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Pater Fritz Köster
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56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Gedanken über ZeitenWende - WendeZeiten (VIII):
Der Tod des Papstes und die dahinsiechenden Kirchen.

April 2005

Am 2.April 2005 ist Johannes Paul II. gestorben - nach einer Amtszeit von über 26 Jahren. Er sei ein großer Charismatiker gewesen. Mit seiner Menschennähe und Ausstrahlungskraft habe er die Welt verändert - allerdings nicht die Kirche, deren Oberhaupt er war. So muß es nach den Tagen der Trauer notwendig dazu kommen, dass eine ehrliche Bestandsaufnahme gemacht wird. Ein außerordentlich beliebter Papst hinterlässt eine Kirche, der es entschieden schlechter geht als vor 26 Jahren! Diese Tatsache gibt Rätsel auf. Bei aller Liebe zum Papst - die Vorbehalte gegenüber der Kirche und dem Christentum, die es schon lange in der modernen Welt gibt, wurden nicht verringert. Die ungelösten Probleme sind zahlreicher geworden, allerdings auch differenzierter und verworrener. Wenn ein Wort des Papstes stimmt, dass der Weg der Kirche der Weg des Menschen sein müsse - warum hat er Worten so wenig Taten folgen lassen? Große Visionen machen gewöhnlich außerordentliche Maßnahmen notwendig. In den letzten 26 Jahren hätten schon kleine Schritte und ordentliche Maßnahmen genügt, um den vorhandenen "Problemstau" wenigstens ansatzweise aufzulösen.

1. Vorbehalte gegenüber dem Christentum.

Vorbehalte gegenüber dem Christentum hat es schon immer gegeben. Manche waren sogar sehr intelligent. Die Aufklärer z. B. konnten sich nicht vorstellen, dass Gott in Christus Mensch wurde; dass er den Menschen stets nahe ist; dass er sogar um des Heiles der Menschen willen stirbt und "Auferstehung" erlebt. Solche biblischen Berichte seien Märchen, Symbole, Legenden, Mythen... Gotthold Ephraim Lessing meint, Jesus sei nicht von den Toten auferstanden. Die Jünger hätten dieses Märchen nur erfunden, um von ihrer Enttäuschung abzulenken und sich eine Machtstellung in der werdenden Kirche zu sichern...

Wenn auch im Widerspruch zum offiziellen Christentum, waren die Aufklärer nicht einfach atheistisch oder materialistisch orientiert. Sie stellten sich Gott den Schöpfer wie einen Uhrmacher vor, der nach vollendetem Werk nicht mehr eingreift in weltliche Abläufe mit ihren kunstvollen, effektiven, großartigen Mechanismen und Gesetzen. In das Räderwerk der Schöpfung einzugreifen, deute eher auf eine Schwäche hin, die Gottes unwürdig sein...

Der jüdische Philosoph Baruch Spinoza sieht keinen Widerspruch zwischen dem, was in der Bibel steht und was die Gesetze der Natur sagen. Alle wirklichen Geschehnisse, über die die Bibel berichte, müssten sich nach Naturgesetzen zugetragen haben. Wenn Manches nicht mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen sei, müsse man annehmen, dass es von Frevelhänden in die Schrift eingefügt worden sei. So seien die "Wunder Jesu" von Späteren in die Schrift hineinmanipuliert worden...

2. Vorbehalte, die das Innere des Menschen erfassen.

Die Aufklärung, auf dem Boden des Christentums gewachsen, stellte sich also in Gegensatz zu ihm. Bis heute haben die Vorbehalte gegenüber dem Christentum noch tiefere Schichten im Menschen erreicht... Die moderne Physik hat das mechanistische Weltbild der Aufklärung hinter sich gelassen. Danach gab es andere entscheidende Entwicklungen, die die modernen Menschen gegenüber dem Christentum bzw. den Kirchen entfremdet haben. Namen wie Galilei, Kopernikus, Newton, Einstein, Th. de Chardin ... sprechen eine deutliche Sprache.

