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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Die Religion kehrt wieder. Aber wohin geht die Kirche?

März 2003

1. Sakramentalität des Alltäglichen?

Es gibt eine Reihe von Gründen, die mich veranlassen, die hier vorgegebene Thematik mit einer Geschichte zu beginnen. Während die Gründe später angeführt werden sollen, hier zunächst die Geschichte. Sie stammt von HEINRICH BÖLL. Sie stellt eine Szene aus seinem Roman dar: "Der Engel schwieg". Nach dem zweiten Weltkrieg treffen ein junger Mann und eine junge Frau im zerbombten Nachkriegsdeutschland zufällig aufeinander. Er ist Kriegsheimkehrer und trägt Todesnachrichten für seine Heimat in der Tasche. Sie hat gerade ihr neugeborenes Kind begraben müssen, weil es nicht lebensfähig war. Er trägt ihr einen Mantel nach, den sie im Krankenhaus vergessen hatte. So ergibt es sich, dass sie zusammen bleiben, ohne eigentlich zu wissen warum. Nach einigen Wochen besiegeln sie den Prozess des Zusammenseins. Es entwickelt sich folgender Dialog:

"Komm, sagte er leise und hob sein Glas, du bist jetzt meine Frau, willst du es sein?
Ja, sagte sie ernst, ich will es.
Ich werde dich nicht verlassen, solange ich lebe.
Ich werde bei dir bleiben, ich freue mich.
Sie lächelten sich zu und tranken.
Ein guter Wein, sagte sie, sehr mild und schön.
Es ist Messwein, sagte er, ich habe ihn geschenkt bekommen.
Messwein?, fragte sie; er sah, dass sie erschrak; er rückte das Glas weg und sah sie an.
Keine Angst, sagte er und legte seine Hand einen Augenblick auf ihren Arm, es ist Wein, nur Wein. Glaubst du denn daran?
Ja, ja, sagte sie, ich glaube daran. Du nicht?
Doch ... Ich hatte auch Angst, jetzt nicht mehr."

Die Anspielungen, die hier gemacht werden, sind nicht zufällig gewählt. Da ist zunächst das Gespräch. Was sich die zwei jungen, kriegsgebeutelten Menschen aus Anlass ihres Heiratens zu sagen haben, ähnelt sehr dem Fragen und Antworten, die der Priester während einer Trauung stellt bzw. wie sie von Braut und Bräutigam beantwortet werden. Ebenso ist da der Messwein, den die beiden trinken. Was damit von dem Katholiken BÖLL zum Ausdruck gebracht werden soll, bedarf eigentlich keinen Kommentars: was zwischen zwei Menschen geschieht, mitten im Alltag, in einer vom Krieg halb zerstörten schäbigen Wohnung, ist ein sakramentaler Vorgang. Der Wein ist nicht einfach Nahrungs- und Genussmittel. Was in jedem Gottesdienst aufleuchtet oder aufleuchten sollte, geschieht hier: wo Menschen sich in Liebe einander zuwenden, kann man sich auch der Zuwendung Gottes sicher sein. Gottes Präsens ist nicht an eine religiöse Amtsperson, an einen sakralen Raum oder eine dafür vorgesehene "heilige Zeit" gebunden. Wo religiöse Menschen in "seinem Namen" zusammen sind, bekommt alles Profane eine sakramentale Tiefe. Das Sakrale wird in den Alltag hinein humanisiert.

2. Die Gründe

Damit wurden aber auch schon einige Gründe angedeutet, warum meinen Überlegungen diese Geschichte vorangestellt wurde. Sie passt in eine Entwicklung, die sich seit dem immer deutlicher abzeichnet. Während man früher immer gerne davon ausging, alles "Unkirchliche", "Kirchenkritische" und Kirchenabständige als "unchristlich", "ungläubig", atheistisch und säkular zu bezeichnen, vollzieht sich heute ein Wandel: was unkirchlich, unkonfessionell und säkular ist, muss nicht unbedingt unreligiös und ungläubig sein. Während es früher "in" war, Atheist zu sein, bricht das Religiöse heute überall wieder durch, wenn auch - aus der Sicht der Theologie - in unklarer, konfuser, nebulöser Gewandung. Oder kehrt, nachdem die großen Religionen und Konfessionen an Anziehungskraft verlieren, die archaische Religiosität wieder zurück?

Manches spricht dafür, wenn man bedenkt, dass für die Asteken das Ballspiel eine religiöse Abhandlung war; dass die Olympischen Spiele ihren Ursprung in der Götterverehrung haben; dass das Theater bei den Griechen mit Kult und Ritualen verbunden war, die Bezüge zur Sinnebene jenseits des Alltäglichen eröffneten; dass heute Sport, Werbung, Kunst und Kultur vielfach als rituell aufgeladen erscheinen - zunächst einmal als ästhetische Überhöhung und Sinnerfüllung des Diesseits, weniger als Verweis auf eine jenseitige Welt. Wie wäre dieser Verweis biblisch, christlich, kirchlich neu zu bewerkstelligen?

Um noch einmal auf HEINRICH BÖLL zurück zu kommen, hier einige Bemerkungen:

