www.fritz-koester.de
Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen? (III)

Oktober 2004

Es gibt Lebensbereiche heute, in denen sich eine sehr ideologische und dogmatische Sichtweise eingeschlichen hat - auch in der Politik. Das führt - neben anderen Faktoren - zum Werteverfall mit den Fakten: man rechnet nicht mehr mit Realitäten, sondern vertraut auf "Wahrheiten" und Parolen, die den Anschein der Plausibilität erwecken. Bei deren Verfechtern steckt oft der Drang dahinter nach Prestige, Erfolg im Konkurrenzkampf, stressigen Auseinandersetzungen um jeweils eigener Vorteile willen. Dennoch: " Vorteile" sind sie nur scheinbar. Denn das Ergebnis sind "völlig flexible, von allen Bindungen losgelöste Menschen... Sie können nicht wertorientiert handeln. Für sie ist nichts verbindlich", schreibt das Magazin "Zeitzeichen". "Humane Tugenden" wie Teamgeist, Aufeinanderangewiesensein, Nächstenliebe, gegenseitige Hilfe... seien außerordentlich notwendig - nicht nur, "um menschliches Leben sinnvoll zu gestalten", sondern auch als "eminente Produktivkräfte" in der Wirtschaft. -

Zwei Bewegungen scheinen das heutige Leben zu bestimmen: wirtschaftlicher und technischer Tatendrang - bei gleichzeitigem Werte-Verlust. Oft gehört viel Tapferkeit dazu, um sich gegen oberflächliche Entwicklungen zu behaupten .Der Mangel an Zivilcourage, den man auch Feigheit nennen könnte, führt immer abgrundtiefer in den Werteverfall.


III. Mangelnde Zivilcourage oder: die Feigheit.

1. Der unerschütterliche Glaube: Parolen und "Wahrheiten" sind Realitäten überlegen.

Wie realistisch ist die Politik? Oder wie wirklichkeitsfern? Diese Fragen spielen im gegenwärtigen Wahlkampf in den USA eine große Rolle. Die einen rechtfertigen z.B. den Irak-Krieg mit dem Kampf gegen den Terrorismus, gegen den militanten Islam, gegen die wachsende Gewalt in vielen Ländern der Erde. Dabei werden "edle Ziele" genannt: Demokratisierung in bisher undemokratisch geführten Ländern, die Durchsetzung der Menschenrechte weltweit, die Verhinderung des "Kampfes der Kulturen und Religionen"...

Die Gegenseite weist im Gegenzug auf die Ergebnisse der bisherigen "Missionstätigkeit" hin, die leichtfertig verschwiegen würden: die Lüge über die Massenvernichtungswaffen im Irak, der ständig zunehmende Antiamerikanismus in der Welt, der wachsende Widerstand in vielen Ländern gegen jede Form des Neo-Imperialismus und Kolonialismus, die enormen finanziellen Lasten und die steigenden Menschenverluste auf allen Seiten, die Unmöglichkeit des Friedens mit Mitteln der Gewalt, schließlich die Weigerung vieler demokratischer Staaten, sich aktiv an solchen "Kriegspielen" zu beteiligen.

Es gibt andere Beispiele, die bei im Volk beliebten Massenveranstaltungen zutage treten. In Ulm fand im Juni des Jahres ein Katholikentag statt. Er war, wie viele andere Kirchentage, mit einer reichhaltigen und endlosen Liste von Veranstaltungen und Angeboten besetzt. Solche Tage - so die FAZ vom 21.6.2004 - quollen über durch bunte Träume, Illusionen und Parolen. Aber: der in Ulm wie auch andere sind an der Realität gescheitert. Die wirklich gravierenden Probleme und ernsthaften Schwierigkeiten der Kirche wurden nicht maß-gebend in den Blick genommen, sondern geflissentlich übergangen: die Finanzkrise, der Priestermangel, die Rolle der Laien und speziell der Frauen, der Zölibat, die Erosion der Gemeinden, das Ungenügende herkömmlicher Theologie... Solche Fakten treffen die Kirche heute hart - "freilich noch immer nicht so hart, dass die Katholiken sich und ihre Kirche schonungslos in den Blick nähmen". Stattdessen stelle sich das Christentum als eine Religion der Experten dar, der Besserwisser und Hellseher. Das Wichtigste: nämlich das Vorstellen und Erreichen eines gemeinsamen Zieles, an dem sich möglichst viele - weil begabt mit Sprache und Erfahrung - beteiligen könnten, werde gar nicht als Aufgabe erkannt. Stattdessen würden die Massen mit Parolen und Angeboten überfüttert; sie würden dem "Geplänkel der Fachleute" ausgesetzt, dem Streit um theologisch "brave" oder aufmüpfige Konzepte und Personen.

