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Pater Fritz Köster
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Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen?

September 2004

Die Rede von der "Würde des Menschen" ist weltweit zu einem Allgemeingut geworden. Es gibt Kirchen, Organisationen und Verbände, die darüber wachen. Wo Menschenrechte verletzt werden, da treten sie lautstark in Erscheinung. Denn es gibt bis auf den heutigen Tag politische und religiöse Systeme genug, die die Menschenrechte verletzen. Allgemein glaubt man dies in den "unterentwickelten Ländern" mehr feststellen zu können als in den "zivilisierten". Bei letzteren scheinen die Menschenrechte deshalb eher gesichert, weil es die Pressefreiheit gibt und weil viel darüber geredet wird. Dann fällt in der Praxis kaum auf, dass oft nicht realisiert wird, worüber man selbstverständlich redet.

In allen Gesellschaften, besonders in Diktaturen und Ideologien, herrscht der Hang vor, Menschen zu gängeln und unter ihren Einflussbereich zu bringen, sie machtpolitisch zu missbrauchen und in ihrer Eigenentwicklung nicht zum Zuge kommen zu lassen. Hierarchische "Seilschaften" und "Machtstrukturen" bilden sich überall: in jedem Büro, in jeder Firma, in jeder menschlichen Gemeinschaft, erst recht im Großen der Welt. Sie sorgen dafür, dass die Unmündigen unmündig bleiben, die Kleinen klein, die Einflusslosen einflusslos...

Normalerweise werden die Mächtigen in Politik, Wirtschaft, Religion... umso mächtiger, je mehr es gelingt, die Unmündigen in ihrer Unmündigkeit zu halten. Hierarchische Machtstrukturen leben geradezu von der Dummheit und Ignoranz der vielen. Äußere Umstände können dann bewirken, dass Menschen nicht zu ihrer Würde und Persönlichkeit finden. Aber auch da, wo solche "äußeren Hindernisse" fehlen - in freien und demokratischen Gesellschaften mit viel Wohlstand, in denen "Brot und Spiele" ermöglicht werden - stellt sich das Faktum heraus, dass der Mensch vor lauter Bequemlichkeit gar nicht erst dazu kommt, "Würde" zu haben; dass er sich selbst dem Anspruch entzieht, der mit seiner Würde gegeben ist; dass er hartnäckig nicht das sein will, was seine Würde ausmacht...

Wo der Mensch nicht zu seiner eigenen Entfaltung und Persönlichkeit kommt und kommen will, da ist die Würde des Menschen äußerlich und gesellschaftlich allein nicht durchsetzbar. Der Mensch muß selbst eine eigene Kraft und Initiative dazu entwickeln. Er muß selbst die Erfahrung von "Würde" machen, wenn er nicht ins Banale, ins Terroristische, ins Menschenverachtende... versinken will. Die Gefahren dazu sind heute größer denn je.


Die Frage nach der Würde des Menschen wird immer dann konkret erfahrbar und beantwortbar, wenn das Bewusstsein wächst, ein sinnerfülltes Leben zu führen oder auf dem Weg dorthin zu sein. Aber schon im Ansatz wie auch im Laufe des Lebens ist dieses erwachende und wachsende Bewusstsein gefährdet. Massenmedien und Konsumwirtschaft suggerieren hartnäckig: Sinnvoll wird das Leben durch gutes Essen und Trinken, durch Körperkultur, Fitness, Hygiene, Sport, Spaß und Sex... Wer sich daran hält, wird glücklich. Das Glück kann man sozusagen "haben", besitzen, käuflich erwerben....Oft münden solche Glücksverheißungen in enttäuschende Sackgassen.

Die Erfahrung zeigt: das Glück und ein gelungenes Leben sind nicht auf direktem Wege zu erreichen. In früheren Zeiten sprach man gerne vom indirekten Weg, der zum Ziel führt. Der Weg führe über die Praxis und Realisierung von Werten - was nicht nur dem Einzelnen, sondern einer ganzen Gemeinschaft zugute kommt. Was dagegen in den Glücksverheißungen einer Medien- und Konsumwelt angepriesen wird, erscheint vielen einfacher und plausibler. Es ist kein "Umweg", der viel von einem ausschließlich auf Wohlstand Bedachten abverlangt.

