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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Gedanken über ZeitenWende - WendeZeiten (X):
Aus der Vergangenheit lernen, um Zukunft zu gestalten.

Juni 2005

Bein Gang des Christentums durch die Geschichte von über 2000 Jahren hat es manche Höchstleistungen in Kultur, Kunst, gesellschaftlicher Prägung, Friedenssicherung, Philosophie und Theologie gegeben; aber auch beschämende Tiefpunkte: Religionskriege, Inquisitionen, Exkommunikationen und Bespitzelung Andersdenkender und Andersgläubiger... Im Laufe der Zeit hat sich das ehemals eine Christentum in Zehntausende Konfessionen, Sekten, freie Kirchen und Bewegungen vervielfältigt bzw. aufgesplittert – Symptome religiöser Emanzipation? Ausbrüche aus der selbstverschuldeten religiösen Unmündigkeit? Suche nach einer kirchlichen Gemeinschaft, die auf den Menschen zugeschnitten ist? Indizien dafür, dass eine noch so gut strukturierte Sozialgestalt von Kirche und eine perfekt durchdachte Theologie immer Gefahr laufen, "unten" nicht anzukommen?

Die Frage stellt sich in der Tat: ist das Akademiker-Christentum beim Volk jemals richtig angekommen? Während es in den sog. Zivilisationsländern gegen lebensbedrohende Schrumpfungsprozesse zu kämpfen hat, scheint es in Lateinamerika und Afrika aufzubrechen und zu gedeihen – vorübergehendes Aufblühen des abendländischen Export- und Auslaufmodells? Eines scheint für die Zukunft von größter Bedeutung: das Christentum muß, mehr als je zuvor, dem Menschen zu seiner Selbstfindung verhelfen. Der Einzelne muß seine Einmaligkeit und Originalität zu entwickeln und zu leben lernen. Wenn dem christlichen Glauben dies – auch "strukturell" – nicht gelingt, stellt sich für immer mehr Menschen die Frage: wozu ist er eigentlich noch gut?

Was heißt zunächst "Vergangenheit"? Um diese Frage zu beantworten, ist es angemessen, sich die Grundstrukturen der alttestamentlichen und neutestamentlichen Unheils- bzw. Erlösungsgeschichte in Erinnerung rufen. Hier einige Stichpunkte:

  1. Der Schöpfungsbericht erzählt von der Erschaffung der Welt und aller Lebewesen durch Gott. "Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war" (Gen 1.31).
     
  2. Der Sündenfall. Durch den Sündenfall ist Sand ins Getriebe der Schöpfung gekommen. Es wird "Feindschaft gesetzt" zwischen den ersten Menschen und ihren Nachkommen (Gen 3.15). Kain und Abel setzen eine Geschichte in Gang bzw. setzen sie fort, die gekennzeichnet ist von Tod und Verderben, Mord und Gewalt, Krieg und Friedensversuche ...
     
  3. Der lange Weg Israels zum Ein-Gott-Glauben. Es ist ein krisengeschüttelter und wagnisreicher Weg im Umfeld des Polytheismus. Um den Gefährdungen und Bedrohungen der Umwelt nicht zu erliegen, schließt Jahwe einen Bund mit Noach. Der Glaube des AT wird zum Bundesglauben, zum Bund der Freundschaft Gottes mit seinem Volk. Durch die zehn Gebote werden Regeln aufgestellt, die das Zusammenleben der Menschen mit Gott und untereinander verbindlich regeln (Ex 20).
     
  4. Die Propheten werden die großen Erzieher und Mahner zur Treue im Glauben an Jahwe und seine Anweisungen. Ihnen geht es nicht nur um "Glauben" und gläubige Festlichkeiten. Der Prophet Micha z.B. (740-700 v. Ch.) klagt mit Schärfe und Beharrlichkeit die Achtung der Menschenwürde und das Einhalten der Menschenrechte ein. Sie sind für ihn Grundlage und Maßstab der Verehrung Gottes. Er besteht auf der Rechtsordnung Gottes und beklagt das Versagen der politischen Amtsträger, die nur die Interessen des Staates und der Reichen im Blickfeld haben. Ein messianischer Neuanfang wird gefordert; ebenso eine neue ethische Ernsthaftigkeit beim Anspruch, "auserwähltes Volk Gottes" zu sein. Denn "es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist" (Micha 6.8). - Wie Micha, so sprechen auch die anderen Propheten Israels in eine singuläre und konkrete Situation hinein. Eindeutige Adressaten sind angesprochen und gemeint. In ihrer jeweiligen geschichtlichen Konstellation treten sie auf. Ihre Berufung als göttlich autorisiertes Wort verstehend, mahnen sie, richten sie, verheißen sie Unheil und Strafgericht. Sie lassen auch hoffen auf Segen und Heilszusagen. Die Weisungen Gottes immer wieder einschärfend, sind sie in ihrer Rolle "sowohl Gegenwartskritiker als auch Zukunftsansager" (E. Zenger). – Der Prophet Jesaja (8.Jh. v. Chr.) greift die großen Themen des biblischen Glaubens auf. Sie heißen Recht und Gerechtigkeit in Israel und unter den Völkern. Denn der "Heilige Israels" ist derjenige, der rettet und Frevler verwirft; der sich als Erlöser erweist und das Anbrechen der Herrschaft Gottes ankündigt...  – Was das um sein persönliches Schicksal ringenden Menschen betrifft, bleibt das Buch Job (600-400 v. Chr.) beispielhaft. Job ist Dulder und Rebell, Lästerer und Zweifler, Skeptiker und Provokateur zugleich. Er ist hin- und hergerissen zwischen Protest, Aufbäumen, Widerstand und Ergebung, Annahme und Vertrauen. Seine Frage nach dem Sinn des Leidens, besonders Unschuldiger, gipfelt in dem Bekenntnis: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" (19.25). Die Hoffnung auf den Erlöser bleibt der tragende Grund für seine Standfestigkeit im Glauben.
     
