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Haben die Menschen kein Bedürfnis mehr nach Religion und
Glaube?
Kloster Stiepel, 21.09.1999
1. Kirche im Koma? Erosion der Gnadenanstalt?
Sehr verehrte Damen und Herren!
Ich habe zuerst einen Schrecken bekommen, als ich das Thema las,
welches Herr Kohlhase mir für heute gestellt hat. Zwar hat er
Recht. Er hatte am Telefon mit mir abgesprochen, worüber ich
sprechen sollte. Aber als ich dann einige Wochen später das
Jahresprogramm erhielt mit meiner Thematik, war ich trotzdem
irritiert und verunsichert, wie ein solches Thema zur Irritation
geeignet ist. Denn es klingt sehr pessimistisch, riecht nach
kirchlicher Untergangsstimmung - wie überhaupt die Titel mancher
Bücher und Broschüren. Wer möchte sich da schon zum
Untergangspropheten deklarieren lassen? Mir kommen dabei
mancherlei Erfahrungen in den Sinn, die ich in den letzten
Jahren mit Geistlichen und kirchlichen Hauptamtlichen gemacht
habe. Jemand hat seine Stimmung einmal so ausgedrückt: "Ich
rackere mich ab von morgens bis abends; oft bleibt mir keine
Zeit zum Nachdenken und zur Erholung. Mit dem Ergebnis: meine
Gemeinde stirbt etwas langsamer als die der anderen".
Oft reagieren solche Akteure des kirchlichen Lebens wie
gekränkte Liebhaber, deren gute Angebote und deren Werben um die
Kinder dieser Welt von diesen schnöde zurückgewiesen werden. Die
Konsequenz besteht dann allzu häufig darin, daß sie sich vom
"Zeitgeist" heftig distanzieren, obwohl niemand so richtig weiß,
was mit dem Wort "Zeitgeist" eigentlich gemeint ist. Sie treiben
eine Pastoral oder Theologie der gekränkten Seele. Oder
betreiben das Handwerk zum Aufbau einer harmlosen Kuschelkirche,
der alles vernünftige Argumentieren und nüchternes Hinschauen
auf die Realitäten des Lebens abhanden gekommen sind,
offensichtlich in der uneingestandenen Angst, daß Fakten die
eigenen Ideen und Konzepte durcheinanderbringen könnten. Als
Alternative zur nüchternen Diagnose und Bestandaufnahme gilt
dann der Grundsatz: "Glaubwürdig und wahr ist nur das, was man
fühlt und erlebt". Oder man schließt sich den Tönen von
Traditionalisten bzw. Fundamentalisten an - jenen Leuten mit dem
notorisch schlechten Gedächtnis, weil sie die Vergangenheit
verklären und dabei geflissentlich den Untergang verwalten,
statt sich mit wachem Blick auf die "Zeichen der Zeit"
einzulassen, um fähig zu werden, die Zukunft in kleinen
Schritten vorzubereiten und damit den Übergang zu gestalten.
Dabei haben die Pessimisten und Unglückspropheten noch nicht
einmal ganz Unrecht. Denn den Kirchen und deren Vertretern,
denen die Weltkinder früher hochwürdigst und ehrwürdigst
gegenübertraten, bläst der Wind heute eiskalt ins Gesicht. Die
Zahl der Gottesdienstbesucher am Sonntag hat sich inzwischen auf
ca. 18% eingependelt - mit fallender Tendenz. Von "ausblutenden
Gemeinden" ist die Rede, von der Vergreisung des Kirchenvolkes
und des Klerus - bis in die obersten Ränge der Hierarchie
hinein. Die Austrittsbewegung aus den Kirchen hält sich auf
hohem Niveau. Und das nicht nur in Europa. Wenn nicht alles
täuscht, spielen Afrika und besonders Lateinamerika dabei eine
Vorreiterrolle. Daß dabei der kirchliche Einfluß in den
jeweiligen Gesellschaften massiv zurückgeht, liegt auf der Hand.