Die Priorität der Naturwissenschaft hat dazu geführt, dass jeder/jede Schüler/In "naturwissenschaftlich" denken und argumentieren lernt. Glaube und Religion werden dabei systematisch - bewusst oder unbewusst - in die Zone des Bedeutungslosen abgeschoben. Das moderne Denken wird zudem von den Humanwissenschaften geprägt: von der Pädagogik, Psychologie, Soziologie... Auch durch sie bekommen herkömmliche religiöse Einstellungen einen schweren Stand. Ebenso machen demokratische Entwicklungen in den Gesellschaften den Kirchen das Leben schwer. Sie haben dem Menschen ein neues Selbstwertgefühl gegeben. Wählen, mitbestimmen, mitentscheiden wollen und können ... werden zu unverzichtbaren Lebensmaximen. Damit kann die "Wahrheit einer Religion" nicht viel anfangen. Denn - so heißt es - über "Wahrheit" könne man nicht abstimmen. Um sie zu finden, könnten keine Mehrheitsverhältnisse ausschlaggebend sein. Mit der Beantwortung der Frage nach der Wahrheit aber steht und fällt die Existenzberechtigung einer Religion. So jedenfalls ist die herrschende Meinung.

Im Blick auf die modernen Wissenschaften, die ein situations- und zeitbedingtes Verhalten und Denken der Menschen zur Folge haben, stellen sich die Fragen radikal neu: was ist "Wahrheit"? Wer hat sie? Wer kann sie für sich in Anspruch nehmen? Etwa die herkömmlichen Kirchen, die sich im übrigen in vielen Fragen nicht einig sind ?

So hat sich eine tiefe Skepsis gegenüber jedem absoluten Wahrheitsanspruch eingeschlichen. Eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen der Frage nach der Wahrheit - dem zentralen Anliegen der Religion - und dem "Zeitgeist", der geneigt ist, alles zu relativieren und unterschiedliche religiöse Überzeugungen zu akzeptieren. Kirche und Welt scheinen zwei nicht-vereinbare Lebenseinstellungen zu proklamieren. Die meisten Kinder und Jugendlichen in Elternhaus und Schule sind bereits von dieser "Unvereinbarkeit" zwischen religiösem Glauben und vernünftigem Denken geprägt. Vor allem sind sie nicht gewillt, ihr Denken im Vorzimmer des Glaubens abzulegen nach dem Motto: hier im Klassenzimmer wird gedacht, drüben in der Kirche wird geglaubt. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sogar eine solide religiöse Erziehung in der Jugendzeit die innere Zerrissenheit eher verschlimmert als heilt.

3. Wie sich die Kirche ihrer eigenen Basis beraubt.

Zweifellos war Papst Johannes XXIII. eine der nachhaltigsten Figuren in der modernen Kirchengeschichte, der die Kluft zwischen Kirche und Welt erkannte und energische Schritte zu deren Überwindung unternahm. In der kurzen Zeit seines Pontifikates (1958-1963) hat er einschneidende Maßnahmen ergriffen, nicht zur Freude vieler Alteingesessener. Das Zweite Vatikanische Konzil, sein Werk und seine trickreiche Initiative gegenüber vielen Gegnern, hat bahnbrechende Impulse gegeben. Das Wort Dialog wurde zu einem Schlüsselwort. Kirchenamtlich redete man von der "Öffnung zur Welt"; von der "relativen Autonomie" aller weltlichen Angelegenheiten; von der Berechtigung anderer, auch nicht-christlicher Religionen als legitime Wege des Gottsuchens und der Ehrfurcht vor dem Absoluten. Johannes XXIII. sprach von den "Zeichen der Zeit", die es zu erkennen und zu deuten gilt, weil sich in ihnen die Sprache und der Wille Gottes für die Gestaltung der Zukunft kundtun.

Für ihn gehörten auch das anders gewordene Selbstverständnis der modernen Menschen zu den "Zeichen der Zeit": die Kräfte und Fähigkeiten der Nicht-Kleriker, der Männer und Frauen in Familie und Gesellschaft. Pastoral denkend, wollte Johannes XXIII. "von den Menschen her", also "von unten nach oben", die Zugangswege zu Gott und zur Transzendenz neu erschließen - weniger mit Hilfe von Lehrsystemen, Dogmen, kirchenrechtlichen Maßnahmen, obrigkeitlichen Indoktrinationen...

Dazu wäre der Dialog nach "unten", also mit dem Volk, von entscheidender Bedeutung gewesen. Aber gerade dieser "Dialog" wurde in den letzten 30 Jahren sträflichst vernachlässigt. Zwar blieb das Wort "Dialog" ein Schlüsselbegriff für alle kirchlichen Maßnahmen. Der Dialog mit der "Welt", mit Vertretern anderer Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen wurde fleißig eingeübt. Die Gesprächspartner waren allerdings weitgehend die Fachleute und "Experten", die Amts- und Würdenträger - also Vertreter der jeweils "führenden Schicht", der sog. "Elite" - Dokumentation dafür, dass das Christentum zu einer Spezialistenreligion geworden war: mit einer speziellen Sprache, die nur "Insider" verstehen.

