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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Was ist Religion (3)? :
Sehnsucht nach etwas ganz Anderem.

August 2005

Max Horkheimer hat vor ca. 30 Jahren in einem Spiegel-Interview diese Antwort gegeben. Religion ist die Sehnsucht nach etwas ganz Anderem! Das hört sich so an, als wäre der Mensch nie ganz zufrieden mit sich selbst; mit dem, was er ist und was er hat so, als lebte er in ständiger Unruhe nach etwas Höherem, Besseren, Schöneren ... In einer unreligiös sich gebärdenden Gesellschaft kann sich solche Sehnsucht schnell im Drang nach "Mehr" gegenüber allen nur denkbaren Werten und Sachverhalten äußern. Dann werden Karriere um jeden Preis, der Geldbeutel, das Auto als Selbstbestätigungssymbol, das körperliche Training, der Sport, der Gesundheitskult, die "Tour des France"... zu Ersatzreligionen. Aber auch Ersatzreligionen bleiben Ausdruck derselben Sehnsucht über sich selbst hinaus. Sie feiert kultische Triumphe auf Sportplätzen, in Discos, Theatern, Kinos und Fitnesszentren.

Was Max Horkheimer eine "andere Sehnsucht" nennt, läßt sich in der gesamten Menschheitsgeschichte nachweisen. Schon in den archaischen Kulturen, in deren Begräbnisriten und Höhlenzeichnungen, ist sie lebendig feststellbar. Erst recht in den sog. "Hochkulturen". Sie bekunden in Wort und Kunst das, was in Menschen eklatant vorhanden ist: das nie zufrieden sein können mit den Erfahrungsbereichen einer Welt, die als unerlöst, hinfällig, vergänglich, zerbrechlich, als relativ und vorläufig empfunden wird. Viele denken darüber nach. Cicero leitet das Wort Religion vom Lateinischen "religere" ab - "sorgfältiges Beobachten der Gottesverehrung"; Laktanz von "religare": Verbindung des Menschen mit Gott. - Andere sprechen von einer "Entscheidung für Gott in Gottesliebe und Gottesbesitz" (Augustinus); von der "Ordnungsbeziehung des Menschen zu Gott als seinem Schöpfer" (Thomas von Aquin); von der "Bezogenheit des Menschen auf das Unendliche" (Schelling); von der "Beziehung des Menschen mit einer überweltlichen Macht" (Söderblom); von der "Überwindung der eigenen Begrenztheit" (Girgensohn); von der "theoretischen und praktischen Anerkennung eines Höheren" (Rademacher); vom "Versuch des Menschen, seine Existenz überweltlich zu begründen" (Brunner); vom "totalen Sich-Einlassen des Menschen auf den Sinngrund seiner selbst, auf den heiligen, geheimnisvollen Sinngrund aller Dinge" (Fries); vom "Gefühl der Koexistenz mit dem Unendlichen", von der "Lust und dem Verlangen, durch alles Endliche des Unendlichen inne zu werden" (Schleiermacher); vom "Selbstbewusstsein Gottes im Menschen" (Hegel); von der "Erkenntnis unserer Pflichten als göttliche Gebote" (Kant); vom "Erlebnis des Heiligen und Numinosen" (Otto); von der "erlebnishaften Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln als vom Heiligen bestimmten Menschen" (Mensching).

Man kann kreuz und quer durch die Kulturgeschichte der Menschheit gehen: Religion gibt immer Kunde von einer "Provinz im Menschen", die darauf aus ist, die Welt und das Leben in ihrer Ganzheit vor-wissenschaftlich oder wissenschaftlich zu deuten. Der Mensch will wissen, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. Er will sich selbst und seinen "Ort" erkennen im Gesamtgeschehen der Welt, seinen Lebens-Sinn innerhalb eines größeren Zusammenhangs.

