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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Gedanken über ZeitenWende - WendeZeiten (V):
"Werteverlust". Die Rolle der Kirchen und Christen.

Januar 2005

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat den "Verlust der Werte" als das Schlimmste an unserer gegenwärtigen Gesellschaft bezeichnet. "Immer mehr Eltern geben ihren Erziehungsauftrag an die Schule ab". Man könnte dem hinzufügen: an die Spaß- und Konsumgesellschaft. Von ihr werden Kinder und Jugendliche stets mit einem Riesenangebot an Computerspielen, CDs, Musikkasetten, Mode- und Markenartikeln buchstäblich bombardiert. Pisa-Kinder kommen dabei kaum zum Nachdenken. Die Konsequenzen einer "Erwerbs- und Gewinngesellschaft", die den Sinn für ethisch-religiöse Normen verloren hat, wurden von dem Soziologen Max Weber bereits vor 100 Jahren vorausgesagt: Es entstehen "Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: das Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben".

Wie auch immer die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft beschrieben wird - Familien, Staat und Kirchen haben sich gemeinsam ein hohes Maß an Versagenspotential zuzuschreiben. Sie haben gemeinsam ihre Autorität verloren. Den Christen ist ihre Identität abhanden gekommen. Welches müßte die Rolle der Kirchen und Christen sein?


Es wird heute viel von der "Kirchenkrise" gesprochen, von "ausblutenden Gemeinden". Zu Recht. Der Prozeß des Schrumpfens und der christliche Image-Verlust sind unübersehbar, nehmen sogar lebensbedrohliche Züge an. Allerdings gibt es auch Gegenmaßnahmen. Sie heißen: Umstrukturierung der Diözesen und Gemeinden; Zentralisierung der Großgemeinden und Konzentration auf die "Hauptkirche", zu der die Menschen eilen (sollen), um sich "geistig" und "spirituell" versorgen zu lassen; Gemeinden "lebendig" machen; die Menschen "guten Willens" dort abholen, wo sie sind (Wer holt da Wen ab? Wer will überhaupt abgeholt werden?); besondere Wendezeiten im Leben pflegen und kultisch feiern (Geburt, Hochzeit, Lebenswenden verschiedenster Art...).-

Die christliche Botschaft, die weitergegeben werden soll, strotzt von unverständlichen Begriffen und feierlich-leeren Worthülsen. Von "froher Botschaft" ist die Rede; von Glaubensweitergabe; von festgelegten Glaubensinhalten; von Menschen, die sich von der Botschaft begeistern lassen sollten (aber sich nicht begeistern lassen)... Was ist mit diesen und anderen Begriffen konkret gemeint?

Drei Beobachtungen werden unübersehbar. Erstens wirbt hier eine Kirche für sich selbst und den Erhalt ihrer eigenen Zukunft. Die Kirche macht "Image-Pflege" in einer Zeit, in der sich eine wachsende Mehrheit lautlos von ihr verabschiedet. -
Die zweite Beobachtung stellt ein Dilemma dar. Es macht die Sprachlosigkeit bei gleichzeitiger theologischer Sprachmächtigkeit deutlich. Jahrhunderte lang wurden die "jesuanischen Anliegen" in eine philosophisch-theologische Sprache gegossen, die eigentlich nur die Fachleute verstehen. Deren Inhalte werden mit Elan und Ehrgeiz - "von oben nach unten" - weitergegeben. Sie kommen trotz aller Anstrengungen de facto "unten" aber nicht an - höchstens zeitweilig als auswendig gelerntes Katechismuswissen, welches sehr schnell wieder in Vergessenheit gerät (Anzeichen für die Nichtbrauchbarkeit im Leben?).
Daraus ergibt sich ein drittes folgenschweres Dilemma. Die Christen sollen sich mit "Kirche" identifizieren, den Glauben an andere weitergeben und sich für beides einsetzen... Sie haben aber selbst eine sehr schwach entwickelte - wenn überhaupt - "christliche Identität" (weil daran gewöhnt, stets von "Zuständigen" versorgt und betreut zu werden).

Deshalb zwei Behauptungen: wo dauernd der Blick auf "Gemeinde" und "Kirchenerneuerung" gerichtet ist, werden von vorneherein die ausgeschlossen, die zwar gläubig und christlich sein wollen, also "guten Willens" sind, aber von der herkömmlichen Form und Verfassung ihrer Kirche nichts halten (die sich aus welchen Gründen auch immer von der Kirche verabschiedet haben). Ein Wort von Papst Johannes Paul I. kann hier in Erinnerung gerufen werden: "Die Menschen verlassen die Kirche, weil die Kirche sie zuerst verlassen hat." -
Die zweite Behauptung: solange Christen ihre originäre Rolle nicht finden; solange sie sich nicht mit der "frohen Botschaft" (was ist das überhaupt?) identifizieren können; solange sie keinen "Selbststand" haben, der ihnen hilft, etwas authentisch zu vertreten (statt dauernd nach "Zuständigen" Ausschau zu halten) - solange gibt es keine Hoffnung auf neue christliche Impulse für Gegenwart und Zukunft.

