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13.Sonntag im Jahr (Mt.10,37-42)
1999
Zielsatz: Menschen wollen religiös beschwichtigen und
beschwichtigt werden. Jesus scheut nicht den Konflikt.
1. Die "letzten Tage der Menschheit".
Kurz vor dem ersten Weltkrieg (1914) schrieb Karl Kraus "Die
letzten Tage der Menschheit". In diesem Antikriegsdrama tritt am
Anfang ein Tippelbruder auf die Bühne - wie ein klassischer
Rufer in der Wüste, der die Menschen zur Umkehr auffordert. Aber
seine pathetische Kunde vom Weltende wird wie eine Spinnerei
abgetan. Sie stößt auf taube Ohren bei den Figuren, die während
des ganzen Dramas wie Marionetten hin und her geschoben werden.
Denn die Figuren sind ohne persönliche Gedanken, ohne Charakter
und ohne Eigenschaften. Sie sind gesichtslos und in jeder
Hinsicht austauschbar. Der "große Bruder" im Hintergrund, der
hin und her schiebt, der in der ganzen Dramartugie die Fäden
zieht, bleibt im Ungewissen. Auch ist kein tieferer Sinn im
ganzen Geschehen zu erkennen. Deshalb gibt es in der Apokalypse
auch keine Schuldigen. Es gibt nur Opfer und Verblendete, die
unfähig geworden sind, auf den Tippelbruder, seine omnipräsente
Nörgelei und Aufforderung zu hören, persönlichen Mut zu zeigen.
Die "letzten Tage der Menschheit" sind geprägt von Anonymität
und menschlicher Konturenlosigkeit.
2. Menschen brauchen "Gesetz und Ordnung".
Das heutige Evangelium spricht im ersten Satz von Vater und
Mutter, von Sohn und Tochter und von der Liebe, die alle
miteinander verbindet. Es wendet den Blick auf die Urform
menschlichen Zusammenlebens: die Familie. Tatsächlich war und
ist die Familie das erste Einübungsfeld jedes Menschen ins
Leben, in seine bestimmenden Regeln und Verhaltensweisen, in
Werte und kultisch-religiöse Vollzüge.
Auch zur Zeit Jesu war das Familienleben von Tugend, Moral,
Gesetz und Gottesglauben bestimmt. Es hatte zudem eine bestimmte
hierarchisch-patriarchalische Struktur, die die Rollen und
Aufgaben der einzelnen Mitglieder, auch nach Alter und
Geschlecht, bestimmte. Das Intaktheithalten des Familienlebens
galt nicht nur als göttliches Gebot; es entsprach auch einem
menschlichen Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Anerkennung und
gegenseitiger Achtung. Nicht umsonst haben Völker und Kulturen
immer größten Wert auf das gute Funktionieren des Familienlebens
gelegt. Sie haben diese "Modell" auf Gesellschaften und
religiöse Gemeinschaften übertragen. Die Begriffe "Initiation"
und "Sozialisation" sind Schlüsselworte für die Pflicht und
Aufgabe eines jeden Kindes und heranwachsenden Menschen
geworden, in sein jeweiliges soziales Gefüge hineinzuwachsen,
sich auf die es bestimmenden und prägenden Kräfte und Faktoren
einzulassen und sich immer mehr damit zu identifizieren.
3. Jesu Botschaft bestätigt das Vorhandene und stellt es
in Frage.
Wer als Außenstehender in einer solchen Situation davon spricht,
daß es noch eine "größere Liebe" gibt als die Liebe zwischen
Vater und Mutter, zwischen Sohn und Tochter, muß als ein
Unruhestifter empfunden werden, als ein Nörgler und Zerstörer
herkömmlicher Ordnungsprinzipien. Zumimdestens wird deren
absolute Gültigkeit infrage gestellt. In unserer heutigen
Sprache würden wir sagen: jede festgefügte, anscheinend gut
funktionierende Ordnung hat auch eine Kehr- oder Schattenseite.
Jedes "soziale Netz" birgt die Gefahr in sich, daß der einzelne
Mensch nicht zu seiner Personwürde, zu seiner Originalität und
Einmaligkeit findet. Äußere Ordnungsprinzipien können den
Einzelnen verhindern, können die persönliche Entfaltung und
Entscheidungsfähigkeit, das Gewissen, Kreativität, Ideenreichtum
und Wandlungsfähigkeit verkümmern lassen. - Gefahren, die auf
schleichende Weise den Menschen verantwortungslos und
gewissenlos werden lassen. Sie können - aufs Ganze gesehen -
auch jeder Gemeinschaft zur tödlichen Falle bzw. langweiligen
Sackgasse werden. Vielleicht ist dies auch die eigentliche
Problematik der gegenwärtigen kirchlichen Entwicklung, die
häufig mit den Worten "Krise" und "ausblutende Gemeinden"
beschrieben wird. Die Dichterin Annette Feigs hat sie in dem
Gedichtsgebet "Der Weltkatechismus" folgendermaßen beschrieben:
"Herr, ob Dein Geist unzählige Seiten braucht? Herr, ob Dein
Geist unzählige Worte braucht? Herr, ob Dein Geist unzählige
Vorschriften braucht? Herr, Deinen Geist hat Dein Sohn uns
vorgelebt: in Verantwortung, in Mut, in Liebe. Herr, laß uns
Deinen Geist auch heute spüren".
4. Der Aufstand der Person.
Wahrscheinlich ist dies das Dilemma jeder wohlgemeinten und für
viele auch wohltuenden sozialen Ordnung und Struktur: sie reißt
den Einzelnen hin und her zwischen Stabilität und Originalität,
zwischen Gesetz und Geist, zwischen Macht und Charisma. Auf
subtile Weise ist auch das heutige Evangelium ein Rütteln an der
theologisch-stabilen Basis Israels. Es favorisiert den "Aufstand
der Person" gegen alle "bewährten" ethischen Grundregeln. Nicht
umsonst werden auch die Konsequenzen für den Einzelnen in
"Seiner Nachfolge" deutlich beim Namen genannt: das Kreuz auf
sich nehmen; das herkömmliche Leben verlieren; eine "andere"
Liebe praktizieren. Eine solch geartete Nachfolge führt in ein
"anderes" Leben. Das heutige Evangelium ist ein wichtiges, wenn
auch unscheinbares Dokument in der Botschaft Jesu. Jesus wollte
nicht nur Worte sagen und die Leute beschwichtigen. Er wollte
auch provozieren und selbst religiös-stabilisierende
Verhaltensweisen hinterfragen, zumal wenn sie (heute wie damals)
weithin als ausreichende Möglichkeiten des Heils angesehen
werden. Die herrschende Theokratie Israels, die das Heil durch
das Studium des Gesetzes und das Beobachten von Regeln und
Vorschriften gewährleistet sah, wurde durch die eschatologische
Predigt Jesu erschüttert. Dieser forderte dazu auf, das Heil von
der Zukunft des Messias her zu erwarten und in der Hoffnung auf
diese Zukunft dennoch so zu leben und verantwortlich zu handeln
wie der Messias, der schon gekommen war. "Nachfolge" kann
deshalb niemand - wie im Drama von Karl Kraus - als "Marionette"
oder "göttlicher Funktionär" betreiben. In der Nachfolge Christi
gibt es immer nur persönlich Gerufene und zu persönlicher
Verpflichtung Aufgerufene.
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