  • Da ist ein katholischer Schriftsteller, der sich ein Leben lang nicht nur wundgerieben hat am sogenannten "katholischen Milieu", sondern schließlich auch aus der Kirche ausgetreten ist, ohne es aufzugeben, weiterhin nach der Substanz des Christlichen zu fragen und darum zu ringen. Eine ZDF-Studie aus den Jahren 1994/95 mit dem Titel: "Die Kirche wickelt sich ab - und die Gesellschaft lebt die produktive Kraft des Religiösen" heißt es: "Das Kreisen um die immer gleichen Themen lähmen die Kirche und verschwenden pastorale Energien". Shell-Studien seit 20 Jahren und andere religions-soziologische Untersuchungen bestätigen immer mehr: Vor allem die "jüngere Generation" bis zu 50-60 Jahren reibt sich an "Kirche" nicht mehr wund, sie kehrt ihr lautlos den Rücken.
  • HEINRICH BÖLL bezeichnet das "katholische Milieu" als isoliert von der übrigen Gesellschaft. Was aus der Sicht der Sakramententheologie - wenigstens seit der Zeit der Scholastik - als "häretisch" und "ketzerisch" angesehen werden muss, führt er in seine Geschichte ein: die Wirksamkeit der Sakramente hängt nicht unbedingt vom "ex opere operato" einer Amtsperson ab. Gottes Anwesenheit im Leben von Menschen hat auch recht wenig mit Weihevollmachten oder pünktlichen Wandlungsworten zu tun. Gott ist mit seinem schöpferischen und erlösenden Wirken seinen Geschöpfen immer nahe. Es kommt nur darauf an, dass auch der Mensch sich Gott zu nähern vermag. Als Ahnen, Hoffen und Sehnen geschieht dies offensichtlich in "privilegierten Lebens- und Alltagssituationen", was laut ZDF-Studie das Entstehen der "Zivilreligion" erklärt.
  • Damit stellt sich die Frage nach dem Wesen der Religion überhaupt. Herkömmlich wird der Begriff aus dem lateinischen "religere" (Cicero) oder "religare" (Laktanz) abgeleitet und meint im allgemeinen die "Verbindung des Menschen zu Gott"; das Bezogensein des Menschen auf das Unendliche; das sorgfältige Beobachten der Gottesverehrung bzw. deren Anerkennung. Selten oder gar nicht kommen in solchen Beschreibungen die Gründe und Ursachen zur Sprache, die den Menschen bewegen, seine Existenz überweltlich zu begründen
    Etablierte und verbürgerlichte Religionen neigen vielfach zum "Fascinosum". Der Hang zum Schönen, zum Staunen, zum Feierlichen... wird dann übermäßig kultiviert. RUDOLF OTTO hat bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts diesen Hang mit dem "Tremendum" korrigiert. Für ihn steht am Anfang der Religion nicht nur das Staunen, sondern auch das Entsetzen über den Zustand der Welt. Religion und religiöse Aufbrüche haben immer zu tun mit der Weigerung, einverstanden zu sein mit einem Leben, auf das am Ende nur der Tod wartet. Ein religiöser Mensch ist demnach jemand, der Mangel leidet und empört ist über stets auftretende Formen von Hass und Egoismus, über soziale Ungerechtigkeiten und Kriege, schlicht über alle Unrechtmäßigkeiten, wo und wie auch immer sie auftreten. Deshalb sind dessen eigentliche Motoren und Vorantreiber nicht die Philosophen und offiziellen Religionsvertreter, die auf theologische Sicherheit aus sind, sondern die Reformatoren, die Ekstatiker und Exzentriker, die Utopisten und Visionäre, die Mystiker und Propheten. Oft werden sie zu Lebzeiten als verrückt erklärt, weil angeblich mit dem Ausweis von Realitätsverlust ausgestattet. Manche von ihnen haben sich zu späteren Zeiten als größere Realisten herausgestellt als deren Kritiker.

Wo nach HEINRICH BÖLL "Religion" kultiviert wird, isoliert vom wirklichen Zustand der Welt und des Menschen, da halten deren Vertreter allzu schnell "Sicherheitsmessen"; sie benutzen die Religion "zur Absicherung ihrer Unangefochtenheit". Sakrale Rituale werden leicht zu Mitteln der Selbsterhöhung und der Selbstvergötzung. Gefangen im "religiösen Sicherheitswahn" (MARTIN BUBER) werden Anfragen und Infragestellungen von außen verhindert. Bei den Menschen soll gewollt oder ungewollt der Eindruck hinterlassen werden, dass Gott ihnen in der Nähe der Religionsvertreter bzw. in der Kirche am nächsten ist. In der ZDF-Studie heißt es lapidar: "Die Theologie funktioniert nicht mehr, weil sie die falschen Fragen stellt". Und: "Die kirchliche Bild- und Symbolsprache kommt der Entwicklung der Gesellschaft nicht nach".

Die Szene HEINRICH BÖLLS versucht, diesen Mangel zu beheben. Dazu erfindet er neue Zeichen, andere sakramentale Rituale, alternative Heiligengeschichten. Der graue Alltag wird durch neue Sakramente gewürdigt. Sie entstehen überall da, wo "Menschwerdung" konkret geschieht. Indem er das Zentrale des Christentums, dessen Ursprung und Kraft anmahnt, ist für ihn Jesus Christus inkognito anwesend: unerkannt von der Welt und von der Kirche. Jesuanische Identität und sakramental-mystische Frömmigkeit ereignen sich überall da, wo im Sinne z.B. der Gerichtsrede Jesu (Mt. 25.31-40) durch Menschen etwas Tröstendes, Heilsames, Erlösendes geschieht; wo "Glaube" an seinen Früchten zu erkennen ist (Mt. 7.16). Wo Menschen in der Tiefe ihrer Existenz getroffen und in den Wurzeln ihres Daseins erschüttert werden, da geschieht weniger die "Verwandlung von Brot und Wein", sondern die Verwandlung der Herzen, des Denkens, der Verhaltensweisen. Erst wo dies geschieht, wird die Feier von alten und neuen Sakramenten sinnvoll. Sie hören auf, als religiöse Sonderveranstaltungen bodenlos in der Luft zu hängen.

Wenn es in der ZDF - Studie heißt, die Theologie müsse sich aus dem "Ghetto der Kirchen-Wissenschaft befreien"; sie müsse auch eine Sensibilität für die heutige Individualisierungsdynamik mit ihrer Größe und Tragik entwickeln; sie müsse aus dem behüteten Raum von Sakristeien und Bildungshäusern heraus treten und im rauhen Wind der Marktplätze die gesellschaftlichen Veränderungen hautnah erleben, wie auch die Sehnsucht des Menschen nach Selbsttranszendenz, Transzendenzhoffnung und neuen Symbolen, dann stellen sich mit Recht die Fragen, ob solche Forderungen und Denkweisen nicht doch mehr mit ursprünglich biblischem Denken zu tun haben, als mit gewohnt theologisch-kirchlichem; ob sie nicht eine Rückkehr zum Wesen der Religion bedeuten und zu dem hinführen (müssen), was AUGUSTINUS (†430) mit dem für seine Zeit realistischen Tatbestand ausgedrückt hat. Nach ihm gibt es Hunderte von Sakramenten, d.h. sakramentale Begegnungen des Menschen mit Gott und Gottes mit den Menschen.

3. Die Wiederentdeckung der Sakramentalität des Lebens.

Man darf das Phänomen der religiösen Aufbrüche in der säkularen Gesellschaft (noch) nicht allzu hoch hängen. Dennoch könnte man es vorerst beschreiben als einen Prozess, in dem Religion und religiöses Leben in die unmittelbare Nachbarschaft mit Lebens-Erfahrungen gerückt werden. Oder anders ausgedrückt: Nachdem sich die Kirche seit ca. 1000 Jahren auf den Vollzug und die Praxis von sieben Sakramenten reduziert und konzentriert hat, traut "die Welt" immer weniger dieser lebensarmen Liturgie und Symbolik. So reich sie im kirchlichen Sinne auch sein mögen - oft leben sie doch an dem vorbei, was das Leben in seiner Vielfältigkeit ausmacht und was "Religion" wesentlich ist: Betroffensein, Sehnsucht nach einem ganz Anderen gerade in den absurden Erfahrungen des Lebens. So riskieren offizielle kirchliche Riten, dass Religion und Glaube auf "Sonntäglichkeit", Feierlichkeit und Gelegentlichkeit reduziert werden. In der Markenartikelindustrie entwickelt sie eine eigene spirituelle Prägung des Alltags, die bis in kirchlich orientierte Kreise und Gruppen hinein ihre Langzeitwirkung nicht verfehlt. Ihr Auszug aus der Gefangenschaft "heiliger Zeiten", heiliger Räume, heiliger Personen ist ein markantes Signal. Konkrete Beispiele belegen diesen "Auszug" aus dem Herkömmlichen, wobei sehr oft sogar der Eindruck entsteht, als kehrten viele Christen problemlos zu der Vorstellung AUGUSTINS von den "Hunderten von Sakramenten" zurück und damit sogar zu einem biblischen Denken, welches traditionelle Theologie bis in die Wurzeln hinein reduziert.

