelstellen genau im Gegensatz dazu von den "Werken" und "Früchten" sprechen, an denen der Glaube zu erkennen ist, besteht die Gefahr um so eindringlicher, dass akademisch und philosophisch geschulte Leute etwas "dogmatisieren" und "theologisieren", was jeweils sehr situativ gemeint war und auch nur so zu verstehen ist. Wenn man sich zudem die sehr persönlichen Rechtfertigungsängste, Zweifel und Unsicherheiten im Leben LUTHERs anschaut und nach ihm anderer Würdenträger und Amtsinhaber, so scheint die Versuchung groß, je nach ihrem kirchlichen Einfluss ihr Persönlichstes zu einer "Lehre für alle" hoch zu stilisieren. Den Menschen wird etwas eingehämmert, was in ihrem Lebensbereich nicht problematisch ist. Was in Augsburg nachträglich und geschichtlich längst überfällig theologisch betont und untermauert wurde, ist längst Allgemeingut geworden: das die Würde des Menschen als Person unantastbar ist und bleibt - unabhängig von seinen Werken und äußeren Umständen. Bei aller Betonung der Wichtigkeit der Rechtfertigung wirkt es dennoch geradezu peinlich, wenn dies jahrhundertelang eine heftige Streitfrage zwischen den Kirchen war und weiterhin ohne besondere Konsequenzen bleibt.
  • Zweitens hat sich im "Dialog" gezeigt, dass die "volle Wahrheit" wohl doch nur in der Zukunft Gottes liegt - sozusagen eine eschatologische Hoffnung bleibt. Menschen können immer nur fragmentarisch daran teilhaben. Das hat die Notwendigkeit zur Folge, akzeptieren zu lernen, dass in Fragen der Wahrheit sehr unterschiedlich gedacht werden kann - so wie Menschen sich gegenüber einer bestimmten Politik bzw. gegenüber Politikern sehr unterschiedliche Meinungen bilden, ohne dass die einen gegenüber den anderen exklusiv den Anspruch erheben können, in jedem Fall mehr auf dem richtigen Weg zu sein als die Gegenseite. Wer wirklich einen Sachverhalt klarer erkannt bzw. adäquat beurteilt hat, zeigt sich gewöhnlich erst im Nachhinein - an den Konsequenzen, die de facto daraus entstehen. Auf die theologische Ebene übertragen, stellen sich die Fragen: Welche "Wahrheit" wollte Jesus eigentlich? War es eine in Begriffen und Sätzen dogmatisch fixierte? Liegen in seinem Plan nicht vielleicht doch die vielen Wege zu dem einen Gott? Worin könnte die zu suchende "Einheit" bestehen? Auf solche Fragen werden wir später noch mehr zu sprechen kommen müssen.
  • Die Erfahrung zeigt drittens, dass die große Mehrheit der Christen am Dialog "auf höchster Ebene" nicht beteiligt ist und mangels theologischer Kenntnisse auch nicht beteiligt sein kann. So agiert die "Spezialistenkirche" vor sich hin. Einer wachsenden Mehrheit wird der Eindruck vermittelt, dass das, was "da oben" geschieht, völlig uninteressant und lebensunwichtig ist. Die einzige nicht nur in Europa wachsende Konfession - die Konfession der Konfessionslosen - bekommt so eine kirchlich hausgemachte Verstärkung und Dynamik. Den Kirchen wird gesellschaftlich immer weniger Gewicht beigemessen. Zur gleichen Zeit zeigen religions-soziologische Untersuchungen, dass Religion und Religiosität bei säkularisierten Menschen keineswegs "out" sind. Allerdings treiben sie wie allein gelassene Boote auf dem Meer. Sie bleiben orientierungslos und "konfessionslos" - sozusagen wie in einem Niemandsland, zu dem höchstens Sekten, "freie Kirchen" und suspekte Guru-Bewegungen einen Zugang finden. Der Zeit der religiösen Blindenführer und der falschen Propheten werden so Tor und Tür geöffnet.

