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Brauchen die Menschen von heute die Kirche?
"Anzeiger für die Seelsorge": September 1996
1. Angebotskirche
Neulich in einem Reisebüro. Die Agentin hatte es nicht leicht,
zwei Kunden mittleren Alters eine für sie passende Reise
ausfindig zu machen. Von vielen Reisezielen war da die Rede: von
Mallorca und Las Palmas, Andalusien und Mexiko, Florida und
Tunesien, vom Schwarzwald und der Schleswig-Holsteinschen
Seenplatte... Es dauerte lange, bis sich die beiden, nach schier
endlosem Hin und Her, auf eines der vielen Angebote einlassen
konnten. Offensichtlich waren sie schon an vielen Orten der Welt
gewesen und deshalb recht wählerisch. Bei den Angeboten der
Reiseberatung waren immer wieder die Bemerkungen zu hören: Das
kennen wir schon. Das interessiert uns nicht. Das ist nichts
Besonderes und ziemlich langweilig...
Beim Beobachten dieses Hin und Her, dieses "Ja" und "Doch lieber
nicht" fiel mir auf, daß ich solche und ähnliche Bemerkungen in
den letzten Jahren schon sehr oft gehört hatte, hauptsächlich
von Jüngeren und Leuten im mittleren Alter. In Gesprächen und
Diskussionen über die Kirche, den christlichen Glauben und die
sonntäglichen Gottesdienste, in denen sich kirchliches
Glaubensleben ja am deutlichsten und konzentriertesten zu Wort
meldet, war immer wieder zu hören gewesen: Das ist ja nichts
anderes als die ständige Wiederholung des Altbekannten, wenn
auch in unterschiedlich feierlicher und verständlicher Form. Das
ist bekannt und langweilig... Das bringt fürs Leben nichts...
Das interessiert mich nicht...
Tatsächlich ist das Interesse an der Kirche und deren Angeboten
rapide gesunken. Das zeigt seit Jahren das hohe Niveau der
Kirchenaustrttszahlen und der Austrittswilligen, die
desinteressiert am Rande stehen und aus irgendeinem unklaren
Grundgefühl heraus noch irgendwie dabei bleiben. Der Trend
schlägt sich zudem ständig in der Öffentlichkeit sich
wiederholenden und statistisch festgehaltenen Äußerungen zum
Thema Christentum und Kirche nieder - so, als wollte eine ganze
europäische Gesellschaft das nun zu Ende gehende Jahrtausend
rückblickend noch einmal überprüfen und Abschied nehmen von
einer Vergangenheit, der keine nennenswerte Zukunft mehr
zugesprochen wird. "Verlieren die Deutschen ihren Glauben?" "Die
Kirchenbindung in den Niederlanden löst sich am dramatischsten
auf". "Weniger als die Hälfte der Franzosen, Engländer, Belgier,
Skandinavier... haben noch Vertrauen zu ihren Kirchen". "Die
Menschen ohne religiöses Bekenntnis bilden in Österreich die
zweitgrößte Gruppe". "Nur noch jeder Vierte ein Christ". So oder
ähnlich lauten die alarmierenden Nachrichten.
Bei solch unverkennbaren Tendenzen bleiben nur noch die
unverbesserlichen Optimisten bzw. Opportunisten der naiven
Vorstellung verhaftet, als habe der Prozeß der Säkularisierung
und dem im Gefolge der Entkirchlichung nur die europäischen
Länder des Westens erfaßt. Von Polen, dem Heimatland des
Papstes, zeichnen sich nach der Wende ähnlich dramatische
Entwicklungen ab. Jüngst widersprachen bereits 59 Prozent der
Polen der vom Papst vorgetragenen Meinung, in Polen finde eine
"geplante Atheisierung" statt und 82 Prozent der Befragten
forderten eine größere Offenheit der Kirche in sozialen und
finanziellen Fragen, vor allem auch für die eingeleitete
demokratische Entwicklung; denn in der Kirche gäbe es starke "antidemokratische
Bestrebungen".