Die neueren Diskussionen über das Ethikfach LER in einigen
Ländern wie auch die Frage nach der Sonntagsruhe in der heutigen
Geschäftswelt sind jüngste Beispiele dafür, daß das herkömmliche
Religions- und Glaubensverständnis gewaltigen Erosionen
unterliegt, und niemand kann genau sagen, wie lange sich die
"schrumpfenden Kirchen" dagegen zu wehren vermögen. Vermutlich
kommen nicht nur aus den ehemaligen DDR-Ländern da noch einige
Überraschungen auf uns zu - d.h. Entwicklungen, die nicht
besonders geeignet sind, die Christen "erlöster" auftreten zu
lassen als zur Zeit Nietzsches. Marketingforscher haben
herausgefunden, daß die "Kundenzufriedenheit" mit den beiden
großen Kirchen in Deutschland Manches zu wünschen übrig läßt.
Die Religionsgemeinschaften waren eine von 38 "Branchen", über
die 25000 Bürger ab dem 16.Lebensjahr aus den alten wie neuen
Bundesländern befragt wurden (1992). Das Ergebnis: die Kirchen
nehmen hinter dem Personennahverkehr in der Zufriedenheitsskala
mit einem Durchschnittswert von 2,94 (5er Skala) den 35. Rang
ein. Allerdings rangieren sie noch vor den Stadt- und
Kreisverwaltungen. Auch die christlichen Feste und deren Symbole
sind dabei, als "säkulare Feiertage" die Beziehung zum
Christentum rapide zu verlieren. Jüngst hat das
Justizministerium des USA-Staates Cincinnati amtlich bestätigt,
daß Weihnachten nicht mehr als "christliches Fest" anzusehen sei
(1998). Bei uns in Deutschland wissen immerhin noch 82% der
Gläubigen, daß es sich dabei um das Fest der Geburt Jesu
handelt. Über Ostern ist die Auskunft schon dürftiger: ca. 70%
haben noch eine Ahnung von der Auferstehung Christi; an
Pfingsten erkennen nur noch 25% den Anlaß des Feiertags als Fest
der Ausgießung des Hl. Geistes über die junge Kirche. Was die
Werte-Vermittlung angeht, so rangieren die Kirchen mit 37%
hinter Polizei (51%), Parteien (43%) und Greenpeace (38%). Bei
der Frage, wen der/die Befragte aufssuchen würde, wenn ein Rat
gebraucht würde, entscheiden sich 76% für Verwandte, 74% für
Freunde, immerhin je 12% für Psychologen oder Priester. Im
übrigen sind 71% der Deutschen der Meinung, daß der Einfluß der
Kirchen auf Politik und Gesellschaft immer noch zu groß sei. Die
Kirchen sollten sich gefälligst in ihre Sakristeien zurückziehen
und der Glaube in das Innere der Seelen. So werde die Religion
wieder das, was sie sei: Privatsache nach dem Motto: "Mag die
Welt auch noch so sausen, wir wollen hier im Stillen hausen".
2. "Lehre ist nicht gefragt".
Alle diese und ähnliche Entwicklungen sind nicht gerade
geeignet, den Kopf nach oben zu tragen. Was ich bisher gesagt
habe, erscheint aber noch harmlos im Blick auf die lapidare
Feststellung, die von der renommierten Zeitschrift "Christ in
der Gegenwart" aus Anlaß eines Gespräches zwischen Christen und
Atheisten abgedruckt wurde: "Die Lehre ist für Christen nicht
mehr wichtig". Von den Kirchen wird "keine Lehre mehr erwartet"
(37/91,299 und 45/91,374).