In solchen "Dialogen" steckt die nicht hinterfragte und nicht hinterfragbare Behauptung, dass das einfache Volk nur auf die Ergebnisse kluger Dialoge in den Chefetagen warten, um dann unkritisch angenommen zu werden. Aber wie weit sind die jeweiligen "Eliten" und Amtsträger wirklich die Sprecher und Repräsentanten ihrer Untergebenen? Wie weit spiegeln sie das wider, was "im Volk" vor sich geht? Was bewirkt also der Experten-Dialog auf den oberen Erkenntnisebenen, wenn die Menschen auf der Straße, das "einfache Volk", außen vor bleiben? Der seit Jahren sich fortsetzende "fort-laufende Erfolg" macht deutlich, dass die Distanz und das Desinteresse Hochkonjunktur haben.

Man kann sich des Eindrucks nicht mehr lange erwehren, dass der fehlende Dialog zwischen "oben" und "unten" die Hauptursache dafür ist, dass immer mehr Menschen die Kirche verlassen. Viele lehramtliche Erlasse und Erkenntnisse in den kirchlichen Chefetagen wirken wie Schneeflocken in der Wüste, die "unten" gar nicht ankommen. Sie sind wie Schecks in der Einöde, die man nirgendwo einlösen kann.

Der fehlende Dialog zwischen "oben" und "unten" läßt sich an konkreten Ereignissen in den letzten 30 Jahren festmachen. Man könnte hier von einer kirchenamtlichen pastoralen Versagensgeschichte sprechen, von nicht wieder gut zu machenden Versäumnissen. Deren Langzeitwirkung ist und bleibt jedenfalls nachhaltiger als kurzatmige grandiose Kirchentage und Papstfestivals.

4. Versäumte Gelegenheiten.

Als Beobachter der Jesus-people-Bewegung in den 70ger Jahren konnte ich z. B. die Erfahrung machen, dass viele Anhänger dieser Bewegung eigentlich gar nicht genau wussten, wer Jesu wirklich war? Aber sie schlossen sich bedenkenlos dem Trend und den Parolen an. Pastoral wäre es sehr heilsam gewesen, hätten sich die Kirchenleute (Theologen, Pfarrer und Bischöfe) auf die Straße begeben, um mit den vielen jungen Leuten das Gespräch zu suchen, die Frage nach den wirklichen Anliegen Jesu zu stellen und vertiefende Antworten zu suchen. Sicher hätten manche Leute der Straße einen neuen Zugang gefunden zu dem, was ursprünglich mit "Kirche" überhaupt gemeint war: Kirche als Gemeinschaft derer, die die Worte und Taten Jesu in Welt und Geschichte fortzusetzen bemüht sind...

Ähnlich wurde das Versagen des Dialogs eklatant in dem Augenblick, als das Kirchen-Volks-Begehren Hochkonjunktur hatte. Was in der Zwischenzeit fast unvorstellbar geworden ist: vor 2 Jahrzehnten gingen Junge und Alte, Gebildete und Ungebildete, Arbeiter und Akademiker, Männer und Frauen auf die Straße, um Unterschriften zu sammeln für eine Kirche, die sich erneuert, die den Bedürfnissen und Anliegen heutiger Menschen entgegenkommt...

Freilich waren die artikulierten Bedürfnisse z.T. recht vage, undifferenziert, wenig überlegt und kritik-anfällig. Statt auch zu ihnen auf die Straße zu gehen, um deren Anliegen aufzugreifen, zu klären, zu vertiefen..., blieben die Kirchenvertreter in ihren Sakristeien und Büros, um von dort aus empört und abweisend auf solche Anliegen zu reagieren. Allein aus meinem Bekanntenkreis weiß ich, dass viele kirchenengagierte Leute damals Abschied genommen haben von der Kirche: aus Enttäuschung, Ohnmacht, Wut und Resignation.