4. Vieles kann sehr wahr sein - aber ist es auch wichtig?

Es gibt das seit Jahrzehnten auf höchster Ebene durchgehaltene ökumenische Prinzip, das jede Seite zur Wahrheitssuche verpflichtet ist und dass man das als wahr und richtig erkannte Lehrgebäude nicht beliebig verändern kann. Es ist im wachsenden Maße von der Erkenntnis begleitet, dass auch die Kirchen die Wahrheit nie vollständig zu erkennen vermögen. Denn die letzte Wahrheit liegt bei Gott. Dabei treten neue Ängste und Unsicherheiten auf. Kann es neben "unfehlbaren Wahrheiten und Dogmen" noch andere gleichberechtigte geben? Kann man sich in "versöhnter Verschiedenheit" an Unterschieden erfreuen und Abweichlerisches einfach tolerieren, ohne es zu verdächtigen? Erweisen sich nicht alle ökumenischen Maßnahmen als Schritte in eine neue Unsicherheit, um der gemeinsamen Wahrheitssuche willen, die ohnehin kein Ende findet? Oder kann nicht sehr schnell der Verdacht gegenseitigen Sich-Abwerbens aufkommen? Der Vorwurf und die latente Versuchung zur Re-Katholisierung statt der gemeinsamen Re-Evangelisierung einer Welt stand und steht lautstark dabei im Raum.

Bei allen diesen kircheninternen Fragen und Ängsten ist zudem noch nicht ins Blickfeld gekommen, dass es sich heute um eine Welt handelt, die getragen und bewegt ist von modernen Natur- und Humanwissenschaften, dabei aus bereits gemachten Gründen bis in die letzte Schulklasse hinein massiv auf Distanz geht zu allem, was von den Kirchen kommt. Das "Theologengezänk" wird auch da immer mehr als "unzeitgemäß" wahrgenommen, wo die Kirchen Wichtiges und Entscheidendes zu sagen haben, z.B. in Fragen der Würde und Gefährdungen des Menschen. Oder ist es schon zu allgemein bewußt, dass der Wert und die Würde des Menschen als personales Geschaffen-sein nicht durch Leistung und Funktion zu definieren sind? Dass diese nicht durch politische oder merkantile Maßstäbe wie Macht und Ohnmacht, Haben und Nichthaben, Kaufen und Verkaufen zur Disposition gestellt werden können?

Vielleicht kann man die gesamte Problematik in dem Erfahrungswert zusammen fassen: Vieles, was die Kirchen lehren und vertreten, mag sogar wahr und richtig sein. Aber es hat seine Wichtigkeit fürs Leben verloren. Deshalb müsste es darauf ankommen: bevor sich die moderne Welt völlig vom Christentum und seinen Wertvorstellungen verabschiedet, kommt es primär darauf an, die Flucht der Gehirne und Lebenseinstellungen aus den Kirchen zu bremsen. Wie kann das geschehen? Der herkömmliche Versuch, die Menschen durch kleine und große Kathechismen zu belehren und theologisch zu bilden, kann wohl als gescheitert angesehen werden. Im Blick auf die stets neu aufkommenden Fragen und Lebensprobleme ist die wachsende "Kathechismusverdrossenheit" unübersehbar und verständlich zugleich. Was also kann/muss geschehen?

Wenn nicht alles täuscht, organisieren sich die Menschen, denen das Christ-sein noch etwas bedeutet, heute in einer Art Selbsthilfegruppen; sie ergreifen Selbsthilfemaßnahmen. Man kann diese nennen wie man will: religiösen Individualismus, persönliches Nesthockerdasein, Patchwork-Religion oder ähnlich. Bei allem stellt sich die Frage: was ist denn heute für Menschen wichtig - in ihrer Lebenswelt, die sie zu meistern und zu gestalten haben? Nachdem jahrhundertelang die "Hauptamtlichen" ihre Fragen und Interessen theologisch formuliert und artikuliert haben - immer in dem Bewußtsein, dass die Herde der Gläubigen ihnen willig und gehorsam folgt - , siecht die willige Gefolgschaft der Herde immer mehr dahin. Aus Autoritätsverlust, Unglauben, Kirchenboshaftigkeit? Oder weil die Menschen in ihren heutigen Lebenslagen ganz andere Prioritäten setzen?