Wie in den USA, so könnte man in manchen politischen und weltanschaulichen Konstellationen die Grundtendenz mit dem Motto beschreiben: Realitäten kümmern uns nicht, wir schaffen sie! Ebenso könnte man sie festmachen in dem überall feststellbaren "Glauben", dass die fixe Idee von unverrückbaren Wahrheiten, dogmatischen Sätzen, politischen Lieblingsideen und Experten-Einsichten den konkreten Realitäten immer überlegen sind. Dieser "Glaube" wird bei Massenveranstaltungen gnadenlos und exzessiv nach außen propagiert. Die Massen werden davon in den Bann gezogen und in "Begeisterung" versetzt. Die Erfahrungen, die letztlich dabei gemacht werden, verstärken den Eindruck, dass man sich den Fakten und Realitäten nicht unbedingt zu stellen braucht. Zudem duldet kein Dogmatismus Widersprüche, keine Zwischenrufe, auch wenn gravierende "Zeichen der Zeit" nach alternativen Denkweisen schreien. Auch gerät die Tatsache geflissentlich in Vergessenheit, dass erfahrungsgemäß die Menschen durch Massen-Events nur äußerlich und vorübergehend angerührt werden; dass in der schnell wiederkehrenden Realität des Alltags nichts weiter übrig bleibt als blasse Erinnerungen und die "Katerstimmung", dass das Leben eben doch ganz anders ist...

2. Denken im Umgang mit der Realität.

In einer der Regeln des hl. Benedikt, dessen Orden seit dem 6.Jh. zu einem entscheidenden Kulturfaktor geworden ist, heißt es: die Ordenobrigkeiten sollten nie wichtige Entscheidungen treffen, ohne zuvor mit dem geringsten der Klosterbrüder gesprochen und dessen begründete Meinung abgeholt zu haben. Denn wirklich zukunftsgestaltende Einsichten würden oft den Kleinen, den Unbedeutenden, den äußerlich Ohnmächtigen geschenkt...

Im Christentum der Frühzeit herrschte eine ähnliche Praxis vor. Man ging davon aus, dass die "Stimme Gottes" in der "Stimme des Volkes" zu hören sei. Deshalb bedürfe es bei allen wichtigen Weichenstellungen der "Übereinstimmung mit den Gläubigen" und deren "Rezeptionsfähigkeit". Denn dem Volk, mitten im Leben stehend, sei bei wichtigen Angelegenheiten die "richtige Nase" geschenkt, sozusagen der "rechte Sinn", der es richtig und geradezu instinktiv sicher reagieren läßt. Deshalb dürfe es keine Theologie geben, keine Kirchenpolitik, keine personalen Entscheidungen, die mit dem "sensus fidelium" nicht in Einklang zu bringen seien. Denn ohne die "Stimme des Volkes" gäbe es bald kein Volk mehr; jedes kirchliche Reden würde in ideologische oder idealistische Phrasen ausarten - würde zu "Worthülsen" werden, an die niemand mehr glaubt....

Es hat immer wieder Warner und Rufer gegeben gegen solchen Trend. Sie entwickelten eine ausgeprägte Gegnerschaft gegen abstrakt-systematisches Denken. Die Verfasser der Bibel gehören dazu. Heute u.a. Sören Kierkegaard (gest.1855) und Franz Rosenzweig (gest.1920). Sie glaubten nicht an "zeitlos geltende Aussagen", nicht an Theorien um der Theorien willen, nicht an das "Denken um des Denkens" willen. Dieses sei "blaß wie Papier", "blutleer wie Tinte", weil weit weg vom konkreten Leben und Erleben. Sie plädieren für die Hinwendung zum konkreten alltäglichen Leben, zum Faktischen und für Menschen wirklich Wichtigen. Wo die Aufarbeitung von Lebenserfahrungen, die adäquate Antwort auf geschichtliche Entwicklungen und "Zeichen der Zeit" nicht gelingen würde, da sei Verfall, Niedergang, Krise... Wo dagegen "Existenzbewältigung" in glaubhaften Lebens- und Dialogformen verwurzelt würde, da ereigneten sich Lebendigkeit in Leben und Glauben, ebenso die Erneuerung von Ethik und Gemeinschaft je nach dem Wandel der Zeit.