Eine ähnlich folgenschwere Langzeitwirkung hat auch die (deutsche) Auseinandersetzung in der Schwangeren-Konfliktberatung gehabt. Da gab es Bischöfe, die sich mit staatlichen Organen darauf geeinigt hatten, dass vor einer beabsichtigten Abtreibung eine Beratung stattzufinden habe - verbunden mit der Ausstellung eines Scheines, der die Beratung bestätigt. Viele der Bischöfe haben eine persönliche Gewissensfrage daraus gemacht. Von "Rücktritten" war sogar die Rede. Als erstaunlich stellte sich dann die Tatsache heraus, dass auch bischöfliche Gewissen im Vorzimmer des Papstes abgelegt werden können, sobald "von oben" eine andere Weisung erfolgt. Um solches Tottreten des Gewissens dennoch "guten Gewissens" vertreten zu können, wurde ausweichend vom "religiösen Gehorsam" gegenüber dem "Stellvertreter Gottes auf Erden" gesprochen.

Es ist hier nicht die Frage, wer Recht oder Unrecht hatte? Ob Frauen gedankenloser abtreiben ohne Beratung? Ob Beratung auf jeden Fall der Schulung des Gewissens dienlich gewesen wäre? Ob das Leben von Ungeborenen so oder so besser gerettet werden kann? Diese und andere Fragen waren im Vorfeld der staatlich-kirchlichen Weichenstellungen hinlänglich, wenn auch kontrovers, diskutiert worden. Sie bedürfen an dieser Stelle keiner Wiederholung. Die verheerende Langzeitwirkung des Streites um die Schwangerenberatung mit oder ohne Schein war und ist der erschreckende Eindruck, dass der offiziellen Amtskirche das persönliche Gewissen von Betroffenen nichts gilt; noch nicht einmal das von Bischöfen.

So war es schon im Mittelalter: das Gewissen der Leute war immer die nächste staatliche oder kirchliche Obrigkeit. Statt in der heutigen Zeit also den Betroffenen zu einem Gewissensurteil zu verhelfen; statt Kriterien an die Hand zu geben und Maßnahmen zu ergreifen, die der Schulung des Gewissens dienen - selbst auf die Gefahr hin, dass eine falsche Entscheidung getroffen wird - , galt wieder der Grundsatz: der Papst ist das Gewissen der Menschheit. Die Menschen brauchen eigentlich keins zu haben - höchstens eins in Abhängigkeit von der Obrigkeit...

5. Licht- und Schattenseiten eines großen Charismas.

Aus Anlaß des Todes von Johannes Paul II. ist viel über dieses die Massen bewegende Charisma diskutiert und geschrieben worden. Dieser Papst habe die Welt verändert, allerdings nicht die Kirche! Auch die Gründe für dessen Massenwirksamkeit wurden genannt: unübertreffliche Kunst der Selbstdarstellung; Fähigkeit des Umgangs mit den Medien; persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit...

Ein großes Charisma verführt andere dazu, sich zu identifizieren, sich hinter dem Größeren zu verstecken und selbst untätig zu bleiben. "Kleine Charismen" kommen in einer solchen Konstellation nicht zum Zuge. Ein Schattendasein führend, begnügen sie sich mit einem "geruhsamen Leben" - wohl ahnend und wissend, dass sie keine Chance haben. Daran knüpfen sich auch die Hoffnungen für die Zukunft: Erst nach dem Tod des großen charismatischen Führers käme für sie die Stunde; für die Gesamtkirche würden sich Perspektiven der Erneuerung und Initiative "von unten" ergeben...

Andere haben die Riesenzusammenkünfte von Massen im Zusammenhang mit den Auftritten des Papstes ziemlich naiv als neuerwachten Glauben vor allem auch bei der Jugend verstanden. Man könnte allerdings auch das Gegenteil vermuten: der immer mehr in Frage gestellte kirchliche Glaube, die neue Glaubensunsicherheit führt zu einer Art Rückkehr in eine vorchristliche archaisch-magische Religiosität. Diese ist durch eine kaum definierbare, fast unheimlich-mysteriöse Anziehungskraft an "heilige Personen oder Gegenstände" charakterisierbar. Es lebt in ihr eine große Sehnsucht nach etwas "ganz Anderem"; religiöse Inhalte und Gottesvorstellungen bleiben dabei nebulös und konfus.

Im Blick auf die Massenanhänglichkeit an den Papst stellen sich ähnliche Fragen: wer von den vielen weiß überhaupt etwas über dessen Programm und Politik? Wer will überhaupt dessen ethische und moralische Vorstellungen kennen? Und wenn ja - wie viele würden sie tatkräftig unterstützen und leben? Zeigt nicht die Erfahrung seit Jahren, dass Millionen zwar den Papst sehen, ihn aber kaum hören wollen? Die SZ hat den lapidaren Satz geschrieben: "In Rom ist das Gefühl an die Stelle des Gedankens getreten!"