Vor einigen Jahren, Weihnachten 1997, verursachte die neu gewählte katholische Staatspräsidentin von Irland, Mc ALEESE, ein Erdbeben in der Kirche Irlands. Sie hatte angekündigt, dass sie am Freitag in der anglikanischen, d.h. protestantischen Christus-Kathedrale von Dublin zur Kommunion gehen werde. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.12.1997 berichtet darüber:

"Die römisch-katholische Frau Mc Aleese hatte ihren Mann und ihre Töchter am zweiten Adventssonntag schon einmal an die Kommunionbank von Christ-Church Cathedral geführt und war darauf vom Erzbischof von Dublin öffentlich getadelt worden. Mit ihrer Ankündigung hat die seit Oktober amtierende Präsidentin überdeutlich zu verstehen gegeben, was sie von dieser Maßregelung hält. In die normalerweise glänzenden Beziehungen zwischen katholischer Kirchen und katholischem Staat droht damit eine gewisse Nüchternheit einzukehren.

Ausläufer der Affäre haben rasch die internationale Diplomatie erreicht. Um Frau Mc Aleese Beistand zu leisten, hat die amerikanische Botschafterin Kennedy-Smith jetzt in derselben Kirchen ebenfalls die Kommunion genommen. Und wie Frau Mc Aleese hat auch Frau Kennedy zudem wissen lassen, sie werde es an Weihnachten wieder tun. Jean Kennedy-Smith, eine Schwester des ermordeten Präsidenten und Vertreterin der mächtigsten katholischen Familie der Vereinigten Staaten, war auf ihrem Posten bisher immer nur auffällig geworden, weil sie sich zugunsten der katholischen Minderheit Nordirlands politisch exponierte. Mehr als einmal hat London sich zu diskreten diplomatischen Wutausbrüchen veranlasst gesehen. Doch da in Washington der Einfluss der Kennedys naturgemäß größer ist als jener der britischen Regierung, hat die Botschafterin des Kennedy-Clans in der alten irischen Heimat bis jetzt jede Kritik überdauert. Auch deshalb fragt man sich in Dublin bang, ob der letzte Vorfall etwa bedeute, dass Frau Kennedy ihr Interesse nun mehr den mitunter recht komplizierten Belangen der katholischen Hierarchie des Südens zuwenden wolle.

Die Geste der Präsidentin Mc Aleese wird dem irischen Publikum auch wegen des Vergleichs mit der Vorgängerin besonders deutlich bewusst. Frau ROBINSON war und ist "sogar" mit einem Protestanten verheiratet; dennoch hatte sie während ihrer Amtszeit auch im privaten religiösen Umgang auf dieselbe strikte Unauffälligkeit und Neutralität geachtet wie im politischen. Der "Kirche von Irland" gehören 2,8 Prozent der Bürger der Republik an.

Erzbischof CONNELL VON DUBLIN hat sich mittlerweile für den Gebrauch eines Schmähwortes entschuldigt, das ihm bei der ersten Reaktion auf Frau McAleeses Advents-Unternehmen öffentlich entfahren war. Der Erzbischof hatte damals gesagt, wenn Katholiken in anglikanischen und anderen protestantischen Kirchen zur Kommunion gingen, nähmen sie an einer "Schwindelei" teil (sham). Nun sagte Connell in einem Gespräch mit einer irischen Zeitung: "Es tut mit schrecklich leid. Wenn es hilft, können Sie das in Ihrem Artikel auch schreiben."

