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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Das größte Hindernis der Ökumene: Die übertriebene Beschäftigung der Kirchen mit sich selbst.

Januar 1999

1. Was glauben die Deutschen?

Was glauben die Deutschen? Eine seit Jahrzehnten in regelmäßigen Abständen wiederkehrende Frage! Werbeagenturen, Massenmedien verschiedenster Prägung und Ausrichtung, die Kirchenleitungen der großen Konfessionen und andere interessieren sich brennend dafür. Bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage scheint sich seit Jahren der Himmel immer mehr zu verdunkeln. Denn die Deutschen wie auch die Menschen anderer Länder in Europa und Amerika glauben etwas anderes, als sie aus der Sicht und im Auftrag kirchenamtlicher Vorgaben eigentlich zu glauben hätten und glauben müßten.

Jedenfalls hat dies zuletzt - nach einer Reihe ähnlicher Untersuchungen - das religions-soziologische Institut der evangelisch-theologischen Fakultät in Berlin herausgefunden. Nach jahrelangen Recherchen und Befragungen in fünf Gebieten der BRD und der ehemaligen DDR, in unterschiedlichen sozio-kulturellen Milieus, in evangelisch und katholisch geprägten Dörfern des Hunsrücks, bei Jugendlichen und Gymnasiasten, sogar bei Theologiestudierenden, Pfarrerinnen und Pfarrern glaubt das Institut eine Gesamttendenz herausgefunden zu haben, die auf den ersten Blick erschrecken, sogar schockieren muß: das traditionell Christliche spielt im Leben moderner Menschen kaum noch eine nennenswerte Rolle; die dogmatische Lehre der Kirchen, das wenn auch noch so klar und eindeutig festgelegte Gedankengebäude der Theologie gibt keine adäquaten Antworten mehr auf Fragen und Nöte heutiger Menschen; die Kluft zwischen dem herkömmlichen Gottesverständnis und dem Hoffen und Ahnen der Menschen von heute ist kaum noch zu überbrücken; es findet auf breiter Front ein Zusammenbruch der traditionellen Lehrverkündigung statt; die Entdogmatisierung und Entkirchlichung des Christentums und des religiösen Empfindens überhaupt sind in vollem Gange.

So oder ähnlich lauten die Auskünfte. Symptomatisch dafür ist nicht nur der wachsende Autoritätsverlust der Kirchen, sondern auch die allgemeine Reaktion auf deren Lehrverkündigung, die auf weiten Strecken als belanglos und für das Leben nicht tauglich bewertet wird. Konkret schwindet der herkömmliche Glaube an einen persönlichen Gott; auch die Dreifaltigkeit Gottes (das Bild von Gott in drei Personen) und seine Allmacht erscheinen als sehr zweifelhaft; viele sehen keine Schwierigkeit darin, statt an die Auferstehung der Toten an die buddhistische oder hinduistische Wiedergeburtenlehre (Reinkarnation) zu glauben; die Sterblichkeit des Menschen wird nicht mehr mit seiner Sündhaftigeit in Verbindung gebracht - erst recht nicht mit der Erbsündenlehre, die praktisch bedeutungslos geworden ist. Der Name Gottes wird kaum noch mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht, von der ewigen Belohnung oder Bestrafung im Jenseits in Verbindung gebracht. Im Ganzen scheint sich so etwas anzubahnen wie eine, je nach Lust und Laune, individualisierte Religiosität - ganz im Sinne einer Single-Gesellschaft, in der sich jede und jeder einen eigenen Lebensraum gestaltet. Das Ergebnis dieser Entwicklung scheint eine nach persönlichem Bedarf zusammengesetzte Patchwork-Religion zu sein, die keine Menschen mehr zusammenführt, sondern diese zu religiösen Nomaden macht, die unsere Landschaften und Städte bevölkern.