Tatsächlich stellen die Demoskopen schon seit Jahren fest, daß
der größte Teil der kirchlichen Lehren und Glaubenswahrheiten
von weniger als 20% der Leute akzeptiert und bejaht wird. Was im
1.Jahrtausend christlicher Geschichte als unverzichtbar und
lebensnotwendig auch für die Kirchen angesehen wurde: die
Rezeption durch das Volk dessen, was die Kirche lehrt und
glaubt, scheint heute völlig außer Kontrolle zu geraten bzw. "wegzubrechen"
- trotz Religionsunterricht, Katechesen und intensiver
Katechismus-Tradition. Immer mehr schaffen sich auch
Kirchenmitglieder ihre eigene Glaubenswelt, fernab von
kirchlichen Vorgaben und amtskirchlichen Weisungen.
Zum Beispiel stellt die Jörns-Studie (1992) als Ergebnisse
langjähriger Forschungen in evangekisch wie katholisch geprägten
Gebieten fest: Traditionelle Aussagen des christlichen Glaubens
verlieren an Bedeutung. Kernaussagen wie Dreifaltigkeit,
Erbsünde, Erlösung, Allmacht Gottes, Heiligkeit der Hl.
Schrift... sind für immer mehr Menschen ohne jede maßgebliche
Bedeutung für das eigene Leben. Es schwindet zunehmend der
Glaube an einen persönlichen Gott - auch bei solchen, die noch
regelmäßig Kontakt zu Gott im Gebet aufnehmen. Das Bild von
"Gott in drei Personen" hat kaum noch Bedeutung. Nur noch für
ein Viertel der Gottgläubigen ist Jesus Christus ein Name für
Gott; gut ein Drittel glaubt noch an die Allmacht Gottes; die
Sterblichkeit des Menschen wird nicht mehr mit seiner
Sündhaftigkeit in Verbindung gebracht, sondern gilt als
"normaler" Anteil der Geschöpflichkeit; die Erbsündenlehre stößt
auf völliges Unverständnis; Begriffe wie "Sünde" und "sündig"
sind aus dem Sprachschatz der Gläubigen verschwunden; Gott wird
kaum noch mit der Idee vom Jüngsten Gericht in Verbindung
gebracht; eine ganze Dimension der Erlösungslehre ist dabei
wegzubrechen; auch der Glaube an die Auferstehung der Toten
schwindet - sogar in Priester- und Pfarrerkreisen, die ihre
Botschaft immer weniger an dogmatischen Vorgaben orientieren -
ein Tatbestand, der jüngst die FAZ zu einem Aufschrei des
Protestes veranlaßt hat.
3. Von der "wahren Lehre" zum "wahren Leben".
Bei allem Lamentieren über den Ist-Stand habe ich mir schon seit
Jahren die Fragen erlaubt (z.B. in "Autoritätenwechsel"): Ist
das nicht alles auch - unabhängig von profanen Entwicklungen -
die Konsequenz jener Verwissenschaftlichung, Akademisierung und
Dogmatisierung des Glaubens und der Theologie seit dem 13.
Jahrhundert und jener "Lehramtstheologie" seit Luther, die immer
weniger Rücksicht nahmen auf die Rezeptionsfähigkeit und den
Verstehenshorizont des gläubigen Volkes, auf den "consensus
fidelium"? Die immer mehr auf blinden Gehorsam setzten und einen
(unverantwortlichen) Satz- und Meinungsglauben propagierten?
Haben die Menschen - früher viel weniger im Lesen und
Sich-Informieren geschult - ehemals besser verstanden, was die
hohe akademische Begrifflichkeit der Lehramtstheologie von sich
gab? Wurde die Lebens- und Glaubenserfahrung der (unkundigen)
"Laien" nicht immer schon draußen vor den Türen der
theologischen Fakultäten und Amtsstuben gelassen, weil ja - bei
einem vorgefertigten Glaubensverständnis - die einen zum
unmißverständlichen Verkünden und die anderen zum unverfälschten
Hören und Gehorchen, zum Für-wahr-halten berufen waren? Wurde
nicht hier ein innerkirchliches Schisma hausgemacht: die einen
verstehen etwas von Theologie und Glaube, die anderen vom
konkreten Leben?