3. Der Mensch - ein ewiger Nesthocker.

Das Denken im Umgang mit der Realität - auch wenn es unangenehm und anstrengend ist - fällt dem Menschen schwerer als das Denken in allgemeinen Sätzen und Wortwendungen. Diese können leicht zu Phrasen und Floskeln werden, wenn der Bezug zum Leben fehlt und wenn sie auf die Ignorierung des Menschen (Newman) hinauslaufen. Im Christentum wird - um Eindruck zu machen? - ohne Wenn und Aber von der frohen Botschaft gesprochen. Daß es sich in Wirklichkeit um eine anstrengende Botschaft handelt - geeignet, den Menschen aus alten und liebgewordenen Geleisen herauszuwerfen, wird weitgehend verschwiegen: weil für die Verkünder der Botschaft wie auch für deren Hörer zu anstrengend, zu wenig "attraktiv"?

Auch das politische Geschäft steht und fällt mit Dauer-Versprechungen. Unangenehmes wird weitgehend ausgeblendet - um nicht Macht und Einfluß zu verlieren. Im gesellschaftlichen Leben spielen Wellness, Fitness, Gesundheit, seelisches und körperliches Wohlergehen, Wohlstand, Erfolg... eine herausragende Rolle. Wer solche Werte als "käuflich" und "machbar" anbietet, hat die Chance zu Anerkennung und blühendem Geschäft. Daß Vieles im Leben äußerster Anstrengung und Konzentration bedarf, um Sinnvolles und Wesentliches zu erreichen - solche Menschheitserfahrungen passen nicht in das Konzept einer "Spaß-Gesellschaft". In aufgezwungenen Notfällen bleibt oft nichts anderes übrig, als körperliche Strapazen in Kauf zu nehmen. Aber in freier Entscheidung für moralische, ethische, geistige Werte Mühen auf sich zu nehmen, steht auf einem anderen Blatt. Die aufklärerische Vorstellung, materielles Wohlergehen produziere automatisch den edlen Menschen, feiert in heutiger Zeit tausendfache Bestätigung.

Anthropologen haben den Menschen immer wieder als einen ewigen unverbesserlichen Nesthocker beschrieben. Er tut alles, um sein Wohlergehen zu sichern. Mechanismen der Unterdrückung, Ausgrenzung, Ignorierung fremder und störender Elemente tragen das Ihre dazu bei. Wenn dann plötzliche und unerwartete Ereignisse die Harmonie stören: Tod, Krankheit, Lebenskrisen und -katastrophen, Sorgen und Zukunftsängste, dann bricht für ihn eine heile Welt zusammen. Verzweiflung und Depression schleichen sich ein. Oder das sichere Gefühl: was anderen passiert, hat mit mir Gott-sei-Dank nichts zu tun. So geht man gedankenlos zur Tagesordnung über. Die zentrale Triebkraft bleibt immer die gleiche: eigenes Wohlergehen und Sicherheit. R. M. Rilke drückt es so aus: der Mensch fühlt sich in der von ihn gedeuteten Welt "sehr verlässlich zu Hause". Daher rühren auch sein bürgerlich-oberflächlicher Optimismus und seine optimistische Bürgerlichkeit. Aber was ist, wenn die Welt anders ist als er sie deutet?