Was wird dabei aus dem Christentum, dem christlichen Glauben? Welches müßte die Aufgabe der Kirchen sein, wenn sie überhaupt noch eine haben? Auf solche Fragen müßten gründliche Antworten gefunden werden. Wenn viele z.B. nicht mehr an einen persönlichen Gott glauben, könnte dies ein Indiz dafür sein, daß viele nicht mehr an ihre eigene Personwürde zu glauben in der Lage sind: in einer Welt der Ziel- und Sinn-Unsicherheit, der Ort- und Heimatlosigkeit, der Vermassung und Verplanung, des Leistungsdenkens und überorganisierten Lebens, in dem niemand so recht weiß, ob und wie lange er Akzeptanz und Anerkennung findet...? Denn Gottesbilder haben immer etwas mit menschlichen Erfahrungen in Geschichte und Gesellschaft zu tun. Natürlich auch mit Erfahrungen in der Kirche.-

2. Die ökumenische Dimension dieser Frage.

Daß die hier gezeichnete Entwicklung von höchster Brisanz auch für die Ökumene ist, möge am Beispiel der Rechtfertigungsdiskussion deutlich gemacht werden. Im Juli 1998 schilderte der Chefredakteur eines renommierten christlichen Wochenblattes den Stand und den Verlauf der Diskussion in der Ökumenekommission der großen Kirchen. Anlaß dazu war die Tatsache, daß nach zehnjähriger strenger Arbeit evangelische und katholische Theologen ein Papier verfaßt hatten, welche dem Streit seit Martin Luther endlich ein Ende setzen wollte über die Fragen: "Wie finde ich einen gnädigen Gott; durch die Gnade und den Glauben allein oder auch durch Werke, durch kirchliche Ämter und Sakramente?"-

Das Papier, genannt "gemeinsame Erklärung zwischen der katholischen Kirche und
dem lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre", hatte die größten Chancen, auch von den Kirchenleitungen akzeptiert zu werden. Der Schlußstrich unter die gegenseitigen Lehrverurteilungen seit dem 16. Jahrhundert sollte zudem den Weg zur späteren Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft eröffnen. Aber mitten in dieser anscheinend wiedergefundenen Einheit und Harmonie meldeten sich 160 evangelische Theologen zu Wort, die dem Wortlaut des Dokumentes heftigst widersprachen. Sie warnten vor einem drohenden protestantischen Identitätsverlust bei zuviel Annäherung ans Katholische. Auch Rom schaltete sich ein. Sie forderten mehr begriffliche Klarheit, dogmatische Präzision, ergänzende Bemerkungen und mehr Toleranz gegenüber den verschiedenen konfessionellen Traditionen. Der jahrhundertealte Lehrstreit drohte nicht nur erneut auszubrechen; er war bald wieder in vollem Gange. Kritische Stellungnahmen schienen das Erreichte nicht nur auszuhöhlen; es drohte auch ein neuer "Konfessionalismus", der die ökumenische Gesamt -Atmosphäre vergiftete.

In dieser spannungsgeladenen Situation beklagte sich das christliche Wochenblatt darüber, daß die große Öffentlichkeit, das Fernsehen und die Tagespresse von den "aufregenden Entwicklungen" kaum Notiz nahmen. Er bedauerte, daß das Kirchenvolk von Anfang an aus den Überlegungen ausgeschlossen worden war. Er forderte die Christen und Gemeinden, kirchliche Jugendverbände und Bildungswerke, säkulare Öffentlichkeit und Kirchenpresse auf, leidenschaftlich auf die Straße zu gehen und die betroffenen Professoren und Kirchenleitungen zu beschwören, dem brennenden Thema der Einheit der Christen, das doch alle angehe, mutig nachzugehen. Ein Ruck, eine offensive Bewegung müsse durch das ganze Kirchenvolk gehen. Stattdessen schlafe es; schaue wie gelähmt zu; schaue sogar weg, als wenn es gar nicht davon berührt wäre...