So berichtet die Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" (18/1999, 143) von den Sohn, der am Bett seines sterbenden Vaters sitzt. Alle möglichen Bilder und Erinnerungen an frühere Zeiten gehen ihm durch den Kopf. Dabei entwickelt sich folgende "Liturgie" :

Er fühlt seinem Vater den Puls, der einen wilden Rhythmus schlägt, als fühle er sich an keine Ordnung mehr gebunden. Welche Überraschung, wenn der Vater aus seinem Morphiumschlaf auftaucht, die Augen aufschlägt, gar lächelt. Und dann formen seine Lippen ein paar Worte. Klar kommen sie und bestimmt: "Ich möchte eine Krankensalbung". Der Mann schaut seinen Vater verblüfft und etwas ratlos an. Muss man einen Priester holen? Ist es dafür nicht schon zu spät? "Ich weiß nicht, wie das geht", sagt der Sohn. Der Vater antwortet: "Lass dir etwas einfallen."

Der Sohn geht in die Küche und kommt mit einer Flasche Salatöl zurück. Einen Moment hält er inne und fragt sich: "Darf ich das?" Da öffnet der Vater ein Auge und nickt ihm zu. Der Sohn zündet eine Kerze an. Seine Bewegungen sind langsam, bedächtig, als wolle er Zeit gewinnen. Er macht ein Kreuzzeichen, gibt etwas Olivenöl auf seine Finger und beginnt erst die rechte Hand des Vaters zu salben, dann die linke. Schließlich streicht er dem Kranken mit der öligen Hand über die Stirn. Dabei singt er ein "Salve Regina", das der Vater besonders liebt. Ein "Vater unser" und Psalm 27 beschließen die Zeremonie: "Ich aber bin gewiss, zu schauen die Güte des Herrn im Land der Lebenden. Hoffe auf den Herrn, und sei stark. Hab festen Mut und hoffe auf den Herrn!"

Zwei Menschen feiern hier "Liturgie". Der Vater als der Ältere scheint noch von kirchlichen Vorgaben und Gewohnheiten geprägt; der Sohn weiß nicht, "wie das geht". Trotzdem besinnt er sich - in einer archetypischen Geste - auf das Öl, welches im alten Heidentum immer schon ein Mittel des Heilens und der Genesung war, mit religiösem Anstrich. Handelt er hier als Christ oder als "neuer Heide"? Jedenfalls wird das Olivenöl der Küche in diesem Augenblick der rein profanen Bestimmung enthoben; es wird zu dem, was archaische Religionen schon immer praktizierten: zu einem Ritus, der auf etwas ganz Anderes verweist.

Diese Geste, theologisch und kirchlich allzu schnell als "allgemeines Priestertum ... in einer Notsituation" zu interpretieren, wäre falsch und verhängnisvoll, weil die eigentliche religiöse Dynamik vorschnell vereinnahmt und letztlich auch entkräftet würde. In der genannten Zeitschrift wird an anderer Stelle von heidnischen Fruchtbarkeitsriten und -kulten gesprochen, die später, von der Kirche übernommen, christlich umgedeutet und getauft wurden. Ihre Zeichen sind Prozessionen, Blumen, Kerzen, Brot und Wein. Als schöpfungsbezogene Rituale setzen sie den gesamten Kosmos gegenwärtig. Sie haben zugleich mit lebensbezogenen Situationen zu tun. Die Menschen besinnen sich spontan auf sie bei Naturkatastrophen, bei Zugunglücken und Flugzeugabstürzen, in bedrohlichen Lebenslagen, in denen es um Krieg und Frieden geht, Gewalt und Terrorismus, Leben und Sterben. Wenn es in dem Artikel heißt, dass auch Jugendliche einen Sinn für solche Zeichen und Symbole haben, dass sie bei der Feier schöpfungsbezogener Riten alle "ihre Räder abstellen, ihre Skateboards weglegen und (wie alte Männer) ihre Nasen an die Glasscheiben drücken" (Seite 151), dann ereignet sich eine neue Offenheit für das Religiöse, die wohl kaum auf sieben Sakramente reduziert werden kann.

Viele andere Beispiele belegen den fließenden Übergang von kirchlich gültigen Sakramenten, hinter denen eine Amtsvollmacht steht, und lebendigen Zeichen, die das konkrete Leben widerspiegeln und gleichzeitig über das Alltägliche hinaus weisen. Da gibt es die vielen Krankenbetreuer und Laienseelsorger, die aus ihrer Erfahrung zu berichten wissen, dass die von ihnen betreuten Kranken und Sterbenden in Gesprächen über Gegenwärtiges und Vergangenes im Leben schon vielfach bei ihnen "gebeichtet" haben. Warum also zum Schluss noch einen "Blaulichtpriester" einfliegen, der fremd und unbekannt ist, der zu den Kranken keinerlei Vertrauensbasis aufgebaut hat bzw. aufbauen konnte? Warum von ihm noch eine Sündenvergebung erbitten, die doch schon längst geschehen ist unter dem Anspruch der Vater-unser-Bitte: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern..."?

Da gibt es die Bibel- und Gesprächsabende in den Gemeinden, die als "Sakramentalität des gemeinsamen Bibellesens" (HIPPOLYT) empfunden werden und nicht mehr darauf warten, dass die hier wachsende "Ökumene" lehramtlich abgesegnet wird. Da sind die Religionslehrer, die religiöse und ethische Anliegen mit den Jugendlichen zusammen in der Schule zur Sprache bringen und denen höhere Kompetenz in Sachen des Glaubens zugesprochen wird als dem "geweihten Priester". Diesen mögen an Sonntagen die Eucharistiefeiern zugestanden werden, wozu aber regelmäßige Bibelleser bzw. eifrige Schüler nicht unbedingt einen Zugang finden. Wie von diesen zu erfahren ist, finden sie bei Religionsunterricht und Bibelabend Impulse genug, um das leben meistern und leben zu lernen.