So weit der Bericht. Es wird darin noch besprochen, wie sehr solche Affären die Beziehungen zwischen den anglikanischen Kirchen und Rom belasten. Auch die Entscheidung der Kirche von England in der Frage der Frauen-Ordination, wenn auch biblisch begründet, stelle eine große Belastung dar. In diesem Zusammenhang wurde zudem bekannt, dass der Anglikaner Blair, heute Regierungschef, jahrelang mit seiner katholischen Frau in die katholische Kirche seines Stadtteiles geht, um auch dort mit den anderen zusammen zur Kommunion zu gehen.

Man kann heute, ein paar Jahre nach diesem Ereignis, davon ausgehen, dass sich in den Beziehungen auch anderer Kirchen mit Rom noch viele andere "Belastungstürme" aufgebaut haben. Immer geht es dabei um strittige Lehrfragen: um Frauen-Ordination, Abendmahls- bzw. Eucharistiegemeinschaft, Amts- und Kirchenverständnis, allgemeines Priestertum u.a.. Was über England und Irland berichtet wurde, ließe sich an dieser Stelle über viele andere Länder aufzählen. Die ökumenischen Kreise sind zahlreich, die ähnliche Vorstellungen vertreten und Konsequenzen daraus nicht nur bedenken, sondern auch tun. In Deutschland haben jüngst die Auseinandersetzungen über den "wahren Glauben" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken mit dem Kölner Kardinal Schlagzeilen gemacht. Und was der kommende "ökumenische Kirchentag" in Berlin (Mai/Juni 2003)" betrifft, so sind auch dort markante Schritte in der genannten Richtung zu erwarten. Man kann sie kirchenamtlich bremsen und zu vereiteln versuchen - aber verhindern kann man sie auf Dauer nicht.

Die Fragen stellen sich wieder: welches sind die eigentlichen Triebkräfte dieser Entwicklung? Entgleitet den Kirchen immer mehr diese Dynamik? Welches sind die Prioritäten, die Christen heute setzen? Ich würde als Antwort die Behauptung aufstellen: die Menschen sind das akademische Theologisieren satt; sie wenden sich gegen angeblich rechtlich fundierte Autoritätsansprüche, die sie ohnehin nie verstanden haben. Für sie sind der zermürbenden und ermüdenden Lehren genug verkündet. Es geht ihnen um das "wahre Leben" - eine Forderung, die das Evangelium stellt.

5. Miteinander leben und Leben gestalten statt neben- und gegeneinander theologisieren.

Man könnte den Gang der Ereignisse auf die Formel bringen: das Prinzip "sola scriptura" MARTIN LUTHERs und die Forderung "Zurück zu den Quellen" Johannes´ XXIII. und des 2. Vatikanischen Konzils beginnen auf eine ungeahnte und unvorhergesehene Weise Früchte zu tragen. Sie stellen seit über 40 Jahren die katholische Kirche in eine nicht mehr zu verhindernde Zerreißprobe. Über das "Zurück zu den Quellen" habe ich vor einigen Jahren im Buch "Papst gesucht" (Frankfurt 19982) das Leitwort geschrieben: "Johannes XXIII. war jener Papst in diesem Jahrhundert, der zu den Quellen zurück wollte und dabei feststellen musste, dass die mentale, theologische und kirchenpolitische Gegenströmung gewaltig war".

Tatsächlich ist das kirchliche Geschehen seitdem bestimmt von Strömungen und Gegenströmungen. Die einen sagen: man kann nicht zum Ursprung des Christentums zurück! Die später unter "Führung des heiligen Geistes" gewordene Dogmatik, Kirchenrecht, Ämterauffassung, Lehramt... machen es unmöglich, wieder wie früher zu sein, oder zu werden. Man kann nicht aussteigen aus der Geschichte... Die anderen bestehen hartnäckig auf dem "Zurück". Sie machen alle erdenklichen Anstrengungen, indem sie fast hoffnungslos gegen den Strom schwimmen, um zu den Quellen zurück zu finden. Sie rechnen sogar mit einem weiteren Fortschreiten des Niedergangs der Kirchen, damit Neues entstehen kann.

