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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen? (II)

September 2004

Angesichts des Terrors in der Welt und wachsender Gewalt stellen sich die Fragen, welche persönlichen und sozialen Faktoren die heimlichen Wegbereiter zu brutalen Ereignissen sind; welche "humanen Werte" es zu mobilisieren gilt - statt auf Mittel der Gegengewalt zu vertrauen? In einer globalisierten Welt, in der Wohlstand und wirtschaftliche Interessen den primären Ton angeben, ist die Gefahr groß, dass der Mensch nicht frei und erwachsen wird; dass er sich der Würde versagt, die ihm gegeben ist. Geistige Trägheit ist die eine, partielles Wahrnehmungsvermögen die andere Gefahr. Letztere blendet, um eigener Interessen und Gewohnheiten willen, vorhandene Fakten und Tatsachen einfach aus. Was nicht zur Kenntnis genommen wird, löst kein Problem, sondern führt zu einem Problemstau - wird zu einem kochenden Vulkan, der irgendwann und irgendwo plötzlich ausbricht.

II. Partielles Wahrnehmungsvermögen.

Klugheit ist nicht identisch mit Intelligenz. Es gibt sehr intelligente Menschen, die aber nicht klug sind. Viele von ihnen leben in einer geistig abgeschotteten Welt - in einer Theologie, Philosophie oder Weltanschauung - , die sehr logisch, rational und schlussfolgerichtig aufgebaut ist. In ihr liegt für jede Frage eine Antwort bereit. Alle denkbaren Fragen stehen in einem systematischen Zusammenhang zueinander. Der Vorteil gelehrter Systematik besteht darin, dass darin sehr viel Wissen gebunkert ist. Der Nachteil besteht darin, dass deren Vertreter oft nicht zur Kenntnis zu nehmen geneigt sind, was der Wandel der Zeit an neuen Herausforderungen und Prioritäten mit sich bringt.

Systeme sind oft blind für die Fragen und Anliegen außerhalb des Systems. Sie sind weit weg vom konkreten Leben der Menschen. Systematische Intelligenz kann sich schnell zu einem geistigen Höhenflug entwickeln, der den Wandel der Zeit mit ihren Höhen und Tiefen nicht wahrnimmt. Sie kann voller Weltfremdheit sein und getrieben von der Illusion, dass der Teil des richtig Erkannten stets das Ganze bedeutet; dass Theorien für die Praxis des Lebens als wichtig angenommen werden. Wittgenstein hat die Blindheit der Sehenden mit dem Satz umschrieben: "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns".

Das ist sicher nicht im absoluten Sinne gemeint, so als wäre alles dumm und unsinnig. Die Dummheit besteht in der Unfähigkeit, noch etwas anderes wahrzunehmen, wenn es auch nicht in den eigenen Denkhorizont passt. Auch persönliche Erfahrungen und Überzeugungen sind befallen von dieser Krankheit. Man könnte sagen: von der Unfähigkeit zu trauern darüber, dass das Leben doch ganz anders ist und verläuft, als es gerne vorgestellt und erträumt wird. In eigenen Gedanken Gefangene und Verhärtete beharren in einer kognitiven Unkenntnis über das, was es auch noch gibt. So wird alles "Fremde" und Ungewohnte an den Rand gestoßen, zur Nicht-Berechtigung verurteilt. Fundierte Wahrheits- und Lehrgebäude müssen meist erst in eine todbringende Krise geraten, bis man anfängt, den Wandel der Zeit und der Lebenseinstellungen von Menschen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.