4. Feigheit ist immer auf persönliche Sicherheit aus.

Um verständlich zu machen, was Feigheit und im Gegensatz dazu Tapferkeit ist, bedarf es noch einmal eines Rückblicks auf den amerikanischen Wahlkampf. In vielen Kreisen Amerikas gilt Bush als der Mutige, der Entschlossene, der Tapfere - als erster in der Lage , den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen. Bei näherem Hinsehen auf seine Lebensgeschichte ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass der Präsident sehr stark von Kompensationen bestimmt wird, die in persönlichen und politischen Versagensgeschichten ihren Ursprung haben. Wenn ein Mensch, von Komplexen und Schuldgefühlen belastet, äußere Machtmittel in die Hand bekommt, ist die Versuchung groß, den Mächtigen und Starken zu spielen. Aus dem sicheren "Führerbunker" heraus werden dann Entscheidungen getroffen und Entwicklungen zugelassen, die über Unschuldige Tod und Verderben bringen. Die "zielsicheren" Bombenangriffe auf Zivilisten, Frauen und Kinder im Irak; die entwürdigende Behandlung irakischer Gefangener sprechen Bände für die Mentalität eines Mannes und seiner Umgebung, die der eines Hitler oder Stalin nicht unähnlich ist. Umso schlimmer wird das ganze Erscheinungsbild, wenn Motivationsschübe der persönlichen Kompensation und des Säbelrasselns sich mit religiösem Fanatismus verbünden. Dann treten solche Menschen als "Friedensapostel" und Missionare für höhere Werte auf; sie versprechen Menschenrechte und Heil für alle. Die Geschichte der Religionen zeigt, dass Missionseiferer, die der Welt den Himmel auf Erden versprachen, immer die Hölle hinterlassen haben.

Bei allem äußeren Anschein von Tapferkeit und Mut darf man nie die Wachsamkeit gegenüber der Möglichkeit aufgeben, dass es sich in Wirklichkeit um Feiglinge handeln könnte. Wegen früherer Verwundungen leben sie in der Angst, noch mehr als früher mit unheilvollen Erfahrungen konfrontiert zu werden. "Den Mutigen gehört die Welt" heißt es oft. Oder sind es vielleicht doch eher die Feiglinge mit einer Versagensmentalität, die alles daran setzen, durch Karriere und Ellenbogenverhalten zu Macht, Ansehen und Ehre zu gelangen? Erich Kästner schreibt in seinem "Lesebuch": die "Demaskierung von Herrschaften" sei bei allen Herrschenden von größter Notwendigkeit. Denn "sie wandeln historisch kostümiert, als schöne Masken, durch die Hallen der Geschichte". Und für viele sei es kaum vorstellbar: "im Privatleben können sie sehr wohl Hanswürste, Geizhälse, Lügner, eitle Affen und Feiglinge sein". -

Was bei Kästners "Feiglingen" besonders charakteristisch ist: sie versuchen, das Zusammenleben von Menschen zu kontrollieren und zu beherrschen; sie achten auf die Einhaltung der Spielregeln der Gemeinschaft - vor allem, wenn sie selbst davon profitieren. Sie wollen nicht wahrhaben und wehren sich dagegen, dass die Spielregeln sich ändern - eine Veränderung, die ihre eigene Position gefährdet. Wer im Wandel der Zeit solche Veränderungen zuerst bemerkt und ausspricht, gilt als "Spielverderber" und "Falschspieler". Galilei, Luther, Goya, Voltaire, Lessing, H. Heine…waren solche « Nestbeschmutzer ». Sie gewannen den Kampf gegen diejenigen, die ihre Totems und Tabus mit Krallen und Klauen, mit Bann und Acht verteidigten... Aber erst, nachdem sie gefallen waren. -

Erst später wurden sie in die Reihe der Mutigen und Tapferen der Geschichte eingereiht. Sie waren getrieben von ihren gewonnenen Überzeugungen. In ihnen mischten sich Ehrlichkeit, Verstand, Mut, Talent und "kaltes Feuer". Als wenige standen sie - mit ihrem Gewissen und Rechtsempfinden - den vielen gegenüber, die die geschichtlichen Herausforderungen "weder lesen noch schreiben konnten, höchstens noch mit den Hühneraugen". Im Sinne Tucholskys wurde ihnen zum Verhängnis "der Fluch der Zeit, der Fluch der Mittelmäßigkeit".