Im Blick auf gesellschaftliche Umwälzungsprozesse und vor allem: im Blick auf das Vordringen des Islam stellt sich die Frage: wozu sind Christen überhaupt noch gut? Als erster Schritt zu ihrer Beantwortung müsste endlich zur Kenntnis genommen werden, dass die Sprache Jesu und der Schrift nicht theologisch-abstrakt war, nicht "von oben nach unten" verlief, sondern konkret-innerweltlich, situations- und menschennah, heilsgeschichtlich-dynamisch. Sie wurde aus dem "Jetzt", dem "Hier und Heute" heraus gesprochen und vermochte so die Bedeutung einer Botschaft für die Gegenwart und Zukunft der Welt verständlich zu artikulieren.

Sechs Antworten auf die Frage, wozu Christen überhaupt noch gut sind, sollen dieses verdeutlichen. Sie sollen jedem christlich Fragenden und Suchenden - gleich welchen Geschlechts und welcher Bildung - die Möglichkeit geben, sich leicht und verständlich damit identifizieren zu können, um sich so "aktiv" auf jenen Prozeß einzulassen, den Jesus selbst im Blick auf die zu heilende und zu erlösende Welt in Gang gesetzt hat:

  1. Christen sind sich gut genug, um auf den Ursprung zu blicken, der ihnen den Namen "Christen" gegeben hat: auf die Person und Gestalt Jesu Christi.
     
  2. Christen halten Ausschau nach Christus: nach seinem Leben, nach seinen Worten und Taten, die die Menschen damals als heilsam und erlösend empfunden haben (vgl. die Wunder Jesu, sein Umgang mit den Armen und Ausgestoßenen usw.). Dabei versäumen sie nicht, auch jene "exemplarischen Menschen" (Karl Jaspers) in Betracht zu ziehen, die in ihrer jeweiligen Zeit glaubwürdig die Anliegen Jesu vertreten haben. Freunde, Verwandte, "Vorbilder", "Heilige" ...spiegeln in konkreten Lebenslagen das "lebendige Antlitz Gottes" wider.
     
  3. Christen konfrontieren sich ständig mit der Frage, ob ihre Existenzberechtigung nur darin besteht, dass durch sie die Worte und Taten Jesu fortgesetzt werden. Wie damals, so müssen sie sich auch für die Menschen und für die Welt von heute als heilsam und erlösend erweisen. Solche "Fortsetzung" nur traditionellen Kirchenbesuchern zuzumuten, wäre eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Die weltweite Solidarität und Hilfsbereitschaft, wie sie die Asienflut im Indischen Ozean ausgelöst hat, machen die Kapazitäten deutlich, die im Menschen liegen. Warum gelingt es den Kirchen immer weniger, diese zu mobilisieren? Umgekehrt muß nach den Konsequenzen Ausschau gehalten werden für den Fall, dass Jesu Worte und Taten keine Fortsetzung finden. Streitigkeiten, Kriege, Unversöhnlichkeiten aller Art sind immer Indizien dafür, dass die "Einübung ins Christentum" aus dem Lot geraten ist.
     
  4. Christen sehen ihren Auftrag und ihre Daseinsberechtigung darin, dass durch sie die Worte und Taten Jesu weitergehen: die der Liebe, des Verzeihens, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Toleranz, des Dialoges und der Gemeinschaft. Solche lebenswichtigen Werte immer wieder "auf den Punkt gebracht" - dazu bedarf es des Mutes zu eigenen Optionen, der schöpferischen Kraft und Begabung. Wie solche Werte jeweils zu realisieren sind, kann "von oben" nicht verordnet werden. Menschen müssen es selbst lernen - je nach Lebenslage und eigener Begabung. Sie müssen zu diesem Lernen angeleitet werden. Kirchen, die solche Wahrheiten durch das Indoktrinieren von "Lehrsystemen" verdrängen und verhindern, ignorieren den Menschen und seine Fähigkeiten. So graben sie sich selbst ihr eigenes Grab.
     
  5. Christen sind der Meinung, dass nur durch Lebenserfahrungen Glaube und Hoffnung mit Leben erfüllt werden können. Aber auch Zusammenkünfte, die Feier der Sakramente und der Gottesdienste erhalten durch das Zur-Sprache-Bringen des Lebens ihren "Sitz im Leben". Ohne Lebensereignisse wird jede Religion unversehens leer und langweilig.
     
  6. Christen wissen, dass sie zur Hoffnung berufen sind. Alles das, was durch sie im Namen Jesu geschieht, gleicht einem Sauerteig, einem Samenkorn, welches wächst, bis es im Reich Gottes seine Vollendung findet. So leben Christen nicht nur voll im "Diesseits". Alles, was sie tun, ist auch auf jene Zukunft hin ausgerichtet, die als "Jenseitigkeit und Zukünftigkeit Gottes" beschrieben werden kann.
 


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