Während Erstere fast alle theologischen Argumente auf ihrer Seite haben, haben Letztere nur in einem Punkt Recht: dass es seit 2000 Jahren ein Voranschreiten, eine Erneuerung und auch Auswege aus Krisen immer nur gegeben hat durch solche, die allen Widerständen zum Trotz das "Zurück zu den Quellen" gewagt haben. Oft waren es prophetische Ordensgründer/Ordensgründerinnen, Visionäre, Reformatoren und Anstachler, die zu ihrer Zeit meistens als "Utopisten" verkannt und verschrien waren. Erst später stellte sich heraus, dass sie größere Realisten waren als ihre Kritiker.

Johannes XXIII. war ein solcher "Utopist". Wie kein anderer hat er ein anderes Gesicht des Christentums zum Aufleuchten gebracht. Während vor ihnen weitgehend ein Gott verkündet wurde - ein Gott der Theologen, Dogmatiker, der Rechtsgelehrten, der Amtsträger, der Kirchenbeamten - , so glaubte er an den Gott der Geschichte, der sich seinem Volk, wie im AT und NT, bis heute in den "Zeichen der Zeit" zu erkennen gibt. Seine "Sprache" sind die geschichtlichen Ereignisse, menschliche Kreuze und Tragödien, historische Entwicklungen, die von Menschen als Herausforderungen zu begreifen sind. Nur wenn sich Christen den "Zeichen der Zeit" stellen, finden sie eine adäquate Sprache für ihr Glauben und Hoffen, haben sie überhaupt eine Daseinsberechtigung gegenüber einer Welt, die nur an "Früchten" erkennen kann, wie weit ein Feigenbaum gesund oder von Fäulnis befallen ist.

Wie gesagt, gibt es bis heute massive Widerstände gegen ein solches Konzept. Man befürchtet Autoritäts- und Lehramtsverlust, das Aufweichen dogmatischer Sätze und unfehlbar richtiger Glaubenswahrheiten, die Auflockerung kirchlicher Strukturen und des streng hierarchischen Kirchenverständnisses - von einer wachsenden Mehrheit heute als "Klerikerkirche" und "Hierarchologie" in Frage gestellt und in ihrer Unangefochtenheit massiv bezweifelt.

Eine solche rückwärtsgewandte, auf dem Herkömmlichen bestehende Kirchenverfassung riskiert in der Entwicklung der Ereignisse heute ein Vielfaches:

  • Sie nimmt die andere Sicht des Christentums nicht wahr, die da unaufhaltsam - wenn auch nur fragmentarisch und keimhaft - im Kommen ist. Ihr entgleitet sozusagen die Entwicklung.
  • Aber sie entgleitet auch da, wo Fehlformen und Auswüchse entstehen, wie sie sich in den vielen fundamentalistischen Bewegungen kundtun. Diese mögen ihr streckenweise sogar Recht sein, weil sich viele von ihnen im Schutz der herkömmlichen Kirchenverfassung als besonders fromm, gehorsam und kirchenergeben erweisen, letztlich aber doch nicht begreifen, worum es beim "Zurück zu den Quellen" geht: um den Mann aus Nazareth, um einen Mann der Geschichte, der alles andere war als wie er oft fälschlicherweise verstanden und praktiziert wird: ein religiöser Phantast, Enthusiast, Spökenkieker und Zungenredner, ein Mystiker mit gefühlsbetontem Getue. In Wirklichkeit war er einer wie wir, ein "Mensch-Gewordener" - in allem außer der Sünde uns gleich - , einer mitten im Leben, der zu sich und seinem Auftrag gestanden hat bis zum erbärmlichen Ende am Kreuz. Der uns Menschen ein Beispiel geben wollte, wie sich gottgemäß leben und handeln läßt.