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, würde man in Afrika
das rapide Vorstoßen des Islam in herkömmlich "heidnische
Stammländer" näher in den Blick nehmen und das der Sekten und
"freien Kirchen", die zehntausendfach wie Pilze aus dem Boden
schießen. Aus Lateinamerika liegen Nachrichten vor, daß sich
täglich bis zu 8000 Katholiken einer anderen
Religionsgemeinschaft zuwenden. Bis zur Jahrtausendwende rechnet
man weltweit mit 120 Millionen Austritten - eine Entwicklung und
Herausforderung, die zu bewältigen die Kirche wohl mehr Jahre
brauchen wird als die kurze Zeit, die ihr noch bis zur
Jahrtausendwende bleiben.
2. Die Herausforderung. Wie ihr begegnen?
Max Weber hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß der
Nachteil jeder Wissenschaft (und der Theologie?) bei allen
Klarstellungen und sicheren Erkenntnissen darin besteht, daß sie
keine Werte, keinen Sinn mehr vermitteln und damit auch nicht
mehr auf die zentralen Fragen des Lebens einzelner Menschen zu
antworten vermögen. Ihre Reden wirkten in der Moderne wie
feierliche akademische Veranstaltungen, die die Rolle des
Sinn-Lieferanten verloren hätten. So käme es zu einer
"strukturellen Verwaisung" der metaphysischen Bedürfnisse des
Menschen. Die auf diese Weise "ortlos gewordenen Energien"
suchten sich ihren eigenen religiösen oder pseudo-religiösen
Weg.
Man könnte gegen diese Hypothese ins Feld führen, daß es in der
Kirche eine Fülle von Liturgien, Riten, Sakramenten und
Sakramentalien gibt, die dafür da sind, daß die metaphysischen
Bedürfnisse der Menschen eben nicht "ortlos" werden, sondern im
Gegenteil ihre festen Zeiten und Orte haben. Daraus könnte man
die Aufgabe und stets "modern" bleibende Verpflichtung ableiten,
den Sakramenten, den Riten und liturgischen Feiern die größte
Aufmerksamkeit zu schenken.
Tatsächlich haben diese mit der Lebensgeschichte von Menschen,
den einschneidenden Lebensabschnitten mit ihrem Auf und Nieder,
mit ihren Höhen und Tiefen sehr viel zu tun. Und nirgends sind
die Menschen so konkret ansprechbar wie in Augenblicken und
Situationen, die ihnen besonders wichtig sind, weil sie so etwas
wie Zäsuren im Leben darstellen und deshalb auch lange Zeit
prägend in Erinnerung bleiben. Es gibt also für die Kirche viel
zu tun, wenn sie sich um die Konkretheit solcher Lebensvollzüge
kümmert. Die Aufgabe würde darin bestehen, Anlässe wie Geburt
und Tod, Pubertät und Hochzeit, Berufsentscheidung und Autokauf,
Freizeitgestaltung und Ferienzeit möglichst menschennah zu
begleiten und die dafür vorhandenen Riten
anthropologisch-christlich so zu deuten, daß sie für jedermann
verständlich sind. Geschieht auf diesem weiten Feld, bei dem es
um die Bewältigung von Kontingenzerfahrungen geht und gehen muß,
um das "irgendwie damit fertig werden" (Lübbe), nicht genug? Und
wenn ja - warum dennoch die stets beschworene "Krise der
Sakramentenpastoral"?