Wenn Befragungen und Untersuchungen immer wieder darauf
hinauslaufen, daß eine gewaltige Kluft zwischen Lehre und Leben
besteht, zwischen kirchlicher und profaner Sprache, zwischen
amtlicher und säkularer Religiosität, dann sprechen diese Fakten
nicht nur eine unmißverständliche Sprache, sondern sie müssen
uns auch vor falschen Alternativen bewahren, die da heißen:
weniger "verkopfte Theologie" und mehr religiöses Gefühl und
Gemüt; weniger "Äußerlichkeit" und mehr "Innerlichkeit"; weniger
Actio und mehr Contemplatio; weniger "Materialität" und mehr
"Spiritualität" bis hin zu lebensfernen schwärmerischen
Ausuferungen, bei denen der Eindruck entsteht, als seien hier
"religiöse Kurpfuscher" am Werk. Die Lösung unserer Probleme
kann nur, wenn wir nicht von einem Extrem ins andere fallen
wollen, darin bestehen, daß wir uns zur konkreten
Geschichtlichkeit des Menschen bekehren. Was Newman vor gut 100
Jahren schon als die eigentliche Tot-Sünde der Kirchen
bezeichnete, nämlich die "Ignorierung des Menschen" und damit
auch die weitgehende Ignorierung der Menschwerdung Gottes,
bedarf heute der Kurskorrektur in Richtung: "Incarnatio fidei",
Humanisierung des Glaubens. Im Blick auf die heutige
Gesamtproblematik halte ich es mit L.Wittgenstein, der über die
(theologische) Wissenschaft sagt: "Wir fühlen, daß selbst, wenn
alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind,
unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind".
Ich denke: die Menschen nehmen sich heute die Freiheit und
können sie sich nehmen, genau dies bei den Kirchen anzumahnen.
Ging es nicht auch Jesus eher um das "wahre Leben" statt um
"objektiv" absolut wahre Lehren? Ging es den jungen Kirchen
nicht auch eher um das "Tun der Wahrheit" in glaubwürdigen
Lebens- und Umgangsformen als um das Diskutieren und kontroverse
Disputieren um Glaubensformeln und astreine Definitionen?
Ich habe mir vor einigen Wochen auf einem ökumenischen Kongreß
in Norddeutschland die Freiheit erlaubt, angesichts der seit
langen Jahren geführten "Rechtfertigungsdiskussion" und der im
Oktober 1999 vorgesehenen feierlichen Unterzeichnung eines
gemeinsamen "Konsenspapiers", einige Thesen vorzutragen -
wohlgemerkt: nach über 45o Jahren Lehrstreitigkeiten und
gegenseitigen Verurteilungen, Exkommunikationen und grausam
geführten Religionskriegen! Die Thesen gehen davon aus, daß ca.
80-90% der Gläubigen beider Kirchen gar nicht wissen, worum es
da überhaupt geht (wie bei vielen anderen "Lehren" übrigens
auch!). Sie bedenken die Sackgassen, in denen sich die Kirchen
mit ihrem "fortlaufenden Erfolg" und immer weniger "Hörern des
Wortes" befinden; sie nehmen den "toten Punkt" ernst, an dem wir
angelangt sind, "trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit" (A.Delp).
Denn Fragen stehen hier akut im Raum, die da lauten: Wenn so
viele Christen gar nicht wissen, worum es demnächst im Oktober
geht - wo ist denn da die bisherige "Uneinigkeit der Kirchen"
realistisch zu orten, und worin besteht mit der Unterzeichnung
des Papiers die erhoffte "neue Einigkeit"? In einem Papier auf
hohem akademischen Niveau kann sie ja wohl nicht begründet sein!
Im ganzen bleibt uns wohl - ob wir es wollen oder nicht - nichts
anderes übrig als das Grundanliegen Johannes XXIII. und des
Konzils energisch aufzugreifen und konsequent zu verfolgen. Es
geht darum, die Grundintentionen Jesu in einem neuen Licht
aufleuchten zu lassen und sie für die Welt von heute neu zu
erschließen nach dem Motto: "Die Rückkehr zu den Quellen ist
eine notwendige und notwendende Bedingung für jede Erneuerung".