6. Wo die Kirchen wanken, da meldet sich ein "neuer Geist".

Dieser "neue Geist" ist ohne Zweifel vom Evangelium bestimmt. Und von dem, in dessen Namen die Evangelien überhaupt aufgeschrieben wurden. Manchmal ist es gut, sich von "Außenseitern" einmal sagen zu lassen, worin dieser neue Geist bestehen könnte. Der Inder M. GANDHI, der sich sein Leben lang mit der Bibel beschäftigt hat und dabei die Grundzüge seines persönlichen wie politischen Lebens entdeckte, ohne selbst Christ zu werden bzw. werden zu wollen, schreibt: "Man möge mir verzeihen, wenn ich zu sagen wage, dass Jesus keine neue Religion gründen wollte, sondern ein neues Leben". - Und der Philosoph KARL JASPERS verdächtigt Kirchen und Konfessionen, die eigentlichen Anliegen Jesu nicht nur jeweils für sich, für kirchenpolitische Interessen und theologische Ambitionen vereinnahmen zu wollen, sondern sie auch zu verdecken bzw. zu verfälschen. So bleibt Jesus für ihn "die gewaltige Macht gegen das Christentum, das ihn zu seinem Grunde machte". Auch was JOSEF RATZINGER 1968 geschrieben hat, bleibt bis in unsere Zeit wahr: "Für viele ist die Kirche heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen".

Man könnte diesen Stimmen noch viele andere hinzufügen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die Feststellung, dass die oben geschilderten Entwicklungen durchaus theologisch inspiriert und getragen sind - wenn kirchlich auch nicht "im Griff" - durch die moderne Jesusforschung, sprich "Exegese". Wenn ich die Ergebnisse wichtiger Weichensteller und Forscher wie HEINZ SCHÜRMANN, ANTON VÖGTLE, OTTO KUSS, JOACHIM GNILKA, JOSEF BLANK, RUDOLF SCHNACKENBURG u. a. auf wichtige Impulse hin zu befragen und zusammen-zufassen versuche, so seien hier einige kurz genannt:

  • Die Bibel ist kein moralisierendes und kein dogmatisierendes Buch. Sie lässt sich für solche und ähnliche Interessen auch nicht verwenden. Sie hat ihren "Sitz im Leben" von Menschen, die sich mit der Frage nach dem "Testament" und der Botschaft Jesu auseinander setzen, dabei selbst nach ihrer Rolle und Aufgabe als "Nachfolgegemeinschaft" fragen. In dieser Nachfolgegemeinschaft leben Menschen, die alle Eigenschaften haben, wie sie Menschen eigen sind: Ängste, Zweifel, Hoffnungen Versagensgeschichten, Feigheiten, Karrierebedürfnisse, Mut zur Umkehr und zu neuem Anfang. In allem gibt es für sie nur einen RABBI, einen Lehrer und Meister. Die Maßstäbe, die er gesetzt hat, sind die Maßstäbe für alle Christen.
  • Im Maße die Liebe, sogar die Feindesliebe, eingeübt und versucht wird; im Maße der Wille zu Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Frieden, Verzeihen, Versöhnen, Hoffen und Aufbauen das Leben bestimmt, ist das "Reich Gottes schon mitten unter euch". Das "Salz der Erde", das "Licht der Welt" entfaltet seine Wirksamkeit, bis es im Reiche Gottes endgültig in Erfüllung geht.
  • Das "Reich Gottes" ist nicht identisch mit irgend einer Kirche oder Konfession. Es kann auch da aufbrechen, wo nicht Kirche ist. Aber die Kirchen haben dem Reich Gottes zu dienen, indem sie sich mit allen Menschen guten Willens und "seiner Huld" verbünden, um der Welt dem Schalom Gottes näher zu bringen.
  • Das Reich Gottes ist wenig geeignet für theologische Spekulanten. Es gibt so etwas wie eine "Ethik Jesus", eine sittliche Botschaft, die es mit Ernst - in jeder wenn auch noch so unterschiedlichen Lebenslage - zu tun und zu befolgen gilt. Die "Imperative Jesu" haben zutiefst etwas mit dem "Tun der Wahrheit" zu tun, mit "praktizieren" und "einüben" und weniger mit "theologisieren" und "spekulieren". Dabei sind wie zu Zeiten Jesu alle angesprochen - vor allem auch die Armen, Schwachen, Sünder, Fischer, Handwerker, Männer und Frauen, die mitten im Leben stehen. Denn "Botschaft" hat etwas mit Leben zu tun, mit Lebensbewältigung, Lebenssinn und Lebensfülle.
  • "Glaube" ist demnach nicht einfach das "Für-wahr-halten" von Sätzen, Lehren und Wahrheiten; auch nicht das monotone Aufsagen von Glaubensbekenntnissen und das ständige Wiederholen von Gebetsformeln, sondern die praktizierte Übereinstimmung der eigenen Lebensführung mit den Maßstäben, die das Evangelium setzt. Mit JOSEF BLANK könnte man auch sagen: Glaube ist die verbindliche Übernahme der Denk- und Lebensweise Jesu in die eigene Lebenswelt. So könnte das wieder zum allgemeinen Bewußtsein in der Christenheit werden, was RUDOLF SCHNACKENBURG in seinem 3.Band zum Johannes-Evangelium schreibt: "Jesus Christus wird zum Weg für jeden Menschen, weil er die Wahrheit und das Leben ist".

7. "Papst, nimm dich nicht so wichtig!"

Von Johannes XXIII. ist die Anekdote bekannt, dass er nachts nicht schlafen konnte, bedrängt von den vielen Problemen und Aufgaben, die von Kirche und Welt auf ihn zukamen. Als bereits alter Mann zum "Übergangspapst" gewählt und berufen, vermochte er die Last des Amtes kaum auszuhalten. Da sei ihm im Traum ein Engel erschienen mit der Weisung: "Papst, nimm dich nicht so wichtig. Du bist ja nur der Papst".

Man könnte und müsste allen Päpsten, Kirchenobern und Konfessionsobrigkeiten diesen Satz ins Stammbuch schreiben. Ebenso erinnern an THOMAS VON AQUIN, der nach allen theologischen Büchern, Aufsätzen und Sentenzen zu der Erkenntnis kam: "Alles, was ich gesagt und geschrieben habe, ist nur Stroh".

Manches spricht dafür, dass die Menschheit bzw. die Christenheit heute an einer solchen Erkenntnis angelangt ist: alles was da theologisch klug und unfehlbar wichtig verkündet wird, mag wahr sein. Aber es ist nur Stroh, gemessen an der Unbegreiflichkeit Gottes und den Wichtigkeiten, die das Leben erforderlich macht. Vieles oder alles sprich dafür, dass eine Zeit angebrochen ist, in der die Vorgaben und Maßstäbe des Evangeliums in kleinen Buchstaben wieder ins konkrete und faktische Leben übersetzt werden müssen. "Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle ´einer´ in Christus Jesus" (Gal. 3.28).

Im Blick auf die globalisierte Welt als "Missionsland" habe ich bereits 1993 (im "Jahrbuch der Mission") geschrieben: Im Denken und Handeln Jesu war nichts theoretisch-abstrakt. Alles war konkret und menschenbezogen, situationsgemäß und der jeweiligen "Lage" seiner Gegenüber angemessen. Alles war menschlich-human und "diesseitig", allerdings gerade darin "Jenseitigkeit" und Zukunftshoffnung eröffnend. Weil alles sehr einfach anfing und verständlich für alle war, konnten Menschen auch "Position" beziehen. Sie wussten, worum es ging.