Bei so viel Verwunderung kann ich mich eigentlich nur darüber wundern, daß ein Chefredakteur sich so wundert. Denn wenn die religiöse Entwicklung in der säkularen Welt seit Jahrzehnten nicht täuscht, sieht das Kirchenvolk in der Tat keinen Anlaß, wegen solcher theologischer Erbstreitigkeiten auf die Straße zu gehen. Im Gegenteil. Sein Schweigen ist ein alarmierendes Indiz dafür, daß sich das Christentum seit Jahrhunderten zu einer akademisch-universitären Theologen- und Spezialistenreligion entwickelt hat, an der der Mann auf der Straße keinen ihn innerlich berührenden Anteil hat bzw. haben kann. Freilich konnte man in früheren Jahrhunderten das Kirchenvolk zu Glaubensgehorsam verpflichten. Das äußere Aufsagen von Glaubensbekenntnissen und Glaubenssätzen änderte jedoch nichts daran, daß es innerlich unbeteiligt blieb. Auch Folklore-ähnliche religiöse Traditionspflege ist noch nicht unbedingt ein Indiz für wirklichen Glauben und verantwortliche Lebensgestaltung aus dem Glauben. Insofern ist die heute sich ausbreitende Kirchendistanz nichts anderes als ein eklatantes äußeres Zutagetreten der Tatsache, daß die Kirchenleitungen und Kirchen"eliten" über Jahrhunderte hinweg mit sich selbst beschäftigt waren, d.h. mit ihren Theologien, mit ihrem Amtsverständnis, mit ihren Lehr- und Kultfragen. Dabei sind die Kirchen blind geworden für werdende und sich verändernde Lebensfragen. Vor allem haben sie das Allgemeine stets über das Besondere gestellt; sie haben sich mit allen Menschen und der gesamten Menschheit beschäftigt, dabei aber den Einzelnen in seiner Einmaligkeit und Freiheit nicht besonders ernst genommen. Indem ihnen die Menschen als Masse wie zu betreuende und zu behandelnde "Objekte" gegenüberstanden, haben sie "Lehr-Ämter" geschaffen, aber keine "Lebens-Ämter", die durch Lebensbegleitung und Lebensanteilnahme immer wieder den Zusammenhang hätten aufzeigen müssen zwischen konkreter Lebenserfahrung und wachsendem Glauben.

Das Elend und die Schande des Christentums bestehen heute darin, daß es in fast allen seinen Vollzügen zu einer Religion von "Profis" geworden ist. Diese bemänteln eigene Machtansprüche allzu leicht mit hehrem Wahrheitsanspruch. In einer augen-fälligen Einbahnstraßen-Verkündigung melden sie sich zu Wort. Dazu mit eindeutig-klaren Begriffen und ziemlich unfehlbaren Sätzen. Daß auf Zukunft hin christlicher Glaube auf diese Weise nicht weitergegeben werden kann, liegt auf der Hand. Zudem machen die Reaktionen der "säkularen Welt" wie auch des Kirchenvolkes allzu deutlich, daß eine Umkehr, ein "Paradigmenwechsel" lebensnotwendig sind. Worin könnten sie bestehen? Worauf müssen sich die Kirchen neu besinnen - alle Konsequenzen akzeptierend, die die herkömmlichen Gebäude erschüttern? Die Fragen stellen sich dabei: welches ist die unverzichtbare Substanz des christlichen Selbstverständnisses? Wie kann es wieder zur Kraft und Dynamik des Ursprungs zurückfinden und dabei zugleich Menschen anziehen, die noch des Suchens und Fragens fähig sind und zugleich bereit, Leben und Welt aus der Botschaft Jesu heraus zu gestalten?