Für festfundierte Weltanschauungssysteme gilt nicht nur der Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, sondern auch: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Prophetisch und visionär begabte Menschen, die ihrer Zeit voraus waren, wurden immer wieder als Regelverletzer verurteilt, als Nestbeschmutzer gebrandmarkt. Ihnen stand und steht immer wieder die Herrschaft des "Man" gegenüber - gelenkt und geleitet von sehr respektablen Leuten. Von ihrer Stellung und ihrem Einfluß her sehen sie auch respektabel aus, sind aber trotzdem sehr gewöhnlich. Sie können es sich leisten, immer ohne Schwächen und Tadel zu sein. Sie haben klare Vorstellungen und Ideen, die keine Alternative dulden - allgemeingültige Wahrheiten. Daß es immer nur unvollständige Teilwahrheiten gibt und geben kann - das gestehen sie sich selbst, aber auch anderen nicht zu. Daß das Leben immer nur ein Weg ist, jeder Lebensabschnitt immer nur "Etappe" - das akzeptieren sie nicht.

Wie Klugheit nicht identisch ist mit Intelligenz, so auch nicht mit Expertenwissen. Wir leben heute in einer Welt, die beherrscht wird von "Experten". Die Menschheit hat sich an die bestehende Expertokratie längst gewöhnt. Sie verlässt sich darauf, fühlt sich in ihr in Sicherheit. Gewiß, ohne Experten können wir nicht leben. Diese - zur Rechthaberei verdammt - dürfen sich nicht anmerken lassen, dass sie selbst in unsicheren Zeiten leben. Denn jedes ihrer Gutachten kann morgen durch ein "absolut sicheres Gegengutachten" widerlegt werden. Welches Wissen ist das richtige? So besteht nirgends absolute Sicherheit. Manches, was heute noch gesichert erscheint, kann morgen bereits der Vergangenheit angehören. So kommt es, dass der Zweifel am Nutzen aller menschlichen Bemühungen und an der Endgültigkeit auch religiöser Aussagen sehr groß geworden ist. Solche Zweifel werden um so größer, je wirksamer die Illusion gelehrt und gelebt wurde, dass vorläufige Erkenntnisse nicht vorläufig sind, dass sie immer die Zeiten überdauern.

Hier setzt die Aufgabe der Klugheit ein. Sie besteht darin, dass sie sich der konkreten Lebenswelt und Realität zuwendet, ohne diese zu überspielen durch "allgemeine Erkenntnisse", ohne sie zu ignorieren durch den blinden Eifer nach Idealen und allumfassenden Lösungen. Kluge Menschen gehen, beobachtend und hörend, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Sie orientieren sich an den Realitäten und nicht an vorgegebenen Dogmen, Spekulationen, Projektionen, Vermutungen und Behauptungen. Diese, oft Ursache von Gedanken und Reaktionsweisen, fragen nicht mehr, wie die Welt und ihre Menschen wirklich sind, sondern wie sie sein sollten? Sie folgen eher einem politischen oder religiösen Okkultismus - jene "Offenbarung" leugnend, von der Schelling sagt, sie sei "älter als jede geschriebene: die Natur. Sie enthält Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet hat".

Erst wenn man die Realitäten in ihrer Wahrheit und Wirklichkeit erkannt hat, können die Menschen dazu finden, angemessen zu reagieren. Sie vermögen in Freiheit und Mündigkeit auch nach dem Ausschau zu halten, was jenseits ihrer menschlichen Möglichkeiten liegt. Es hilft, Ängste und Vorurteile zu überwinden, welche allzu oft zu blindem Gehorsam und aufwendigem Eifer ohne handfeste Ergebnisse verleiten. Andererseits gibt die Klugheit den Mut, aus der Mittelmäßigkeit von Mitläufern und Duckmäusern auszubrechen, um die vorgegebene Ordnung zu ändern und die Logik der Dinge neu zu bestimmen. Wer klar sieht, vermag kreativ und schöpferisch zu werden - wächst an seinen Aufgaben. Die Klugheit befähigt zu neuen ungewohnten Taten.

Die Klugheit besteht in der geduldigen und mühevollen Wahrnehmungsfähigkeit der Dinge und Situationen, so wie sie sind. Sie läßt sich nicht ablenken, wenn Unvermutetes, Unerwartetes, Unangenehmes ins Blickfeld gerät. Sie zieht sich nicht auf irgendeine Vermutung oder "Glauben " zurück - geeignet, Fakten zu verdrängen. Sie läßt sich den Blick nicht einengen durch "philosophisch Allgemeines". Durch sie wird der Mensch in die Lage versetzt, "sich selbst und andere mit Umsicht zu lenken - in allem, was zu einem menschlichen Leben gehört" (Th. V. Aquin).