In den sog. Offenbarungsreligionen setzt sich dieser Prozess nicht so sehr "vor-wissenschaftlich" oder "wissenschaftlich" fort; viel mehr personalisiert sich hier die Begegnung Gottes mit dem Menschen als Hörer und Gesprächspartner. Mohammed behauptet, er habe alle Wahrheiten und Anweisungen des Korans von Allah direkt und unmittelbar in Ohr und Herz zugesprochen bekommen. Deshalb sei seine Lehre unverrückbar, uninterpretierbar und unüberholbar. - In diesem Sinne steht der Islam ganz in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes. Nur spricht im AT diese Art des wörtlichen Gottesdiktates eine nicht so entscheidende Rolle. Jahwe spricht zunächst zu seinem Volk. Er führt es von Anfang an durch die wechselvolle Geschichte und beruft es, einen Bund mit ihm zu leben. Gott und Mensch werden Partner. Der Mensch als Ebenbild Gottes ist dazu berufen, die von Gott geschaffene Welt zu verwalten und schöpferisch weiter zu gestalten. Die "Sprache Gottes" sind nicht die in die menschlichen Ohren gesprochenen Worte, sondern geschichtliche Ereignisse, die der Mensch als Anrufe Gottes zu verstehen und zu bewältigen hat. Indem dieser Antworten findet und "tut" auf die Herausforderungen der Zeit und die Anforderungen des Lebens, entdeckt er auch - auf dem Weg oder Umweg vieler Erfahrungen - die Maßstäbe des Lebens und Handelns, die Gott ihm setzen will und nach denen er sich zu orientieren hat. Die Zehn Gebote regeln das Leben gläubiger Menschen untereinander und ihre Beziehung zu Gott. Bei deren Formulierung auf dem Berg Sinai spielt Moses eine entscheidende Rolle; zu deren Einhaltung mahnen die Schriftgelehrten und Propheten.

In Jesus von Nazaret erreicht der personale Gottesbezug seinen Höhepunkt. Weil Gott selbst immer "im unzugänglichen Lichte wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag" (1Tim 6.16), ist der Glaube im Christentum an die Menschwerdung Gottes zentral. Indem Gott Mensch wird, vermag er Aussagen zu machen, die der Mensch versteht. An der geschichtlichen Gestalt Jesu vermag der Mensch zu erkennen, wer Gott ist, wie er denkt und an den Menschen handelt. Das menschen- und situationsnahe Denken und Handeln Jesu werden die eigentliche "Sprache Gottes". Sie werden die Maßstäbe für die Lebenshaltung von Christen überhaupt. Deren "Glaube" ist nichts anderes als das Ja-Sagen zu den Heil schaffenden Worten und Taten Jesu. Und Christen sind dafür da - sie finden ihre Existenzberechtigung in der Welt nur dadurch -, dass durch sie die Heil schaffenden und erlösenden Taten Jesu fortgesetzt werden. "Glaube" ist die verbindliche Übernahme der Denk- und Handlungsweise Jesu in die eigene Lebenswelt. Das gilt für den einzelnen Christen wie für die Christenheit als Ganze.

Im Neuen Testament werden die Maßstäbe allen Denkens und Handelns eindeutig und verbindlich gesetzt. Sie heißen: Liebe, Gerechtigkeit, Güte, Verzeihen... "Bleibet niemand etwas schuldig, nur die Liebe schuldet ihr einander", schreibt Paulus (Röm 13.8). Und indem er das "Hohe Lied der Liebe" besingt (1 Kor 13), aktualisiert er für die Gemeinde in Korinth das, was Jesus gefordert hatte: "Das ist mein Gebot: dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe" (Joh 13.8).

Dass solche "Bündnisbereitschaft" mit dem Heilswillen Gottes an der Welt weit über Zeremonien, Riten und Liturgien hinausgeht, müssen sich "Sonntagschristen" immer wieder vor Augen führen lassen. Das Christentum im Originalton mobilisiert alle schöpferischen Kräfte des Menschen und lässt Haltungen wie: "kirchlichen Gehorsam", Obrigkeitentreue und "Untertänigkeit" als zweitrangig erscheinen. Der Christ ist wie kein anderer zur Freiheit berufen. Freiheit bedeutet aber auch Unsicherheit, Ungewissheit und Wagnis. Wer sich davor drückt oder sich durch manipulierende Machenschaften der Mächtigen unterdrücken oder mundtot machen lässt, der zerstört sich selbst und alles, was als "Charisma" in ihm angelegt ist: menschliche Würde, Freiheit, Aufrichtigkeit...

Der wie auch immer dressierte Mensch - "gestutzter Adler in einem Hühnerhof" - macht einen zwiespältigen Eindruck. Sein Ich steht immer unter dem Imperativ eines Obrigkeiten- Ich. Er ist hin- und hergerissen zwischen beiden. So vermag er - bei aller äußerlich geübten Religiosität - der "Sehnsucht nach einem ganz Anderen" nicht gerecht zu werden. Er bleibt unfähig und unwillig, den eigentlichen Sinn des Lebens zu begreifen.
 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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