Ohne sich dem so oft gefürchteten "Zeitgeist" überlassen zu müssen, geht doch kein Weg an der Tatsache vorbei, daß es viele Menschen gibt - vielleicht sogar eine wachsende Mehrheit? - , die durchaus religiös und christlich sein wollen, ohne jedoch zu akzeptieren, dabei kirchenamtliche Hecken und Zäune überspringen zu müssen. Amtlich kluge Lehren und Weisungen wirken allzu oft wie Stacheldrähte, die sich um die Seelen legen, um sie daran zu hindern, in Freiheit und eigener Verantwortung eine eigene Beziehung zu Gott zu leben. Die Demontage herkömmlicher Kirchen- und Gottesbilder kann sich durchaus als Befreiungsschlag erweisen. Das Christentum wird sich immer mehr als eine Religion freier Menschen erweisen müssen. In der Krise kann sich eine neue ungeahnte Chance erweisen.

3. Das Christentum - auf ungewohnte Weise herausgefordert.

Wenn nicht alles täuscht, besteht die radikale Krise der Kirchen und ihrer theologischen Lehrgebäude - unabhängig von den äußeren gesellschaftlichen Faktoren - in dem jahrhundertealten Mißverständnis oder Unverständnis des Christentums als einem Lehr-, Begriffs- und Definitionsgebäude. Ihm wird immer mehr der Boden entzogen, weil immer weniger Menschen daran glauben. Denn sie verstehen es nicht. Sie verstehen auch nicht, was die wenigen Fachleute und Kirchenrepräsentanten in ihren Verlautbarungen verkünden. Deren Verkündigung bleibt schon deshalb unverständlich, weil die meisten Verkünder ihre Botschaft selbst nicht verstanden haben - höchstens begrifflich, spekulativ-akademisch, aber nicht so, wie sie allein und an erster Stelle verstanden werden müßte, nämlich existentiell und durch das Tun konkreter Taten der Liebe, wie sie dem Menschen, je nach Qualität und Eigenart, spontan und mit Gottes Hilfe möglich sind.

Denn von Jesus her fangen viele Menschen - auch außerhalb der Kirchen - wieder neu an zu erahnen: im Existieren, nicht im Spekulieren erweisen sich die Lebenskraft und der Lebenssaft einer Botschaft. Wer sie staatspolitisch vereinnahmt und sie den Händen unfehlbarer Hüter überläßt; wer aus der Religion eine verwaltete Religion macht, sie arbeitsteilig genau organisiert und reglementiert - je nach Klerus und Laien, je nach Männern und Frauen - ; wer für jede Aufgabe Zuständigkeiten und Dienststellen schafft - für den erweisen sich Kirchenvolksbegehren und unvorhergesehene Laien-Anträge nicht nur als Gefahren für die herkömmlichen In -stanzen und Platz-Anweiser. Diese erweisen sich sogar und werden bloßgestellt als Vernichter und Zerstörer dessen, was sie so energisch für die Zukunft zu retten versuchen. Das geschichtliche Paradox besteht dann darin, daß sich die Verteidiger von Religion und Glaube als deren größte Hindernisse und Zerstörer erweisen.

Carl Amery hat diesen tragischen Vorgang innerhalb des Christentums mit einer Anekdote beschrieben. In seinem letzten Buch "Hitler als Vorläufer - Auschwitz - der Beginn des 21. Jahrhunderts" heißt es: "Ein ehemaliger polnischer Offizier berichtet, daß er in den ersten Tagen nach der Eroberung seines Landes ein Schloß aufsuchte, in dem eine bayerische Gebirgsjägerdivision untergebracht war. Die biederen Landser wohnten gerade einer Messe bei, die ein Militärgeistlicher zelebrierte. Im Keller aber waren Juden und andere unerwünschte "Elemente" zusammengepfercht, deren Klagen durch den Parkettboden zu hören war. Den Zelebranten wie die Soldaten störte das nicht - dafür war eine andere Dienststelle zuständig!"