Kierkegaard drückt es zukunftsträchtiger aus: "Der Kampf um das
Christentum wird nicht mehr ein Kampf bleiben um es als wahre
Lehre (Dies ist der Streit zwischen Orthodoxie und
Heterodoxie)... Es wird um es als eine Existenz gekämpft werden.
Die Streitfrage wird die Liebe zum Nächsten werden, die
Aufmerksamkeit wird sich auf Christi Leben richten, und das
Christentum wird wesentlich betont werden auch in Richtung der
Gleichförmigkeit mit seinem Leben... Die Empörung in der Welt
ruft: Wir wollen Taten sehen!"
Der Theologe D. Wiederkehr postuliert: anstatt kirchlicher
Rechthabereien "überzeugende Neu-Inszenierungen der christlichen
Hoffnung wagen!"
4. Christentum 2000: "Harmonisierung" gegensätzlicher
Lehrsysteme?
Oder: Schule des Leben- und Liebenlernens!
Wie angedeutet, stehen folgende Thesen heute entscheidend zu
Diskussion:
5. Lebens-Ämter gesucht, weniger Lehr-Ämter.
Thesen haben es in sich, daß sie lange diskutiert werden müssen,
vor allem, wenn sie "unzeitgemäß" sind. Sie machen einen
möglichst großen Konsens aller Menschen "guten Willens" nötig,
denen es weniger um persönliches Prestige und mehr um die
Nachfolge Christi geht. Zudem ereignet sich Nachfolge Christi
immer nur beim Gehen des Weges mitten im Leben und als
Antwort-Geben auf die Herausforderungen der Zeit. Die erwähnte
Jörns-Studie und andere haben gezeigt, daß für Menschen Religion
und Glaube dazu da sind, Leben zu gestalten, mit Lebensproblemen
fertig zu werden, Vertrauen und Hoffnung zu finden trotz der
Ängste, die es in der Welt gibt, aber auch gelungene Beziehungen
mit anderen leben zu lernen - Voraussetzung für jede Beziehung
des Menschen mit Gott. Um Leben zu bewältigen, "müssen Gott und
Menschen nicht (mehr) miteinander versöhnt werden. Die Menschen
gehen vielmehr davon aus, daß Gott auf ihrer Seite ist und ihnen
dazu hilft, den sie bedrängenden Lebensproblemen standhalten zu
können".
Dabei findet sich ein durchaus selbstkritisches Menschenbild,
aber auch die Bereitschaft, "ethisch verantwortlich zu leben".
Indem sich dabei eine "Personalisierung" und damit auch ein
"Gestaltwandel des Glaubens" abzeichnet, zeigen sich im Glauben
auch der Gottgläubigen Bereiche, "in denen sie Gott keine
Zuständigkeit zusprechen. Es sieht so aus, als wenn die
Emanzipation des Menschen von Gott gerade auch darin ernst
genommen wird, daß die Menschen bereit sind, die Verantwortung
für ihre destruktiven Neigungen selbst zu übernehmen, statt Gott
dafür verantwortlich zu machen".
Wo es beim Menschen darum geht, daß sie an einen Gott glauben
wollen, der ihnen zu einem sinnerfüllten Leben verhilft, sogar
mit der Perspektive "über den Tod hinaus", da sind die Kirchen
gefordert, solche Lebens- und Glaubensprozesse "von den Menschen
her" in Gang zu setzen. Schließlich verkünden sie ja einen
Christus, der als Gottessohn in die Welt gesandt, ein handfestes
Beispiel dafür geworden ist, wie Leben sinnvoll und gottgewollt
gelingen kann trotz äußerer Rückschläge und extremer
Lebenskatastrophen.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Konsequenzen auch
nur annähernd zu bedenken, die solche Lebens- und
Glaubensprozesse, deren Mitte die Lebensweise Jesu ist, auf die
zukünftige Pastoral haben müßten, auf das Kirchen- und
Ämterverständnis, auf die Art der Sakramentenbelebung, auf die
Kleriker- und Laienfragen usw. Fest scheint mir zu stehen, daß
die erwähnten Anliegen heutiger Menschen viel mit der Predigt
Jesu von der "schon jetzt" anbrechenden Gottesherrschaft zu tun
haben - wahrscheinlich weniger mit der kirchlichen
Lehramtstheologie. Ein Wort von K. Jaspers geht einem dabei
unablässig durch den Kopf: "Jesus bleibt die gewaltige Macht
gegen das Christentum, das ihn zu seinem Grunde machte".