In diesem Zusammenhang sind die viel diskutierten und kirchlich umstrittenen "Wortgottesdienste" zu erwähnen. Priesterlose Gottesdienste am Sonntag: gültige Gottesdienste? Mit oder ohne Kommunionausteilung? Werden sie nicht allzu schnell mit Euchristiefeiern verwechselt?

Das meint z.B. ERNST DASSMANN, Professor für alte Kirchengeschichte. Er steht nicht unbedingt in dem Ruf, ein "progressiver " oder "modischer" Theologe zu sein. Aber er ist - in Blick auf den Wandel der Zeit - realistisch genug, um Folgendes festzustellen:

"Ob eine Gemeinde das Recht auf Eucharistie hat oder nicht, mag so oder anders beantwortet werden, de facto wird es dazu kommen, dass sogenannte priesterlose Gottesdienste immer mehr die Form von Eucharistiefeiern annehmen werden." Und: "Viele Gläubige wird die Frage nach der Wirksamkeit eines von einem nichtgeweihten Priester gesprochenen Hochgebetes und Einsetzungsberichtes nicht sehr bedrängen. Ein gut gestalteter Gottesdienst ist ihnen wichtiger als die nicht wahrnehmbare Wesensverwandlung der eucharistischen Gaben."

Was bei der Wiederentdeckung der Sakramentalität des Lebens entscheidend ist, soll hier noch einmal zusammenfassend festgestellt werden:

  • Religiöse Aufbrüche haben mit Lebens- und Grenzerfahrungen konkreter Menschen zu tun. Wo sie sich zeigen, finden sie auch schnell und unerwartet zu einer Sprache und Symbolik, die mit den angestammt kirchlichen Sakramenten und Sakramentalien nicht unbedingt identisch sind, ihnen zum Teil sogar fremd und feindlich gegenüberstehen.
  • Unabhängig von kirchlichen Vorgaben führen sie an eine Grenze heran, die "Transzendenzerfahrung" bedeuten mitten in der Immanenz dieser Welt. Diese "Grenze" veranlasst dann "Laien", sich für religiöse Anliegen zu engagieren und, sofern noch kirchlich interessiert, als "viri probati" Amtsvollmachten zu beanspruchen. Sogar Frauen wissen sich dann "priesterlich berufen".
  • Entweder führt diese unmittelbare Transzendenzsuche wieder zu einer archaischen bzw. "neuheidnischen Religiosität", wofür Bewegungen wie "New Age", "Okultismus", "Spiritismus"... Zeugen sind. Oder sie werden kirchlich unterschiedlich aufgefangen. Dabei entsteht eine "Ökumene" aus vielen Kirchen; die eine Kirche Jesu Christi entfaltet sich in vielen gleichberechtigten Kirchen.

Weil sich die einen in wichtigen Fragen so und die anderen anders entscheiden - z.B. was die viri probati angeht, das Frauendiakonat oder das Priesteramt für Frauen - , wird es in Zukunft wohl ein sehr vielgestaltiges, spannungsgeladenes "ökumenisches Christentum" geben. Weil sich die einen begründet positiv und die anderen begründet negativ in wichtigen Fragen entscheiden, eröffnen sich wie nie zuvor alternative Möglichkeiten des Glaubenslebens und des Kircheseins. Mehr denn je zuvor sind gläubige Christen auf die zentrale Frage verwiesen, welche Konfession mehr oder weniger auf dem Weg der Wahrheit des Evangeliums ist bzw. im Auftrag der Verkündigung der Reich-Gottes-Botschaft steht. Persönliche Optionen und Gewissensentscheidungen werden die Zukunft des Christentums und des Religiösen überhaupt bestimmen. Persönliche Gründe und Motive werden zu unterschiedlichen Weichenstellungen Anlass geben und dazu verleiten.

4. "Säkulare Religiosität" oder : Gott ist größer als die Kirchen

Es müssten an dieser Stelle alle religions-soziologische Untersuchungen genau unter die Lupe genommen werden, die es seit dem zweiten Weltkrieg gibt: die Allensbacher, die Jörns-, Shell- Studien usw. Sie alle signalisieren den Untergang der herkömmlichen Kirchen. Dieser wird nicht nur deutlich markiert durch ihren nachlassenden gesellschaftlichen Einfluss, sondern vor allem auch durch die fehlende Akzeptanz ihrer Lehren. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: ob jemand getauft ist oder nicht; ob Gott dreifaltig ist oder nicht; ob jemand kirchlich gebunden ist oder nicht; ob es eine Auferstehung gibt oder nicht - das alles scheinen völlig sekundäre Fragen geworden zu sein, sei es, dass man sie ohnehin nicht rational begründen kann, sei es, dass sie fürs Leben unwichtig geworden sind und "nichts taugen". Es müssten von konkreten Lebenserfahrungen aus Mittel und Wege gefunden werden, die den Zugang zu Glaubensinhalten eröffnen, die weniger "philosophisch" sind als existentiell; weniger "doktrinär" als fragend, suchend, hoffend... Dabei ändert sich auch das Gottesbild der Theologen und der Amtsinhaber: Gott steht nicht als Erfüllung und Vollendung am Ende eines Weges, der von Sieg und Niederlagen, von Erfolgen und Misserfolgen, von Hochs und Tiefs geprägt ist. Er ist kein behaupteter Gott, sondern ein im Leben Erahnter, Erhoffter, Ersehnter. Es geht um den "Gott mitten unter uns", der als Lebensbegleiter und Lebenskraft gerade in schwierigen Zeiten erfahrbar wird.

In Umbruchszeiten ist es auf den ersten Blick verständlich, dass sich die Kirchen konzentriert auf sich selbst besinnen, auf das, was sie zu vertreten haben bzw. vertreten wollen. Die Gefahr dabei ist, dass sie sich dabei immer mehr in ein Getto begeben, sich in ihrer Mentalität und Denkweise von Zeitläufen isolieren und abkoppeln. Im Beschwören der Gefahr des "Zeitgeistes" wird dann noch - eine Zeitlang - der Rest der Ängstlichen und Unbedarften gebunden. Beim ewigen Wiederholen von stets gleichen Inhalten werden Schöpferisches und Zukunftsträchtiges verhindert. Die Kirchen fangen an, sich als Museen zu verstehen und zu benehmen. Bei bestimmten Anlässen der Feierlichkeit wecken sie nostalgische Gefühle und Erinnerungen. Aber es fehlen der Saft und die Kraft dessen, was verbal als "frohe Botschaft" verkündet wird.