  5. Jesus gehört in die Reihe der großen Propheten. Authentisch, als Messias und Sohn Gottes, hat er menschennah und situationsgerecht deutlich gemacht, wie Gott an den Menschen und an der Welt handelt; wie der Friede Gottes und die "größere Gerechtigkeit" schon im Hier und Heute des Lebens ihren glaubwürdigen Anfang nehmen können. Seine Botschaft lautet: Liebe, sogar Feindesliebe, Barmherzigkeit den Armen und Bedürftigen gegenüber, Hilfsbereitschaft und Verzeihen, Güte und Menschenfreundlichkeit... Alle dies Werte und Lebenshaltungen sind alles andere als bloßer "Humanismus" oder "Horizontalismus". Sie stehen in einem größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang, weil sie als "Samenkörner" und "Sauerteig in der Welt" auf die Endgültigkeit des Reiches Gottes hin orientiert sind und darin ihre Vollendung finden.
     
  6. Durch die Hellenisierung fanden schwerwiegende Verschiebungen im Christentum statt – "bis an den Rand der Häresie" (H. Newman). Der christliche Glaube verbündete sich mit der griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles...). Die abendländische Intelligenz bemächtigte sich der Frage des Glaubens. Wie in der Philosophie, so trat auch in der Theologie das Denken über das "Gute, Wahre und Schöne" in den Vordergrund (Ethik und Moral, Dogmatik und akademisch-abstrakte Lehre, Ästhetik und liturgische Feierlichkeiten). Das Christentum entwickelte sich so zu einer Theologen-, Kleriker- und Spezialistenreligion, die lange Zeit die Massen mit "kirchlichen Angeboten" konkurrenzlos beeinflussen und bei der Stange halten konnte, heute aber immer weniger. Der zeitbezogene, situationsangemessene prophetische Charakter des Glaubens ging verloren. Er blieb "Einzelkämpfern" vorbehalten: Ordensgründern, Reformatoren, Außenseitern... Meistens hatten sie mit der "Amtskirche" erhebliche Schwierigkeiten...
     
  7. Folgenschwer war auch die Romanisierung des Glaubens, d.h. die Nachahmung des Staates durch die Kirche. Diese organisierte sich nach staatlichem Vorbild: monarchisch, patriarchalisch, hierarchisch, zentralistisch, fürstlich-autoritär... Man kann zu Recht sagen: die römisch-katholische Kirche ist die nahezu einzig gebliebene Monarchie – Relikt aus mittelalterlichen Konstellationen.

Wie immer diese unterschiedlich gewordenen Fakten geworden sind – sie passten in frühere Zeiten. Heute erweisen sie sich insofern als Hindernisse und Handicaps für die Kirche, als nicht mehr zu übersehen ist, dass sie den Kontakt zum Leben der Menschen, zu ihrem Denken und andersgearteten Gewohnheiten verloren hat. Der gesellschaftliche Einflussverlust der Kirche ist gewaltig; die Austrittsbewegung seit Jahren auf hohem Niveau... Ob diese Mängel durch religiöse Jugendfestivals oder zur Gewohnheit werdende Papstinszenierungen auf dem Petersplatz und anderswo beseitigt werden können, ist sehr zweifelhaft. Bisher zeigt die Erfahrung, dass sie dem Aufbau und Glauben der Gemeinden, wie die Apostelgeschichte sie beschreibt (16.5 u.a.), wenig dienlich sind. Masseninszenierungen fördern vielleicht eine sympathische Fernbindung an die Kirche und eine neue Religionsfreundlichkeit. Diese bleiben aber unverbindlich und beliebig; bringen exotische Erinnerungen und Nostalgien zum Ausdruck. Von einem ernsthaften Christentum kann jedenfalls nicht die Rede sein.