Insofern braut sich hier ein gewaltiges Konfliktpotential
zusammen, welches sich, wird es in den großen Kirchen nicht
schöpferisch bewältigt, weiterhin in Zehntausenden von sog.
Sekten und "freien Kirchen" seine Kanäle und Flußbetten suchen
wird. Man kann über sie denken, was man will - Glaubens- und
Hoffnungsversuche sind sie allemal.
Statt aber solche und ähnliche Perspektiven an dieser Stelle
weiter zu verfolgen, seien hier zum Schluß einige "Eckdaten"
genannt, auf die es anzukommen scheint, wenn auf Zukunft hin der
Versuch unternommen werden soll, das Christentum wieder zu dem
zu machen, was es eigentlich ist: eine Schule des gemeinsamen
Leben- und Lieben-Lernens. Dabei wird es darauf ankommen:
- daß der Anschluß gefunden wird an das Evangelium und seine
ihm innewohnende "Dynamik des Anfangs". Dabei muß wieder
gesetzt werden auf die unverwüstliche Kraft der "kleinen
Leute" (die sich in Not- und Krisenzeiten oft besser bewährt
haben als Kirchenfürsten und Fachtheologen), also auf die von
Gott kom-menden schöpferischen Kräfte gerade auch des
"einfachen Volkes", zumal der Gedanke der Communio-Kirche seit
dem Konzil stets recht edel vertreten wurde, bisher aber nur
geringe Wirkungen gezeitigt hat.
- daß beim Prozeß der Einbeziehung der Lebens- und
Glaubenserfahrungen mög-lichst vieler in alle kirchlichen
Prozesse und Entscheidungen wie auch in die "Wei-tergabe des
Glaubens" ein neues Bewußtsein geschaffen wird für die
elementaren Anliegen der Botschaft Jesu (theologisch nicht
verstellt und kirchenamtlich nicht ver-bogen). Menschen müssen
diese verstehen lernen und sich damit identifizieren können.
"Glaube" muß wieder ein Bundes- und Beziehungsglaube werden,
ein Hingabe- und Verheißungsglaube (der im Heute standfest
macht und auf Zukünftiges hoffen läßt).
- daß die Kirche Jesu Christi wieder begriffen wird als eine
Kirche aus vielen Kirchen, mit vielen Lebensformen, Liturgien
und Theologien... - wie es der Vielfalt menschlichen Lebens
und göttlicher Wege entspricht. Schon das erste Jahrtausend
der Patriarchatskirchen hat gezeigt, daß die
römisch-katholische Kirche eine mögliche Variante der
Nachfolge-Gemeinschaften ist, wie auch immer sie sich
zukünftig gestaltet und entfaltet. Allen gemeinsam muß die
Mitte sein, aus der heraus sich Leben entfaltet: sie heißt
Jesus Christus. Es geht um seine wiedergefundene Denk- und
Handlungsweise in konkreten Lebenslagen, um die Fortsetzung
der Taten Gottes in der Welt.
Nach einem Wort von K. Rahner muß der Christ der Zukunft ein
"Mystiker" sein. Aber ein Mystiker besonderen Schlages: "Wer in
Gott versunken ist, der hört das weinende Kind und sieht die
Fliege an der Wand. Wer es nicht hört und sie nicht sieht, der
ist nicht in Gott versunken, sondern nur in sich selbst".
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