Ein Beispiel für die Selbstisolierung von der übrigen Welt ist die Reaktion eines Pfarrers auf die Shell-Studie des Jahres 2002. In einer großen Zeitung hat er sich folgendermaßen dazu geäußert: Bei der Jugendstudie zeige sich eine wertvolle Mischung aus altbewährten und mehr oder weniger neuen Werten. Ordnung, Kreativität, Geselligkeit, Ehrgeiz, Lebensfreude, Eigenverantwortung, Toleranz, Wohlsein in der eigenen Familie - sogar im Rebellionsalter - seien "in". Tragisch bei allem sei es allerdings, dass der Glaube de facto kaum eine Rolle spielt. Ob wohl die Eltern daran schuld seien, weil sie keinen Wert darauf legen? Und die Frage wird gestellt: "Wer hilft den Eltern bei ihrer Sinn- und Wertesuche?" -

Auffallend bei diesem Artikel ist, dass am Anfang wohl von vorhandenen Werten gesprochen wird. Dann aber die Feststellung des fehlenden Glaubens und der fehlenden Wertesuche. Was ist da mit "Glauben" gemeint? Welche Werte werden vermisst? Wie auch in anderen Zusammenhängen deutlich wird: gemeint ist der dogmatische Glaube der Amtskirche. Und die fehlenden Werte heißen Eucharistie, Beichte, übrige Sakramente, tägliche Gebete usw. Wenn der Verfasser feststellt, dass Parteien und Gewerkschaften bei Jugendlichen mit Pauken und Trompeten durchfallen, weil das Gefühl vorherrschend ist, "dass es vor allem um Machterhalt und Parteistrategie geht", dann kommt er gar nicht auf die Idee, dass auf andere Weise bei den Kirchen ähnliche Mechanismen eine Rolle spiele könnten: Macht- und Einflusserhalt einer klerikalen Oberschicht durch deren großen Vorschuss an "systematischem Glaubenswissen", durch Treue- und Gehorsamsgelöbnisse, verbunden mit dem Deligieren des eigenen Gewissens an obere kirchliche Instanzen...

Viele andere Beispiele der Selbstisolierung könnten noch genannt werden. Aus eigener Erfahrung könnten hier Mechanismen der "Gemeindeerneuerung" beschrieben werden, wie sie in manchen deutschen Städten seit Jahren Anliegen sind. Da werden vielfach Fragebögen an alle Anwohner verteilt mit den ähnlichen Ergebnissen, wie die oben genannte Shell-Studie sie zeigt. Die Leute sagen dabei sehr klar, was ihnen fürs Leben an Werten wichtig ist. Wenn es aber in einer späteren Phase darauf ankommt, die Gemeindeerneuerung konkret zu organisieren und durchzuführen, dann stehen kircheninterne Wertvorstellungen "als einsame Spitze" im Vordergrund: Eucharistiefeier, Gebet und Meditation, Zölibat und hierarchisches Amtsverständnis von "Kirche und Gemeinde".

Man könnte die Situation auf die Formel bringen: im Blick auf den Werte- und Strukturwandel der Gesellschaft befindet sich die Kirche in der Gefangenschaft ihrer eigenen Prioritäten. Ihre Kirchen- und Konfessionsethik konzentriert sich auf die Etablierung, Strukturierung und Erhaltung der Kirche, so wie sie ist. Im Zentrum der Predigt und des pastoralen Handelns stehen "Initiation" und "Sozialisation" der Gläubigen. Als "sociatos perfecta" hängt das Heil der Welt von ihr ab; von ihrer Belehrung und von der Akzeptanz dieser Belehrung; von der klar und eindeutig formulierten und vorgelegten "Wahrheit", die von Spezialisten, Experten und "Lehramt" so präsentiert und vorgetragen wird, dass sich alle ihr unterzuordnen und zu gehorchen haben. Alles was davon abweicht, wird isoliert, verdächtigt und an den Rand des Geschehens gedrängt. Was sich allzu sehr "weltlich" gebärdet, ist mit Vorsicht zu genießen. Der "Zeitgeist" ist wohl der größte Feind und die größte Versuchung, die Menschen sogar der Kirche vom rechten Weg abbringen. Das "Führe sie nicht in Versuchung" wird der Anlass für Maßregelungen, Zurechtweisungen und Rettungsaktionen, die verhindern sollen, dass Menschen der Kirche und damit auch Gott verloren gehen.

Während sich auf der einen Seite der "Kirchenerhalt" als wichtigste Priorität herausstellt, wird der Blick verstellt für das, was man als "Reich-Gottes Ethik Jesu" bezeichnen könnte. Ziel und Mitte dieser Ethik sind das Ganze der Welt, das Wohl und Heil der ganzen zu erlösenden Menschheit (Röm. 8.18-30; Kol. 1.12-20).Da das Reich Gottes immer schon im Werden und Wachsen ist, gilt es alle Menschen "guten Willens und seiner Huld" zu mobilisieren, die im Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen ihren Beitrag zu leisten vermögen. Deshalb ist das ganze Evangelium voll von Beispielen, an denen man modellhaft und exemplarisch erkennen kann, wie "Reich Gottes" jetzt schon seine Wirksamkeit entfalten kann. Dabei spielen "humane Werte" eine große Rolle: die Praxis der Liebe, der Feindesliebe, der Barmherzigkeit, der "größeren Gerechtigkeit", des Verzeihens, der Sündenvergebung und der persönlich verantworteten Freiheit. Wo dieser Werte-Katalog Jesu, für das Leben von einzelnen wie für das Heil der Welt gleichzeitig wichtig, praktiziert und eingehalten wird, da gleicht das Reich Gottes einem Acker, auf dem viel Gutes zu sprießen beginnt. Und das Volk von Priestern und Propheten (1Petr. 2.9; Apg. 2.17f) wird ein Volk von Sähleuten, die guten Samen sähen, das im Reich Gottes seine Früchte trägt (Mt. 17.16f).

Theologische Spekulanten neigen dazu, das Christentum auf diese Weise als "Ethik" reduziert zu sehen. Sie ignorieren dabei, dass deren Weichenstellung bereits von der Verkündigung Jesu ausgeht. Sie sprechen gerne vom "gefährlichen Horizontalismus" und bloßen "Humanismus". Deshalb wird auch jede Wertesuche in der "säkularen Welt" und das Ausfindigmachen solcher Werte kirchlich als nicht besonders wichtig und akzeptabel eingeschätzt. Dennoch besteht kein Zweifel: die Reich-Gottes-Predigt Jesu konzentriert sich auf die Praxis "humaner Werte". Aber sie sind weit weg vom theologischen Spekulantentum. Jesus stellt deren gelebte und getane Praxis in den größeren Zusammenhang der Vorhaben Gottes mit der Welt und Menschheit. Diese sind nicht "konfessionell" unterschieden; nicht "religiös" gebunden. Bei der Proklamation des Reiches Gottes geht es letztlich um den Anfang der Heimholung der ganzen Schöpfung in das von Gott gewollte Heils- und Er-lösungsgeschehen. Wo es um die "Sache Gottes" mit der Menschheit geht, da gelten nicht mehr herkömmliche Schranken zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau. Es geht um die persönliche Würde des Einzelnen, um seine Größe und Tragik, um seine persönliche Berufung und Verantwortung (Gal. 3.28).