Auf dem bisher geschilderten geschichtlichen Hintergrund müssen wir wieder unsere Gegenwart sehen und beurteilen lernen. Nur wer die Vergangenheit kennt und im Auge behält, kann innerlich und äußerlich Abschied von ihr nehmen und angemessene Schritte in die Zukunft tun. Aus der Geschichte lernen – ohne sie zu wiederholen –  muß das Motto sein. Folgende Ziele und Leitlinien müssten das Christentum wesentlich bestimmen, wenn es die tragende Rolle wiederfinden will, die ihm von der Sache her zukommt:

  1. Das Christentum bzw. die Botschaft Jesu als Ganze müssen wieder als ethische Herausforderung begriffen werden. Seit Jahrhunderten haben wir das Christentum weitgehend dogmatisch auf seinen Wahrheitsgehalt hin untersucht; kirchenrechtlich nach innen strukturiert und nach außen abgesichert; rituell-liturgisch gefeiert und ästhetisch anziehend gemacht. Die Botschaft Jesu als "ethische Herausforderung" hat dagegen konkrete Fakten und Lebenslagen im Blick; ist eine Aufforderung an jede/jeden, sich den unmittelbaren Herausforderungen des Lebens zu stellen – mit offenen Augen und Ohren "reagieren" zu lernen auf das, was augenfällig notwendig ist. Wirkliche Notwendigkeiten erweisen sich normalerweise als Not wendend.
     
  2. Das christliche Glaubensverständnis muß wieder auf die Frage hin überprüft werden, wie weit es etwas zu tun hat mit der konkreten Lebensführung bzw. mit der Fähigkeit des "Reagierens" auf die Zeichen der Zeit. Gläubiges Handeln ist nicht das Konsekutivum aus einem wohl durchdachten Wahrheitsverständnis, sondern der Glaube wird konstituiert durch das Handeln selbst. Im Reagieren auf das, was Gott heute und jetzt mit einem vorhat, wird Glaube Antwort auf den Anruf Gottes. Glaube ist nur ein anderes Wort für: gelebte Liebe und Barmherzigkeit gegenüber einer zu erlösenden Welt und Menschheit. Im Blick auf Jesus ist Glaube die verbindliche Übernahme seiner Denk- und Handlungsweise in die eigene Lebenssituation.
     
  3. Gläubiges Handeln und Handeln aus dem Glauben gegenüber einer zu heilenden und zu erlösenden Welt kann nicht als "Horizontalismus" oder "bloßer Humanismus" abqualifiziert werden, wenn ihnen die heilsgeschichtliche Perspektive gegeben wird, die ihnen zukommt. Alles, was Christen "in Seinem Namen" denken oder tun, gleicht dem "Sauerteig", dem Samen, der, in die Erde gesät, im Hier und Heute zu wachsen beginnt und "Reich Gottes" ansatzweise entstehen läßt. Während den Christen das Säen aufgegeben ist, hat sich ein anderer das Wachsen und der Ernte vorbehalten – ein Vorbehalt, der Glauben schwer macht.
     
  4. Kirchlichen Gemeinschaften ist es aufgegeben, situations- und zeitgemäß Leben und Handeln aus dem Glauben der Welt exemplarisch vor Augen zu führen. Es geht nicht nur um die Pflege des Traditionellen und Herkömmlichen; nicht nur um die Aufrechterhaltung des Liebgewordenen, sondern vor allem auch um die Hellhörigkeit auf die "Zeichen der Zeit" und um die Fähigkeit, das Gebot der Stunde zu erkennen. Diesem Anspruch gilt es immer dann zu entsprechen, wenn die Ordnung unter den Menschen oder in der Schöpfung gestört ist. Gerade in "brisanten Angelegenheiten" gewinnt der prophetische Charakter der Religion wieder jenes Gewicht, wie es dem jüdisch-christlichen Charisma gegeben ist.

Eine sozial und traditionell strukturierte Religion – Ergebnis des Suchens und Fragens des Menschen nach Gott (religere; religare) – neigt dazu, sich als geistreiches, selbstsicheres Lehrsystem zu etablieren. Was dabei verloren zu gehen droht, sind ihre ursprüngliche Kraft und Frische: nämlich Antwort zu sein auf Mängel. Einer prophetischen Religion ist es aufgegeben, das Entsetzen über den Zustand der Welt und das unrechtmäßige Verhalten von Menschen laut kund zu tun.

Wie die Propheten des AT hat auch Jesus die Mängel aufgezeigt und zur Sprache gebracht. Er hat Verwunderung und Empörung unüberhörbar gemacht. Unrechtmäßige Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen, auch der religiös Mächtigen, hat er angeprangert. Seine Sprache war die des Bestreitens und Vermissens all dessen, was unakzeptabel und verloren war.

Eine solche prophetische Aufgabe wahrzunehmen, ist für Christen immer deshalb schwer, weil sie sich dabei an die eigene Nase fassen müssen... Auch "Kirche" kann von niemandem etwas verlangen, was sie nicht selbst glaubwürdig tut. Dennoch führt kein Weg daran vorbei: dem Menschen ist es aufgegeben, in einer unerlösten Welt der "größeren Gerechtigkeit" eine Chance zu geben und selbst dabei die Wahrheit zu tun . Durch seine Worte und Taten hat auch Jesus neue Hoffnung geweckt. Sie beeindruckten als Anfang einer "heileren, erlösteren Welt". Auch dem Menschen sind sie aufgegeben. Wie bei Jesus sind sie Ansagen einer Vision, die im Reich Gottes ihre Vollendung finden. Aus dieser Hoffnung heraus gilt es zu leben und zu handeln.
 

 


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