5. Tapferkeit: Einsatz für das Gute gegen die Übermacht des Bösen.

Die Tatsache, dass sie den Kampf gewannen, "nachdem sie gefallen waren", macht deutlich, was Tapferkeit ist. Augustinus beschreibt sie als "unwiderlegbaren Zeugen" für die Existenz des Bösen. Tapferkeit ist demnach alles andere als diesseitiger Optimismus oder Pessimismus. Solche Haltungen zeugen eher von der Leugnung der Wirklichkeit des Bösen. Sie beruhen darauf, stets zu verharmlosen, zu beschwichtigen, zu verhandeln, risikolos und konfliktscheu zu verfälschen. Oder der einfallslose Glaube bleibt vorherrschend, dass das Gute sich "von selbst" durchsetzt, weil der Mensch und seine Absichten doch nicht anders sein können als "edel und gut". Der Tapfere dagegen sucht der unromantischen, herben Wirklichkeit des Lebens und der Welt auf die Spur zu kommen. Er hütet sich, billige oder geschwätzige "Begeisterung" für irgendeine Sache zu erzeugen. Er weiß, dass alles Menschengemachte immer nur relativ ist und gefährdet, daher beängstigend, bedrückend, schmerzlich. Er vermag in diesem "Realismus" Dinge zu sehen, die andere geflissentlich nicht wahrhaben wollen. "Allen geschaffenen Dingen... ist eine abgründige Traurigkeit zugeordnet, eine unüberwindbare Traurigkeit", sagt Thomas von Aquin im Anschluß an die Bergpredigt: "Selig die Trauernden...".

Während die Feiglinge durch Schlauheit, taktische Manöver, falsche Besonnenheit und "ruhige Überlegung" alles tun, "um dem Ernstfall aus dem Wege zu gehen", geht der Tapfere auf das Furchtbare zu, obwohl es für ihn selbst sehr gefährlich ist. Er läßt sich nicht hindern, sich für das Gute zu entscheiden, auch wenn das Böse, das Widerwärtige, das Banale, das Oberflächliche im Umfeld übermächtig ist. Vielfach wird er als "der Dumme" angesehen, weil er keine Vorteile für sich selbst sucht, sogar Beleidigungen, Erniedrigungen und Verurteilungen in Kauf nimmt. Er liebt zwar auch sein eigenes Leben, aber nicht um jeden Preis. Er ist sogar bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, weil er an höhere Werte glaubt. Die Geschwister Scholl, die Männer des 20. Juli sind Beispiele dafür, dass es jemand bis zum Äußersten kommen läßt.

Bei allen Schwierigkeiten und persönlichen Nachteilen ist solchen "Märtyrern" ein hohes Maß an Augenmaß und Sachlichkeit eigen. Im Denken und Tun achten sie auf die Wahrheit und Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse. Sie versuchen, ihnen gerecht zu werden. Mit Vernunft und Klugheit greifen sie in das Geschehen ein, immer so, wie es dem Wesen und wahren Sachverhalt entspricht. Nicht aus falschem Ehrgeiz oder blindem Eifer; nicht aus der Angst heraus, für feige gehalten zu werden; nicht aus buckeligem Gehorsam oder aus einem unüberlegten Draufgängertum heraus, welcher sich blindlings einer Gefahr aussetzt.

Wer zur richtigen Beurteilung und Einschätzung einer Situation fähig ist, der vermag auch mutig und voll Selbstvertrauen einzugreifen. Er ist gefestigt in der Hoffnung, die er auf sich selbst setzt. Er vermag darin standzuhalten - auch noch im äußersten Ernstfall, in dem das Machtgefüge dieser Welt keine andere Möglichkeit mehr läßt. Im Christentum wie in anderen Religionen ist das Martyrium die eigentliche und höchste Form der Tapferkeit. Die äußerste Form des Guten erweist sich in der Ohnmacht gegenüber den Intrigen der Welt. Menschen werden dann "wie Lämmer mitten unter den Wölfen" (Mt 10.16). Sie werden erst "Sieger", nachdem sie gefallen sind...

Aus psychologischer Sicht könnte man sagen, dass die Tapferkeit im Gegensatz steht zur Introvertiertheit des Menschen auf sich selbst, auf sein eigenes Ego. Wer immer nur auf sich selbst konzentriert bleibt; wer unfähig ist, sich in Liebe loszulassen zum Du des anderen hin; wer nicht den Mut aufbringt, über seinen eigenen Schatten zu springen und zur Selbsthingabe fähig zu werden, wird seelisch krank. Einengende, auf sich selbst fixierte Verhaltensweisen sind gemeinsamer Grundzug aller Neurosen. Es scheint dem Menschen wie eine innere Veranlagung gegeben, dass "nur, wer sein Leben verliert (um eines höheren Gutes willen), es neu gewinnt" (Mt 10.39). Ein solches dem Menschen eingegebenes "Naturgesetz" gilt für dieses Leben, aber auch für das Leben über den Tod hinaus.
 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
Bitte beachten Sie meine Nutzungsbedingungen.