Was den von vielen theologischen Spekulanten gefürchteten "Humanismus" und "Horizontalismus" Jesu betrifft, so sei nur auf die vielen Wunder hingewiesen, die im Evangelium gewirkt werden; auf Jesu Verhalten gegenüber dem Hauptmann von Kapharnaum; gegenüber der Sünderin, die dabei war, von den "Gerechten" gesteinigt zu werden; gegenüber dem sündigen Bruder (Mt.18.15-20); dem verlorenen Sohn (Lk. 15.11-39); dem verlorenen Schaf (Lk. 15.3-7) usw. Die Tatsache, dass die Kraft und Dynamik des Anfangs nicht von einer klugen systematischen Lehre bzw. Philosophie oder vom unabdingbaren Kirchenrecht bestimmt war, sondern vom "Tun der Wahrheit", von der gelebten Caritas, ist und wird wieder eine enorme Herausforderung für Amt und Kirche, für jede christliche Existenz.

5. "Säkulare Religiosität" - dem Leben nah und fern von der Lehre.

Manchmal ist es gut, sich von "Außenstehenden" ein "Feedback" geben zu lassen, um als Kirchen-Interner von der eigenen Betriebsblindheit befreit zu werden. MAHATMA GANDHI, der sich sein Leben lang mit dem Christentum beschäftigt hat, aber selbst nie Christ wurde, hat seine Außenansicht auf den Punkt gebracht: "Man möge mir zu sagen erlauben, dass Jesus keine neue Religion, sondern ein neues Leben predigte". - Und FRITZ PLEITGEN, freier Journalist und seit 2001 Vorsitzender der ARD, schreibt einen Brief an das "liebe Christentum". Hier der Wortlaut:

Liebes Christentum,

was mir an Dir gefällt: Der Mensch, der Dich verursachte, hat kein Buch geschrieben, keinen Katechismus, keinen Katalog von Glaubenssätzen, keinen Codex kirchlicher Verwaltungsvorschriften. Das ist erstaunlich riskant. Es ist geradezu tollkühn. Da kommt ein unbehauster Wanderprediger und sagt von sich, er sei "der Weg, die Wahrheit und das Leben" und schreibt nicht einmal ein Buch, in dem alles authentisch und dauerhaft verzeichnet wäre. Was tut er statt dessen? Er sorgt für ein paar Ereignisse und erzählt Geschichten, die jeder auf seine Weise verstehen oder missverstehen kann. Er tröstet und heilt, er ermutigt und befreit, er glaubt nicht an ausweglose Situationen. Er attackiert sogar die Katechismusschreiber und Regelwerker seiner Zeit, bis er ihnen auf die Nerven geht und sie ihm den Prozess machen.

An Deinem Anfang steht also keine Lehre, sondern ein Leben. Da erklärt einer das Rätsel Gottes, ohne es zu beschädigen, denn statt des unsinnigen Versuchs, es zu lösen, lässt er es die Leute erleben, als eine Art Liebesgeschichte mit ungewissem Ausgang. Nicht anders als die "Beziehungskiste" zwischen zwei Menschen. Sie glauben an sich. Sie "geloben" einander an. Sie wagen und beginnen einen gemeinsamen Weg voller Irrtümer und Erkenntnisse, voller Entdeckungen und Abenteuer und fürchten eigentlich nur eines: anzukommen, fertig zu werden, eines Tages am Ende zu sein.

Aber wie um Himmels willen kann es einen gemeinsamen Weg zwischen Gott und Mensch geben? Wie kann man sich verständigen? Muss hier nicht jede noch so tiefe Erkenntnis des Menschen ein Missverständnis sein? Der gute alte Goethe hatte einen hilfreichen Gedanken und - so kennen wir ihn - konnte ihn auch noch auf den Punkt bringen: "Vor dem Unerreichbaren kann man sich nur retten, indem man es liebt."

Das gefällt mir an Dir. Da, wo Du bei Dir bist, stellst Du die Liebe in den Mittelpunkt. Sie ist die Trägerwelle der Kommunikation, denn man kann jemanden vollkommen lieben, ohne ihn je zu verstehen. Und dann entstehen neue Ereignisse und Geschichten. Einfache Leute haben plötzlich Mut, springen über ihren Schatten, gehen an die "Hecken und Zäune" und streichen über das verlauste Haar eines Bettlerkindes. Sterbliche Menschen kümmern sich mit anarchischer Leidenschaft um andere, zeigen einen erstaunlichen Reichtum an Ideen und eine phantastische Starrköpfigkeit, wenn man sie zwingen will, eine Sackgasse als unwiderruflich zu akzeptieren.
Nun bis Du schon 2000 Jahre alt, und man darf fragen, of sich die Sache gelohnt hat. Vielleicht ist ja die Summe des Heilens, der Befreiung, der Wohltaten und Erleuchtung gleich derjenigen der Verwirrungen, der Verletzungen, Verfolgungen, Verbrechen und Düsternisse, die ebenfalls in Deinem Namen geschahen. Ein Null-Summen-Spiel also - oder gibt es einen kleinen geheimnisvollen Rest?

Das musst Du selbst herausfinden. Und jeder von den Deinen muss sich fragen, welchen Anteil er an der einen oder der anderen Waagschale hat. Und wieder helfen keine Bücher. Es muss sich ereignen. Erzähl neue Geschichten. Zeig den Leuten jenen Spielraum, den sie nicht mehr erkennen! Mach ihnen etwas Mut, wo sie sich ängstlich verkriechen wollen - auch den Reichen und Mächtigen! Mach`s wie in jeder lebendigen Beziehung: Besser Dich drauflos!
Ob es den Gott wirklich gibt, an den Du glaubst, kann ich nicht entscheiden. Aber die Menschen fragen sich, ob es sich lohnt, dass jemand an ihn glaubt, - und sei es irrtümlich. Zeig`s ihnen!

Mit freundlichem Gruß
Dein Fritz Pleitgen


Diesem Brief ist nichts Entscheidendes hinzuzufügen. Ob es in Zukunft wieder gelingt, das Christentum auf die Ebene des Lebens der "kleinen Leute" herunterzuholen? Davon hängt seine Zukunft ab. "Zeig den Leuten jenen Spielraum, den sie nicht mehr kennen". Darum dürfte es entscheidend gehen. Man könnte den notwendigen "Paradigmawechsel" auf die Formel bringen: "Der Lehren sind genug verkündet. Jesu Aufforderung zum wahren Leben". Ob diese Aufforderung nicht vielleicht doch am besten von denen eingelöst werden kann, die vom Leben etwas verstehen?