In die oben beschriebene Rechtfertigungsdiskussion hat sich u.a. ein Mediziner und Arzt eingeschaltet. Er wirft den Kirchen "Begriffs-Fetischismus" vor; ein "total steriles und unbrauchbares Denken"; ein Fixiertsein auf völlig rückwärtsgewandte Streitfragen inmitten einer Welt, "die ringsum in Flammen steht".

Nun, selbst wenn die Welt nicht ringsum in Flammen stehen würde - ich stelle mir vor: eines Tages würden die Kirchen und Konfessionen eine einzige theologische Sprache sprechen; sie würden sich über alle Streitfragen verständigen und gemeinsame Lehr-Formeln ersinnen - wenn dies auf die traditionell - übliche Weise geschähe im Sinne eines Glaubensverständnisses, welches überkonfessionell gemeinsam Sätze für-wahr-zu-halten gedenkt - eine solche "Einigung" würde niemanden mehr vom Stuhle reißen! Denn es könnte sein, daß viele Fragen von früher nicht mehr die Fragen heutiger Menschen sind. Auch die bedrängende Frage M. Luthers, die heute die Diskussion der Theologen beherrscht: "Wie finde ich einen gnädigen Gott?" dürfte für die wachsende Mehrheit der Gläubigen heute keine bedrängende Frage mehr sein.

Wenn seriöse Umfragen und Untersuchungen nicht täuschen, stellen mündig, frei und selbstbewußt gewordene Menschen andere Fragen: Wie finde und gestalte ich eine gnädige Zukunft? Wie finde ich meine Lebensrolle in einer Welt, die so unübersichtlich, in vielen Bereichen so wurzellos, so heimatlos, so orientierungslos geworden ist? Wie finde ich mich selbst, in meinem Werden und Wachsen, mit meinen Gaben und der Akzeptanz meiner Grenzen? Wo finde ich Menschen und Gemeinden, die mich so einschätzen und behandeln wie ich bin? Wie lerne ich, andere vorurteilslos und realistisch einzuschätzen, um sie verstehen, lieben und achten zu lernen? Wie finde ich zu gelungenen und geglückten Beziehungen: in Ehe und Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz? Schließlich: wie kann ich in meinen Zweifeln und Lebensängsten den Weg zu Gott oder zur Transzendenz finden? Wer öffnet mir den verrannten Weg ins Jenseits, falls es überhaupt eins gibt? Wer hilft mir die Grenzen meiner selbst überschreiten - nicht durch kluge Worte und Sonntagsreden, sondern durch den Mut eines Lebenszeugnisses, welches sich von der Kraft Christi bestimmen läßt und von Menschen, die zu überzeugen vermögen?

Was sich beim modernen Menschen auf den ersten Blick als Demontage Gottes und traditionell-kirchlicher Gottesvorstellungen erweist, kann sich durchaus als eine neuartige und lebenswichtige Anfrage an das konventionelle Christentum herausstellen - an ein Christentum, welches seine Hauptaufgabe wieder darin sehen muß, die Menschen das Leben und Lieben zu lehren. Gefragt ist das Christentum als eine Religion, die theoretisch-abstrakte Klarheiten und angeblich absolute Wahrheiten an die zweite oder dritte Stelle rückt; welches stattdessen dem Willen absolute Priorität verleiht, in Gemeinschaft gottgewolltes und evangeliumsgemäßes Leben zu gestalten; also nach dem Vorbild Jesu erlösendes und heilendes Denken und Handeln zu praktizieren. Die Einübung in ein vom Evangelium inspiriertes Denken und Handeln, welches den Menschen in seinen konkreten Lebenslagen im Blickfeld hat, ist das Gebot der Stunde. Wo es darum geht, daß die für Menschen heilsamen Worte und Taten Jesu weitergehen, da gilt nicht mehr Mann oder Frau, Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, katholisch oder alt-katholisch, evangelisch, orthodox oder freikirchlich. In dieser Aufgabe sind alle "eins" in Christus Jesus (vgl. Gal 3,28).