"Da war eine Person, die durch ihr Denken und Verhalten in konkreten Lebenssituationen vorexerzierte, wie Gott sich den Menschen von Anfang an gedacht hat, und wie Gläubige schon jetzt das Reich Gottes vorwegzunehmen vermögen - wenn auch noch so fragmentarisch. Die humanen Lebenswerte, die Jesus verkündete und lebte, waren kein bloßer "Humanismus" und "Horizontalismus", sondern sie standen in dem größeren Zusammenhang der Vorhaben Gottes mit der Menschheit. Sie waren nicht "konfessionell" gebunden; noch nicht einmal "religiös". Bei der Proklamation des Reiches Gottes ging es letztlich um die Heimholung der ganzen Schöpfung in ein neues, von Gott gewolltes Erlösungsgeschehen. Wo es um die "Sache Gottes" mit der Menschheit ging, da galten nicht mehr herkömmliche Schranken zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau ... (Gal 3,28).

Wenn in der gegenwärtigen Kirchenkrise nicht alles trügt, dann kann sie nur dadurch überwunden werden, dass die Lebenspraxis Jesu wieder zum Leuchten kommt. Suchende und fragende Menschen sind sehr empfindlich dafür geworden, dass jesuanische Lebenshaltungen grundsätzlich einen anderen Geist atmen als kirchenrechtliche und systemimmanente Verlautbarungen und Entscheidungen "von oben". Wenn Jesus heute wiederkäme, würde er sich anders als "die Kirche" verhalten gegenüber Laien und Frauen, wiederverheirateten Geschiedenen und konfessionell Andersdenkenden. Das Anderssein von anderen wäre sicherlich kein Grund für Aussonderung und Exkommunikation - es sei denn, dass die Liebe fehlte. Vor allem würde Jesus nicht den Erdkreis "Urbi et orbi" segnen; er würde nicht von "den" Laien, "den" Männer und Frauen, "den" Klerikern, "den" Sündern und "den" Ehen ohne Trauschein reden. Für ihn gäbe es nur den Einzelnen: seine persönliche Lebensgeschichte, seine einmalige Größe und Tragik. Jesus würde, wie er es immer tat, der Person des Einzelnen zur Würde verhelfen, zu einem neuen Anfang und zum Weitermachen auf dem Wege Gottes. Er würde bei jedem, der es hören will, an seine persönliche Berufung und Verantwortung appellieren im Blick auf das, was Gott mit ihm und durch ihn zu tun gedenkt. -

Die personalisierenden und gemeinschaftstiftenden Kräfte des Evangeliums sind es, die es wieder zu entdecken gilt. Die klerikal-hierarchische Struktur der Kirche und ihrer höchst fragwürdig gewordenen historischen, theologisch-praktischen Traditionen gilt es, auf einfache biblische Dimensionen zurückzuführen. Dass dieser weltweite Ruf, vor allem lautstark in Ländern der Dritten Welt, zu enormen Problemen für die herkömmliche Kirche führt - in Bezug auf ihre Ämter, ihre Strukturen, den Umgang mit der Macht, die neue Rolle des Volkes, die Wiederentdeckung der Charismen ... -, zeigt sich immer mehr. Im "Zurück zur Praxis Jesu" wird nämlich ein "Vorwärts" signalisiert, welches das Herz und das Zentrum der menschengemachten Einrichtung "Kirche" zerstört oder entscheidend relativiert (vgl. meine Ausführungen: Christsein an der Wende. Visionen der Hoffnung. Frankfurt 1991).

Bei allen Auseinandersetzungen scheint Eines festzustehen: entweder werden die Kirchen und Konfessionen wieder "jesuanisch" sein oder sie werden nicht mehr sein. Insofern sie es nicht sind, sein wollen oder können, besteht auch kein Grund, ihrem Sterben nachzutrauern ...". -
 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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