6. Christentum als Lehre - Christentum als Leben

Es besteht kein Zweifel, dass sich das Christentum seit seiner "Hochzeit" mit den griechischen Philosophen zu einem Lehrsystem entwickelt hat, welches die allermeisten nicht verstehen und auch nicht (mehr) verstehen wollen, weil es im Umbruch der heutigen Zeit als nicht hilfreich für die Gestaltung und Meisterung des Lebens empfunden wird. Die wenigen akademisch und theologisch Geschulten können zwar vieles von der Lehre der Kirche intellektuell verstehen. Damit ist sie aber noch keine lebensgestaltende Kraft geworden, auch nicht auf dem Weg der sich anschließenden und postulierten "christlichen Ethik". Die Frage stellt sich: wie kann der Erweis gelingen, dass es sich lohnt, Christ zu sein? Offensichtlich nur, wenn das Christentum mit seinen Werte-Vorgaben wirklich als werthaft und hilfreich für das Leben der Menschheit erkannt wird. Dazu bedarf es der Vernachlässigung herkömmlicher Prioritäten und der Hervorhebung neuer / alter Prioritäten, die eine Kraft und Hilfe zum Leben sind. Hier einige Gegenüberstellungen mit unterschiedlichen Prioritäten.

6.1 Christentum als akademische Lehre. Priorität haben:

  • Akademisch geschulte Lehrer und Amtsinhaber
  • Ersonnene, zu suchende und gefundene Wahrheiten
  • Gesetze und Verordnungen, die alle befolgen
  • Initiation und Sozialisation in bestehende Ordnung
  • Verordnungen mit Tendenz zur Gewissens-Nötigung
  • Ideen und Festhalten daran: Gefahr der äußeren Bindung, Gängelung ohne innere Anteilnahme
  • Gefahr rechthaberischer, allein seligmachender Dogmatik
  • Weitergabe des Glaubens in Form von "gedroschenem Stroh" (Thomas v. Aquin); von "Glaubens-Sätzen"
  • Lehrweisheit und Lehr-Ämter mit imperativer Ethik; Lehr-Meisterschaft ohne besondere Lebe-Meisterschaft
  • Sterile Monotonie des ewigen Wiederholens von Sätzen, Gedanken, Liturgien, Riten, Symbolen
  • Konfessionelle Identität
  • Konzentration auf "Kirche" ("Obrigkeiten-Kirche")
  • Glaube an Erlösung und "Heil durch Einen"
  • Feststehender Glaube durch Lehre und Lehramt; "Wahrheiten" als "Depot", als "Bankguthaben"
  • Autoritäten "von oben" (selbsternannte?)
  • Leitungsgemeinschaft: Gehorsam gegenüber dem Klerus
  • Lehren, die auf Uniformität aus sind; auf "Gleichschrittmarsch"
  • Ämter für "Berufene", Auserwählte (=Männer) durch Handauflegung; durch Berufung durch "Berufene" (Seilschaften)

6.2 Christentum als Kraft zum Leben. Prioritäten haben:

  • Frauen und Männer mit Lebenserfahrung (Fischer...)
  • erprobte Werte / Tugenden / Haltungen / Verhaltensweisen
  • faktisches Leben, welches es zu bewältigen gilt
  • freie Zusammenkünfte, je nach Notwendigkeiten
  • Austausch / Begegnung mit Tendenz zur Meinungs- und Gewissensbildung
  • Fakten und Erfahrungen, die eigentlich prägend sind, innerlich erregen und aufregen
  • Gefahr der Beliebigkeit, der Individuation und Selbstverwirklichung
  • Weitergabe persönlicher Glaubenseinstellungen ohne Rücksicht auf Tradition und Gemeinschaft
  • Lebensweisheit und Lebens-Ämter mit lebensgestaltender, orientierender Ethik; das zur Sprache gebrachte Leben
  • Schöpferische Kraft des Augenblicks mit "eigenen" Gedanken, Symbolen, Liturgien
  • Konfessionsübergreifende Aktivitäten, "Nachfolge Christ"
  • Konzentration auf "Reich Gottes" (Kirche sind alle)
  • Glaube an erlösendes und heilsames Da-Sein durch alle, gegenseitige Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen...
  • Wachsender Glaube durch Ängste, Zweifel, Niederungen (die gläubig der "Aufarbeitung" bedürfen...)
  • "Natürlich" gewachsene Autoritäten von unten
  • Weggemeinschaft: Gehorsam gegenüber dem "Einen"
  • Leben ist Vielfalt, Spiel - Wer es recht zu spielen vermag...
  • Ämter für Erfahrene, für im Leben und Glauben "Bewährte" (durch Wahl)

7. Kirchenamtliches und "säkulare" Reden über Gott.

Es liegt auf der Hand, dass auch das "Glaubensbekenntnis" säkularer, auch säkular geprägter Kirchenleute einem Wandel unterworfen ist. Auch hier fragmentarisch einige Gegenüberstellungen, die für herkömmliches und zukünftiges pastorales Handeln von Bedeutung waren bzw. werden dürften. Dabei ist es entscheidend, dass jeder / jedem, unabhängig von Stand und Bildungsgrad, die Möglichkeit eröffnet wird, zu begreifen und sich mit dem zu identifizieren, worauf es eigentlich ankommt.

7.1 Herkömmlicher Schwerpunkt von Lehrfragen

So lautet das "Glaubensbekenntnis":
"Ich glaube an Gott. Deshalb ist mir wichtig":

  • dass ich die Lehre der Kirche gut kenne und sie für wahr halte (Katechismus, Theologie)
  • dass ich im Gehorsam beachte und tue, was das Lehramt mir zu glauben und zu tun auferlegt.
  • dass sich das Heilsgeschehen Gottes in der Kirche abspielt (Extra ecelesiam; nulla salus; "Welt" und "Heiden" sind mit Vorsicht zu genießen!)
  • dass ich die Gebote kenne und beachte, dass ich in Predigt und Katechese lerne und erfahre, worum es beim Christsein geht.
  • dass ich mich in Gruppen und Gemeinde ganz einsetze. Es geht um Nächsten- und Gottesliebe, um den guten Ablauf kirchlicher Vollzüge.
  • dass ich mich und meinen Herrgott finde; meine persönliche Frömmigkeit und Spiritualität ...
  • dass ich sonntags regelmäßig zum Gottesdienst gehe und mitfeiere - der "Treff" danach ist nicht so wichtig.
  • dass ich getauft und gefirmt bin und dafür sorge, dass Taufe und Firmung an anderen geschehen ...
  • dass ich regelmäßig beichte oder zum Bußgottesdienst gehe (anonym! Mit Absolution? Oder ohne Losspechung?)
  • dass an Kranken eine heilswirksame Amtshandlung durch einen Priester geschieht (wie seit dem 9. Jahrh. üblich geworden) - Oder B.: Ehe ...
  • dass nur die Kirche sagt, was zu glauben und zu tun ist. Es geht um "die Wahrheit". Aber was ist Wahrheit? (vgl. Joh. 18.38). Die Kirche lehrt sie ...
  • dass ich an die Sakramente glaube und Gottes Anwesenheit in ihnen und durch sie (seit Lyon 1274 kirchenamtlich die Siebenzahl!)
  • dass die Gottesdienste und Sakramente heilswirksame Zeichen sind, die im Leben ihre Auswirkungen haben sollten ...
  • dass die Werke und Taten der Liebe Folgen und Konsequenzen aus dem "wahren Glauben" sein müssen / sollten.
  • dass die Taten der Liebe dem Aufbau und dem Nutzen der eigenen kirchlichen Gemeinde und Konfession zu Gute kommen.