4. Im Zurück zur Dynamik des Anfangs Zukunft gestalten.

Die gegenwärtige bis an seine Wurzeln und an die Substanz gehende Krise des Christentums und die Anfragen der Welt an seinen eigentlichen Auftrag verschaffen nicht nur die Möglichkeit, auf neue Weise "eins in Christus" zu sein, sondern zugleich auch zu dem zurückzufinden, welches die "Dynamik des Anfangs" war. Diese bestand nicht darin, daß Jesus oder die Urgemeinden Katechismen und dogmatische Handbücher schrieben - zum Gedankenschmaus für Denker und als Übungsfelder für ideologisch verbrämte Rechthaber, zweifelsfreie Missionare und religiöse Eroberer, verbunden mit all den brutalen Konsequenzen, die aus der Geschichte all zu bekannt sind: Hexenwahn, Inquisition, Religions- und Konfessionskriege, Marginalisierung und Unterdrückung all derer, die sich schwer taten mit unfehlbaren Behaupten über Gottes Wege und Weisungen.

Die Dynamik des Anfangs bestand ja in nichts anderem als in der Tatsache, daß sich die Christen der ersten Zeit im Vertrauen auf Gottes bleibende Anwesenheit in ihrer Mitte zusammentaten, um sich - nach dem Schock des Karfreitags und nach der unglaublichen, aber doch frohen Kunde des Ostermorgens - in seinem Geiste an all das mühsam zu erinnern, was Jesus gesagt und getan hatte. Die Urkirche entfaltete sich in unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften, die aber auch die Nachfolge Christi zu leben versuchten, indem sie in ihren Situationen das zu tun versuchten, was er getan hatte. Christen und christliche Gemeinden sind getrieben oder müssen getrieben sein von dem gemeinsamen Willen, daß durch sie die Worte und Taten Jesu in der Konkretheit des Lebens weitergehen. Nur dadurch, daß Christen sich einmischen lernen, indem sie das menschennahe und situationsbezogene Denken und Handeln Jesu praktizieren - über alles Theologisieren und kirchenrechtliche Vorschreiben hinaus - , erweisen sie sich als "Licht der Welt" und "Salz der Erde". Wie Jesu Worte und Taten unmittelbar für Zeitgenossen heilsam und erlösend waren, so muß sich die Existenz christlicher Kirchen für Menschen als heilsam und erlösend erweisen. Da gelten nicht nur das Sich-Versammeln und Nachdenken in seinem Auftrag; auch nicht nur Mediation und eingebildete Gotteserfahrung, sondern der Mut des Sich-Einmischens in konkrete Welt- und Lebensverhältnisse - also das "Tun der Wahrheit" in seinem Namen. Maßstab für den Gottesdienst ist nicht das Einhalten von Gesetzen und Moralvorschriften, sondern der konkrete Dienst am Nächsten als gewissenhaftes und personalverantwortetes Erfüllen des Gesetzes in der Liebe.

Von daher wird sich auf Zukunft hin viel akademisch-ökumenisches Diskutieren über Rechtfertigung, Eucharistie- und Ämterverständnis als überflüssig erweisen. Viele theoretische "Verständnisfragen" wurden lange genug als "frohe Botschaft" verkündet und gepredigt - von großen Teilen des Kirchenvolkes Gott-sei-Dank heute nicht mehr als solche angenommen. Entscheidend wird sein, daß die Menschen in ihren Lebenslagen das Werden und Wachsen im Glauben und Hoffen lernen und bei allen Zweifeln und Anfeindungen das Tun der Wahrheit nicht vergessen. Dazu brauchen sie nicht so sehr Lehr-Ämter oder Lehr-Meister als vielmehr Lebens-Ämter oder Lebe-Meister - also Vorbilder in dem, worauf es wirklich ankommt.