Wenn jemand eine besondere Begabung und Zielstrebigkeit bei der Realisierung von Werten entwickelt - sozusagen eine Fertigkeit, Leichtigkeit, kreative Kraft und Fröhlichkeit - , wird gerne von "Tugend" gesprochen. Tugend ist etwas Gekonntes, etwas Eingeübtes, etwas "Mensch-Gewordenes", weil es in Fleisch und Blut übergegangen ist. Man könnte sagen: der Mensch findet am besten zu sich selbst, wenn er auf dem Weg bleibt, der die innere und äußere Übereinstimmung der Lebensführung mit den erkannten und anerkannten Lebenswerten zum Ziel hat.

Der indirekte Weg zu einem erfüllten Leben besteht darin, dass am Anfang - oft mit Mühe und Zögern - ein erster Schritt getan werden muß. Wer sich z.B. schwer tut, freimütig auf einen anderen Menschen oder sogar Fremden zuzugehen, um ein Gespräch zu beginnen, macht beim ersten oder zweiten Schritt die Erfahrung: Es lohnt sich, Kontakte zu knüpfen. Man bleibt dabei nicht allein, bereichert sich im Austausch und in der Teilnahme am Leben anderer. Selbstliebe ist nur möglich bei gleichzeitiger Nächstenliebe...

Wer es sehr auf sexuelle Kontakte angelegt hat, wird diese bald als leer und nichtssagend empfinden, wenn sie nicht kontinuierlich begleitet werden von einer wachsenden Vertrautheit und Bindung an den anderen. Wo stets von der Liebe gesprochen wird, die sich aber gegenüber Andersdenkenden und fremden Lebensformen nicht bewährt, da wird die Liebe (wie auch andere Werte) zur Sonntagsrede degradiert. Verbalismus führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Lebensqualität und Glaubwürdigkeit.

Werte sind etwas Lebendiges, etwas Wachsendes. Sie müssen stets lebendig-wachsend sein, wenn sie nicht sterben sollen. Mit ihnen wächst der Mensch: zu innerer Tiefe und menschlicher Reife, zu innerer Sicherheit und äußerer Standfestigkeit, zu mehr Toleranz und Respekt vor sich selbst wie vor anderen. Heute wird viel darüber diskutiert wie das Gewaltpotential auf Schulhöfen und in der Gesellschaft aufgefangen werden kann; wie der weltweite Terrorismus in seine Schranken gewiesen werden kann? - Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Erziehung und Einübung in Werte ab. Sie stellen das Potential dar, welches der Welt mehr statt weniger Frieden bringt.

I. Geistige Trägheit, die "Würde" verhindert.

Nie zuvor hat der Mensch so viele Möglichkeiten gehabt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und eigenverantwortlich zu gestalten. Schon beim Kleinkind wird von "Eigenentwicklung" und "unverwechselbarer Eigenart" gesprochen. Früher herrschte vielfach die "pädagogische Absicht" vor, den Willen des Kindes zu brechen. Pubertierende waren in ein dichtes Netz sozialer Regelmäßigkeit und Kontrollen aufgefangen. Es sagte ihnen, was "man" tun darf und was "man" gefälligst zu lassen hat.

Viele Mechanismen, die zwar "Sicherheiten" schaffen, aber eigenständiges Denken und Handeln verhinderten, fallen heute weg. Der Mensch, der sich von alten Bindungen und Traditionen löst, ist dazu verurteilt, sein Leben selbst zusammen zu basteln. Der Weg der Freiheit ist gepflastert mit Zumutungen, Risiken, Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten. Das Leben wird zu "Ungewissheit und Wagnis". Eigenverantwortung kann gute Auswirkungen haben. Man gelangt aber auch leicht auf Irrwege und Abwege. Lebenskatastrophen, Sackgassen, Erfahrungen des Scheiterns und des Misslingens können den Menschen hoffnungslos krank machen, ihn in die Verzweiflung und Depression stürzen, weil nichts mehr zu gehen scheint...

Die Erfahrung von "Ungewissheit und Wagnis" kann dazu führen, dass man Risiken nicht auf sich nehmen will. Man gibt dem behüteten Haus, der vorgegebenen Ordnung, der Beständigkeit absoluten Vorrang. Menschen solcher Art unterwerfen sich dem allgemeinen Trend, der Herrschaft des "Man". Sie sind auch nicht bereit und fähig zu Neuem, Ungewöhnlichem, Nichtgewohntem, zu unbequemem Außenseitertum. Sie ziehen sich in ihre Ego-Welt zurück. Es entwickelt sich ein Individualismus, der auf Selbstverwirklichung und Selbsterhalt konzentriert ist. Andere Menschen und Ereignisse spielen dann immer nur insofern eine Rolle, als sie dem Ego dienlich sind. "Der Abstand zum Nächsten wird mitunter der Abstand zum Mond", meint Heinrich Wiesner.