3. Krise der Riten-Pastoral oder fehlende Voraussetzungen?
In mancher Hinsicht ist die heutige Kirchensituation der der
biblischen Zeit nicht ganz unähnlich. In den ersten
Jahrhunderten gab es auch nur die "kleine Herde": im Umfeld die
Mehrheit der Ungläubigen, der Nichtchristen und
Desinteressierten. In der Apostelgeschichte (2,42-47) schildert
der heilige Lukas vier Eckpfeiler, die er offensichtlich für das
Gemeindeleben als unverzichtbar ansieht - sozusagen
Überlebensstrategien bei der jungen Kirchen- und Gemeindebildung
und gleichzeitig Überzeugungspotential gegenüber einem
übermächtigen heidnischen Umfeld. Erstens ist da vom Festhalten
an der Lehre der Apostel die Rede. Diese Lehre ist kein
großartiges theologisches Gedanken- und Katechismus-System,
sozusagen geeignet für Spezialisten, die sich ein ganzes Leben
lang mit Theologie beschäftigen und aufgrund ihres Vielwissens
beim einfachen Volk den nachhaltigen Eindruck seiner
"Laienhaftigkeit", Inkompetenz und Sprachunfähigkeit
hinterlassen. "Lehre" meint vielmehr die dauernde und lebendige
Erinnerung an die Person Jesu, an das, was er vor Tod und
Auferstehung in konkreten Lebenslagen und Begegnungen gesagt und
getan hat. Die Christen lernten auf diese Weise, in ihren
Lebenslagen ähnlich zu denken und zu handeln. Die christlichen
Gemeinden der Frühzeit waren "Erinnerungsgemeinschaften",
Austausch- und Kommunikationsgemeinschaften, die sich am
heilsamen "Lebensmodell Jesus" zu orientieren versuchten und im
Denken und Handeln das Evangelium nicht nur predigten, sondern
auch in ihrer jeweiligen Jetzt-Zeit aktualisierten, sozusagen
für alle erkennbar "auf den Tag", auf den Punkt zu bringen
versuchten.
Von daher war auch der zweite Eckpfeiler der Gemeinschaft
plausibel und zwingend. Es herrschte in den frühen Gemeinden
keine Monologstruktur des Predigens auf der einen und des
Zuhörens auf der anderen Seite. Theologische Inhalte im heutigen
Sinn gab es noch nicht. Im Blick auf das "Lebensmodell Jesus"
herrschte ein reger Gedankenaustausch vor, der dazu führte, daß
die Lebens- und Glaubenserfahrungen der Beteiligten zur Sprache
gebracht werden konnte. Der Glaube an Christus begründete die
Überzeugung von der persönlichen Würde, Entscheidungs- und
Mitsprachekraft des einzelnen. Bei allen entscheidenden Fragen
mußte ein möglichst großer Konsens gefunden werden. Die
Beziehungsfähigkeit der Christen wurde dabei auf eine harte
Probe gestellt. Letztlich aber erwies sich diese Lebens- und
Vorgehensweise als "prophetisch-zeugnishaft", als "attraktiv"
auch für Außenstehende, die auf der Suche nach Gemeinschaft und
Kommunikation waren. Das ungewöhnliche Verhalten der Christen
führte schließlich nicht nur zu den verschiedenen lebensnahen
Theologien im NT und der Vielgestaltigkeit der Gemeindebildung,
sondern erklärt es auch, daß sich die "kleine Herde" behaupten
konnte, um schließlich sogar eine große weltgestaltende Kraft zu
entfalten.
Die Lebens- und Menschennähe christlicher Zusammenkünfte machte
den dritten Eckpfeiler eigentlich erst möglich und glaubwürdig:
die nicht ritualisierte und triumphalisierende Feier des
Brotbrechens als Fest der Gemeinschaft. In ihr ging es nicht um
die "Verwandlung" von Brot und Wein und um die Frage nach dem
dazu Bevollmächtigten. Das Pascha-Mahl war die Erinnerungsfeier
an das "letzte Abendmahl", an Leben, Tod und Auferstehung Jesu.
Es war zugleich ein Fest der Hoffnung auf seine Wiederkunft, an
das vollendete Reich Gottes, welches immer schon durch konkretes
Tun schrittweise im Leben zu verwirklichen war. Der Feier stand
gewöhnlich der Gemeindevorsteher vor oder die Gastgeberin bzw.
Gastgeber, in deren Haus sich die Christen versammelten.
Der vierte Eckpfeiler war - bei allem Sprechen miteinander - das
Sprechen mit Gott. Beides gehörte zusammen. Das
Zur-Sprache-Bringen des Lebens untereinander befähigte dazu, das
Leben auch vor Gott im Gebet zur Sprache zu bringen. Das "Vater
unser" zum Beispiel enthält die Bitten um die Gewährung dessen,
was die Jüngerinnen und Jünger Jesu am dringendsten brauchen:
das tägliche Brot, die Vergebung der Schuld, die Bewahrung vor
Versuchungen, die Hoffnung auf das Kommen des vollendeten
Reiches Gottes...