Das eigentlich Jesuanische der biblischen Botschaft besteht ja nicht darin, daß sich Hierarchien und Expertokratien bilden, die vom Christentum leben und Sinn-Agenturen für die Menschheit betreiben, die ohne Wenn und Aber sind. Es geht vielmehr um die "Fleisch-" und "Menschwerdung" der Liebe. Diese kann nicht einfach darin bestehen, daß Ritualisierungen gepflegt und Mythenbildungen genehmigt werden. Die vom Evangelium vorgegebene Praxis der Liebe muß sich realgeschichtlich einmischen überall dort, wo die Würde des Menschen durch welche Machenschaften auch immer verletzt und mit Füßen getreten wird. Seit Jesus von Nazareth sind nicht absolute Wahrheitsansprüche, sondern ist jede Form von heilsamer Menschenliebe zum Maßstab für die Gottesliebe geworden. Deshalb kann Gott zu jeder Zeit und an jedem Ort angebetet werden, wo und wann auch immer es um das Wohl und Heil lebendiger Menschen geht. Da ereignet sich auch immer "Nachfolge Christi".

Christliche "Nachfolge-Gemeinschaften", in denen konkret etwas Heilsames und Erlösendes geschieht, vermögen auch Mahl - und Eucharistie-Gemeinschaften zu sein. Das eine gehört wesentlich zum anderen. In der Mahlfeier findet das, was Christen sind und zu sein haben, seinen kultischen Höhepunkt. Ohne die Erfüllung des Auftrags Jesu, ohne die Fortsetzung seiner Taten in gemeinsamer Verantwortung erweist sich dieser "Höhepunkt" als ritualisiertes Scheingefecht am Sonntagmorgen. Es wird schon dadurch Lügen gestraft, daß es viele leichtfertig und ohne Gewissensbisse durch Sport- und Schwimmübungen zu ersetzen vermögen. Jedenfalls muß ernsthaft über die Frage nachgedacht werden, warum so viele Christen das Wichtigste versäumen, ohne es zu missen...?

Denn dem Christentum ist es aufgegeben, Salz und Sauerteig zu sein - weniger in Sakristei und Kirche als vielmehr mitten in der Welt. Wenn das Salz der Erde selbst schal wird, kann menschliches Leben durch nichts mehr sinnvoll gesalzen und gesäuert werden. Ohne die Fleisch und Mensch gewordene Liebe wird es auch bald keine Menschen mehr geben.

In vieler Hinsicht steht das Christentum also an einem Wendepunkt. Es kann sich nur erneuern, wenn es die "Zeichen der Zeit" als Sprache und Anrufe Gottes selbst wieder zu hören und zu beantworten fähig wird. Wie sollte Gott denn sonst seinen Willen kundtun? Sicher nicht durch eingebildete Erleuchtungen und phantasiegeladene Verzückungen von Menschen mit religiös-hysterischem Hang. Gott offenbart sich auch nicht in den Amtsstuben von Amtsträgern und am Weiterbau liebgewordener systematischer Gedankenbastionen, hermetisch abgeschlossen durch konfessionelle Hecken und Zäune. Byzantinischer Triumphalismus und aufwendiges Getöse bei religiösen Massenveranstaltungen eignen sich nicht, um den Willen Gottes zu erforschen. Pompöser Aufwand bei Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 2ooo geben eher Aufschluß über die Fragen, wer davon am meisten profitiert und wer sich dabei am besten in Szene zu setzen vermag - man rechne nicht allzu sehr mit der Anwesenheit Christi, obwohl am meisten über ihn geredet wird! Das Antworten auf die Zeichen und Herausforderungen der Zeit kann allein Aufschluß geben über die Frage, ob es den Christen mit ihrer Botschaft wirklich ernst ist? Machbare Schritte und entschiedene Maßnahmen müssen es erweisen. So heißt es schon bei Mathäus: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut" (7,21).


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