In einer Zeit, in der Traditionen immer kraftloser werden und Menschen immer mehr auf sich selbst gestellt, auf ihre eigene (vielfach noch unterentwickelte) Kompetenz und Entscheidungskraft angewiesen sind, tritt ein Mangel als gravierend hervor, der in früheren Jahrhunderten als die größte Sünde und Fahrlässigkeit angesehen würde. Sie wirkte sich umso nachhaltiger und schädlicher für das Leben aus, je mehr äußere machtvolle Faktoren vorhanden waren, die den Menschen zum Egoismus ohne Großzügigkeit, zum unerträglichen Mittelmaß, zu Großtuerei und Rhetorik, zu Armseligkeiten aller Art verleiteten. Die Sünde heißt: geistige Trägheit, Passivität.

Der Philosoph S. Kierkegaard nennt sie die "Verzweiflung der Schwachheit", in der der Mensch "verzweifelt nicht er selber sein will". Darin wolle er letztlich seinem eigenen Sein, seiner Eigenart und Einmaligkeit nicht zustimmen. Aus Angst vor seinem einmaligen Weg und der damit verbundenen Einsamkeit bei letzten Entscheidungen könne er nicht eins sein mit sich selbst. Er könne an das (göttliche) Gute nicht glauben, welches in ihm wohnt...

Die Unfähigkeit, das sein zu wollen, was man wirklich und im Grunde ist, bedeutet eine Krankheit zum Tode, führt in die Traurigkeit und Verzweiflung. Die Folgen können Selbstisolierung und "Stuberhocker - Dasein" sein. Im Gegensatz dazu können sie aber auch zu maßlosem wirtschaftlichen Aktivismus führen, zu Rast- und Mußelosigkeit. Was gesellschaftlich heute "in" ist - nämlich Streß, Ruhelosigkeit, dauernde Beschäftigung um beruflicher und wirtschaftlicher Vorteile willen - kann durchaus auch als Flucht vor sich selbst, als Angst vor Ruhe und Selbstbesinnung verstanden werden. Frühere Zeiten sahen darin ein Indiz, sich nicht selbst zu lieben und zu mögen.

Sie sprechen von anderen Folgen einer solchen "Krankheit": die Unfähigkeit, Zeit zu haben für sich und für andere. Deshalb wachsen auch keine dauernden Beziehungen und Vertrauensverhältnisse, kein Gemeinschaftssinn, kein Respekt vor anderen und keine Toleranz. Der Mensch, der sich selbst in seiner Eigenart verfehlt, verfehlt den Sinn des Lebens: in Übereinstimmung und Gleichklang leben zu lernen mit anderen und mit dem Ganzen der Welt.

Weisheitslehrer und Menschenkenner früherer Zeiten sprechen immer wieder davon, dass die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle vor allem in Zeiten der Ruhe und Stille geschenkt werden. "In der Nacht" schenke Gott die zum Leben notwendigen Lieder, heißt es bei Hiob (35.10). Der Volksmund drückt es ähnlich aus: "Die Seinen gibt’s der Herr im Schlaf". Die glückliche Einsicht, "was die Welt im Innersten zusammenhält", hat Goethe wie ein unerwartetes Geschenk geschildert - vielleicht nur für die Dauer eines Blitzes, was im Nachhinein langsam und mühsam entdeckt werden müsse...

Als Gott die Welt erschaffen hatte, da habe er am letzten Tag geruht, "das Werk gefeiert, welches er gemacht", heißt es im Buch Genesis (1.31). Er habe es als gut empfunden. Hier werden unaufdringlich und einleuchtend der Sinn und der Zweck aller menschlichen Wege beschrieben: nach getaner Arbeit bedarf der Mensch in regelmäßigen Zeiten der Aufarbeitung, der ruhigen Verarbeitung, der gelassenen Distanz gegenüber allen Aufregungen und Anregungen des Alltags. Wenn er auf diese Weise die Welt und sich selbst allmählich zu verstehen lernt, vermag er auch zu sagen: das Leben, so wie es ist und wie es bestanden bzw. durchlitten werden muß, hat sich im Nachhinein als lebenswert und sinnvoll erwiesen. Daraus wachsen Hoffnung und Kraft für das Kommende.

Fortsetzung...
 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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