4. Viele pastorale Fragen.
Solche Eckpfeiler, zugleich Überlebensstrategien von damals, auf
das Heute übertragen, eröffnen den Horizont für viele pastorale
Fragen und Notwendigkeiten der Gegenwart. Zunächst ist es
auffallend, daß bei Lukas das "Brotbrechen" erst an dritter
Stelle kommt, was leicht die Vermutung aufkommen läßt, daß die
Feier des Brotbrechens dringend einen humanen Boden voraussetzt,
wenn sie nicht ritualistisch verkümmern oder den Eindruck
hinterlassen soll, traditionellen Bedürfnissen zu genügen oder
magischen Grundbefindlichkeiten zu entsprechen. Wenn man dazu
bedenkt, daß es das Wort "Sakrament" als "heilswirksames
Zeichen", ex opere operato wirksam, im NT noch gar nicht gibt;
daß sich die Sakramente im Laufe der Jahrhunderte entwickelt
haben und deren Siebenzahl bei Petrus Lombardus (gest.116o) zum
ersten Mal auftaucht; daß der sog. Taufbefehl (Mt 28,19f) wohl
nicht vom historischen Jesus stammt und auch Paulus in seinem
Bewußtsein, das Evangelium verkünden zu müssen und zu dürfen,
die Taufpraxis nicht auf einen Auftrag Jesu zurückführt (vgl.
1Kor 1,17) - in Anbetracht dieser und vieler anderer Tatbestände
stellt sich die Frage, wie die heutige Gemeindepastoral
weiterhin ihre vorrangige Priorität in der Sakramentenpraxis
sehen kann, zumal die eigentliche Kraft des Evangeliums in den
ersten Jahrhunderten von ihr wohl am wenigsten ausging? Oder
anders ausgedrückt: erst auf dem Boden des gelebten Lebens (als
"Nachfolge" und Einübung in die Praxis Jesu) und des kraftvoll
sich entfaltenden Evangeliums konnten die Sakramente ihre
"Zeichenhaftigkeit" und "Wirksamkeit" entfalten. Ebenso die
Predigt. Leben und Verkündigung waren jedenfalls nicht identisch
mit der so oder anders gestalteten Feier der Sakramente. Jene
gingen dieser voraus. Wäre dem nicht so gewesen - das
Christentum der ersten Zeit wäre wohl aus seinem Embryo-Zustand
so schnell nicht herausgewachsen, von seiner weltgestaltenden
Kraft über Jahrhunderte ganz zu schweigen.
Vielleicht ist es auch heute wieder höchste Zeit, anstatt von
der "Krise der Sakramente" zu sprechen, eher nach den fehlenden
Voraussetzungen zu fragen. Theologisch und kirchenrechtlich sind
im Laufe der Zeit diese Voraussetzungen zwar klargestellt
worden. Es bedarf zum gültigen Empfang des bevollmächtigten
Spenders, des disponierten Empfängers usw. Was aber für
Theologie und Kirche klar ist, scheint es für das NT wie für die
Leute von heute durchaus nicht zu sein. Diese mögen über Kirche
und Gemeinde viele Auskünfte zu geben fähig sein. Was sie auf
Anfrage wahrscheinlich nicht sagen würden oder zu sagen
vermöchten, war für die erste Zeit ein Marken- und
Erkennungszeichen der Christen: an ihren Früchten, an ihrer
Liebe zueinander kann man sie erkennen (z.B. Joh 13,35).
Bei Lukas stehen die lebendige Beziehung zu Christus wie auch
die zwischen den Christen an erster und zweiter Stelle - eine
humane Kultur des Miteinanders, die
allerdings in der frühen christlichen Zeit der mündlichen
Tradition, der noch intakten Familien- und Gemeinschaftsbande
"kirchlich" nicht eigens geschaffen werden mußte. Genau diese
aber ist in der heutigen Zeit weitgehend aus dem Lot geraten. M.