Noch andere wichtige Fragen stellen sich: wie weit ist ein großes und strahlend-erfolgreiches Charisma noch fähig, andere Charismen zu akzeptieren und ernst zu nehmen? Wie oben dargelegt, gab es in den letzten 25 Jahren eine Vielfalt von Basis-Initiativen, denen es um die Zukunft der Kirche und des Glaubens ging. Sie alle blieben unbeachtet, wurden einfach "unter den Tisch gekehrt". Theologen wurde der Lehrauftrag entzogen; ganze Bischofskonferenzen wurden entmündigt; Laienbewegungen mit Verdächtigungen überschüttet - immer dann, wenn Entscheidungen "von oben" "unten" auf Kritik und Widerstand stießen. Verhängnisvolle Bischofsernennungen wurden nie ernstlich korrigiert, auch dann nicht, wenn sich rechtzeitige Warnungen und Widerstände später als zutreffend erwiesen...

6. Hauptsache ist: das "katholische Gesicht"!

Der gerade verstorbene Papst hat eine Kirche hinterlassen, in der die Stimme des Volkes, der sensus fidelium keine Rolle spielte. Wir haben eine Kirchenepoche erlebt, die keine "Kirche des Volkes" kannte, sondern eine Papst- und Klerikerkirche. War diese Epoche nur vorübergehend? Vielleicht ging es gar nicht anders, um nicht - wie Kardinal Ratzinger meint - gegenüber anderen christlichen Konfessionen das "katholische Gesicht" zu verlieren. Auch hat die Kirche eine 2000-jährige Erfahrung mit den Menschen. In der heutigen Massen- und Konsumgesellschaft stellt sich erneut heraus: die meisten Menschen wollen sich gar nicht der Mühe einer Allgemeinbildung unterziehen; sie lassen sich lieber von Schlagzeilen bestimmen als zu einem eigenen begründeten Urteil zu gelangen; sie wollen keine anstrengende Gewissensbildung und sind froh, wenn ein anderer für sie jede (religiöse) Verantwortung übernimmt...

Es scheint, dass das biblische Bild vom Hirten und der Herde (Joh 10.11-21) falsche Urständ gefeiert hat in dem Sinne, dass die meisten Menschen nichts anderes als "Herdenwesen" sind und sein wollen. Wenn es dennoch eine gewisse Schicht geben sollte, die kritisch mitzudenken und zu handeln bereit und fähig ist (und die gibt es !), dann wäre es die vorrangigste Aufgabe der nächsten Zeit, diese zu sammeln und nicht zu vertreiben. Einer "Klerikerkirche" stände es gut an - schon um des eigenen Überlebens willens - mit fähigen Frauen und Männern zusammenzuarbeiten und sie zum Zuge kommen zu lassen. Es wäre eine "Zeichen des heiligen Geistes".

Noch eine andere Frage stellt sich in Zukunft mit neuer Eindringlichkeit: ist die Wahrheitsfrage die wirklich entscheidende einer Religion oder nicht eher die Frage nach dem wahren Leben? Die Frage nach der Wahrheit mobilisiert seit Jahrhunderten die akademisch gebildete Schicht; sie hat viele Streitigkeiten hervorgerufen, Glaubenstrennungen und Glaubenskriege, Verurteilungen und Exkommunikationen... Die Frage nach dem wahren Leben könnte in der Tat viele Menschen guten Willens mobilisieren. Da geht es nämlich um die Praxis der Liebe, der Gerechtigkeit, der Toleranz; um die Fähigkeit zu gemeinsamem Zeugnis. Die erste Frage hat viel mit akademischer Gedankenakrobatik zu tun, mit Begriffen, Definitionen und scheinbar unwiderruflichen Klarstellungen; die zweite mit Lebenserfahrungen und christlichem Lebensstil - biblische Anliegen, an denen sich auch, vielleicht sogar besonders, die einfachen Leute zu beteiligen in der Lage sind.

Jesus wandte sich damals nicht in erster Linie an die "Klugen und Weisen"; er konzentrierte sich auf die Kinder, die Mühseligen und Beladenen... Diese verstanden als erste die befreiende Botschaft von Gottes erlösendem Handeln in einer unerlösten Welt.

 

 


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