7.2 Neue Schwerpunkte müssen mit Lebensfragen zu tun haben.

Hier lautet das "Glaubensbekenntnis":
"Ich glaube an Gott. Deshalb ist mir wichtig":

  • dass ich eine persönliche Beziehung zu Gott = Jesus finde und lebe (Gebet; Bibellektüre ...) "Wer war Jesus eigentlich? Was hat er gewollt?"
  • dass ich mir ein Bild darüber mache, wie Jesus in konkreten Lebenslagen gedacht und gehandelt hat. Also: die Lebensführung Jesu (Mt. 5-7)
  • dass es Jesus um ein Heilshandeln und Heilsgeschehen in der ganzen Welt geht (Röm. 8.18.20; Kol. 1.12-20; Hauptmann v. Kapharnaum: Mt. 8.5-13).
  • dass ich mich in meinen Lebenslagen an der "Praxis Jesu" orientieren lerne. "Glaube" als verbindliche Übernahme dieser Praxis ...
  • dass ich mich selbst finde und verwirkliche, "mein" Gewissen ... , dass "Kirche" mir dabei hilft (Gen. 1.27; Selbstliebe: Mt. 19.19; 1 Kor. 12).
  • dass ich Anschluss finde zu Menschen mit ähnlichen Absichten und Lebenserfahrungen (Gruppe, Gemeinde, kirchl. Lehramt, Autorität, Familienkreise)
  • dass ich sogar Freunde und Feinde lieben lerne; zur Versöhnung bereit bin - bevor ich in die Kirche gehe (Mt.5.23 f).
  • dass durch mich, den Getauften und Gefirmten, die Taten Gottes in der Welt weitergehen - dazu brauche ich Gebet und Sakrament (Samariter: 10.25 ff; Frau am Jakobsbrunnen: Joh. 4.1-26).
  • dass durch Taten der Liebe Sünden vergeben werden und dass ich durch sie Heil erfahre (Die Sünderin, die viel geliebt hat: Lk. 7.36-50; der sündige Bruder: Mt. 18.15-20; Die 77-fache Vergebung: Mt.18.21-22; die Gerichtsparabel: Mt. 25.31-46; "Vergib uns unsere Schuld": Mt. 6.12; Wenn ihr den Menschen die Sünden vergebt: Mt. 6.14 + Lk. 6.37).
  • dass Krankenbesuchsdienste eingerichtet werden, die auch die Krankensakramente spenden (wie vom 1.-9. Jahrh. durch bestimmte Laien). Oder z.B: Ehe ...
  • dass ich zum Erkennen des Willens Gottes und zum Tun seiner Taten berufen bin - mit allen Christen ohne Ausnahme (Petrus als "Satan": Mt. 16.23; Mt. 8.33; Nur Einer ist Euer Meister: Mt. 23.8)
  • dass ich an die Sakramentalität konkreter Lebensvollzüge glauben kann (Wo zwei oder drei ... Mt. 18.20, Wer ein Kind ... Mt. 18.5) (Wortgottesdienste).
  • dass die Gottesdienste der Kirche und ihre Sakramente gemeinsame Feiern dessen sind, was im Leben geschieht. Ohne das zeitgleiche Geschehen im Leben sind sie "töricht" (Koh. 4.17-5.6; 1Kor. 13)
  • dass die Taten der Liebe (= die Taten Gottes an der Menschheit) durch uns das Wesen des Glaubens ausmachen (Wer die Wahrheit tut ... Joh. 3.21; 1Kor. 13).
  • dass die Taten der Liebe sich auf die ganze Schöpfung beziehen: Dialog und Zusammenarbeit mit allen guten Willens über die Konfession hinaus.

8. "Pastoraler Paradigmenwechsel": wohin?

Aus dem Gesagten ist deutlich geworden, dass der notwendige und not-wendende Paradigmenwechsel nicht in neuer theologischer Gedankenakrobatik mit wohlklingenden Formulierungen bestehen kann, sondern in einer effektiven Hinwendung zum Menschen unserer Zeit. Wenn nicht alles täuscht, ist die in säkularen Gesellschaften aufbrechende "neue Religiosität" nichts anderes als die Wiederkehr archaischer Religiosität, wenn auch in neuem Gewand. Man könnte auch sagen: eine Befreiung aus theologischer und kirchenamtlicher Bevormundung findet statt.

Die Menschen begreifen in ihren persönlichen Lebensbiographien am besten selbst, was sie unbedingt angeht und existentiell betrifft. Sie müssen es sagen und ausdrücken lernen - ganz abgesehen davon, dass die Massen- und Informationsmedien dabei eher eine Hilfe sind als kirchenamtliche Verlautbarungen. "Kirche" wird deshalb auf Zukunft hin nur dann eine Chance haben, wenn sie sich von den Lebens- und Glaubenserfahrungen heutiger Menschen belehren und sich etwas sagen lässt. "Evangelisierung" ist dann weniger Belehrung als vielmehr Orientierung und Hinführung zu dem, worauf es in der Reich-Gottes-Predigt Jesu wesentlich ankam und ankommt: zur Praxis jener Werte und Orientierungspunkte, die im Evangelium grundgelegt sind und deren Verwirklichung - und sei es noch so fragmentarisch - das Schon-Jetzt des Sauerteigs des Evangeliums bedeutet. Wo die Stimme des Volkes wirklich kultiviert, gehört und verstanden wird, da ändert sich entscheidend das Bild der herkömmlichen Kirchen. Die Frage nach den Ämtern, Strukturen, theologischen Ansätzen und Liturgien muss dabei ganz neu wieder gestellt werden. Aufkommende Ängste bei den herkömmlichen Platzhaltern dürfen nicht zu Blockaden und Hindernissen führen. Sie müssen eher Stachel und Ansporn sein zum Aufbruch zu neuen Horizonten und Taten.

 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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