Paul Claudel nennt die Klugheit den "wissenden Bug" in der Vielfalt unserer Endlichkeitserfahrungen. Ihnen wohne zugleich eine auf Vollkommenheit zusteuernde Lebensdynamik inne. Sie sei "die geduldige Leuchte, die uns nicht das Künftige bezeichnet, wohl aber das Unmittelbare". -

Es gibt viele Beispiele von Menschen, die "prophetisch" nicht die Zukunft, wohl aber das unmittelbar Bevorstehende ahnten und Konsequenzen daraus zogen, bevor es zu spät war. Die Philosophen Hans Jonas und Ernst Bloch, ebenso der Psychoanalytiker Erich Fromm und viele andere verließen Deutschland 1933. Sie waren in der Lage, gegen den Trend des angepassten und manipulierten Denkens die Zeichen des politischen Geschehens rechtzeitig zu deuten. Sie reagierten auf das Neue, das Ungewisse, welches später zur grausamen Gewissheit des Nazi-Terrors werden sollte.

Wenn man das Christentum als eine 2000-jährige Größe ernst zu nehmen bereit ist, so war im Umbruch der Zeit Papst Johannes XXIII. eine solche prophetische Gestalt. Im Blick auf die Zeichen der Zeit forderte er ein Zurück zu den Quellen, den Mut zu einem neuen Anfang - bis heute nicht nachvollziehbar für solche, die sich in Traditionen, Gewohnheiten und Privilegien eingebettet haben. Er errechnete nicht , sondern spürte die Substanz des Ungewissen und des dazu erforderlichen Wagnisses für die Zukunft. Ihm ging es nicht einfach um das Gewohnte, sondern um die Zeichen am Horizont der Geschichte. Sie zu deuten forderte er auf - eine Aufgabe, die sich der Menschheit immer wieder stellt. Sie kann sie aber nur zufriedenstellend lösen, wenn sie zugleich an Werten festhält, die für das Leben und Zusammenleben der Menschen und der Menschheit unverzichtbar sind.

Hätten die christlichen Länder Europas z.B. bei der Entdeckung und Eroberung Amerikas nach Christoph Columbus (1492) auch noch ihre christlichen Werte wie Liebe und Gerechtigkeit als Maßstäbe des Denkens und Handelns hochgehalten, wären nicht die ungeheuren Verwüstungen und Zerstörungen passiert. Die heutigen Probleme der sog. "Dritten Welt" gäbe es in dieser Weise nicht. - Wäre in Ruanda, statt zu sehr auf Katechismen und theologische Lehren zu vertrauen, systematisch bereits in den Schulen die Einübung in christliche Werte in Gang gesetzt worden - das Massenmorden vor 10 Jahren wäre so nicht passiert. Die Beispiele ließen sich, im Blick auf viele andere Situationen christlicher Geschichte, beliebig ergänzen...

Gewiß, nachträglich ist man immer klüger als zuvor. Andererseits geht es darum, aus der Geschichte zu lernen, statt sie stets zu wiederholen. Meistens kann man auch erst im Nachhinein die falschen von den echten Propheten unterscheiden. Dennoch ist es der Menschheit immer wieder aufgegeben, das Neue, das Andere, das Bessere zu suchen und weiter zu entwickeln. Wie gesagt: immer im Blick zugleich auf die Zeichen der Zeit wie auf die bewährten Lebenswerte religiöser oder ethischer Art. Nur so kann Zukunft gelingen. Alles hängt von der Haltung der Klugheit ab. Daß der Sündenfall in die Dummheit immer auch eine Versuchung bleibt - darin liegen Größe und Tragik menschlicher Geschichte.
 


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