Buber hat unsere Zeitphase eine der "Hauslosigkeit" genannt, die
die frühere Zeit der Beheimatung, der traditionellen
Verwurzelung und Funktionssicherheit jedes einzelnen, der
"Behaustheit" abgelöst hat. Was früher auch gesellschaftlich
noch weitgehend in Ordnung war und von Lukas in einen größeren
christologischen Zusammenhang gestellt wird - muß es von der
Kirche heute in besonderer Weise "geschaffen" werden als
Voraussetzung dafür, daß Sakramentenpastoral und Verkündigung
überhaupt gelingen können? Wahrscheinlich muß hier ein ganz
neues Denken und Handeln bestimmend werden, zumal auch im Blick
auf viele christliche Jahrhunderte nicht sehr glaubwürdig
behauptet werden kann, die Schaffung einer "humanen Kultur" sei
ein zentrales kirchliches Anliegen gewesen...
5. Das pastorale Dilemma zwischen Versorgung und
"Kooperation".
Wahrscheinlich haben mit der sog. "Konstantinischen Wende" auch
die im Evangelium grundgelegten kommunikativen Voraussetzungen
des "Brotbrechens" aufgehört, ernst genommen zu werden. Indem
die Massen in die Kirche strömten, war auch der Anonymität
Vorschub geleistet. Die kirchliche Betriebsamkeit wurde
zweifellos immer mehr vom Konzept einer Versorgungspastoral
bestimmt. Hier die Sorgenden, dort die Versorgten. Hier der
Klerus, dort die Laien. Hier die Hauptamtlichen, dort die
Betreuten. Dazu war das meiste auf das "ewige Heil"
ausgerichtet.
Heute möchte man, unter dem Druck vieler gesellschaftlicher und
kultureller Entwicklungen, von der "versorgten Gemeinde" weg.
Von "mitsorgender Gemeinde" ist die Rede, von der "kooperativen
Pastoral" - wobei an vielen Stellen der Eindruck kaum aus der
Welt zu schaffen ist, daß das Wort "Kooperation" nur ein neues
Wort, ein Etikett ist für das alte Versorgungsdenken, also nicht
viel mehr ist als ein unbeabsichtigter, aber leicht
durchschaubarer Etikettenschwindel.
Denn wirkliche "Kooperation" kann eigentlich nur da zustande
kommen, wo zumindestens die beiden ersten Voraussetzungen des
Lukas zentral in den Blick genommen werden. Auch dem heutigen
Menschen geht es - und darin ist er dem biblischen Denken nicht
fern - um Subjekt- und Personwerdung, um das ihm allein
zukommende Charisma, um seine persönliche Würde und Aufarbeitung
seiner Geschichte, um seine Lebens- und Glaubensgeschichte und
konsequent um verantwortliche Mitbestimmung und Mitentscheidung
in allen wichtigen Belangen kirchlichen und christlichen
Miteinanders.
Wenn man sich im Blick auf das, was für Menschen von heute
eminent wichtig geworden ist, die kirchlichen Entwicklungen seit
dem 2. Vatikanischen Konzil und den vielen diözesanen
Synoden/Foren näher betrachtet, dann kann man nur erschreckt
sein über den bis in die existentiellen Wurzeln gehenden
ungelösten Konflikt zwischen "Amtskirche" und "Volk Gottes". Für
das informierte Volk besteht die christliche Existenzkrise
darin, daß es sich weiterhin nicht ernst genommen sieht, weil es
eigentlich nur solche Gedanken und Ideen vorzubringen hat, die
kirchenamtlich vorgesehen sind - so, als müßte der heilige Geist
auch immer erst das Kirchenrecht befragen, ob und wohin er sein
Volk führen darf. Zudem sprechen heute viele Indizien dafür, daß
das Engagement für Kirche und Gemeinden deshalb erlahmt oder gar
nicht erst zustande kommt, weil man das bisherige System von
Männern und "Monarchen" nicht mehr zu stützen bereit ist. Die
Amtskirche sieht sich ihrerseits in ihrer Existenz dadurch
bedroht, daß große Teile des herkömmlich betreuten Volkes völlig
ungewohnte und angeblich evangeliumsferne Vorstellungen
entwickeln im Blick auf synodale Strukturen in der Kirche, auf
Ämter und Ämterbesetzungen, auf Zölibatsfreiheit und "viri
probati", auf die Rolle und Weihefähigkeit der Frauen usw. -
eine Bedrohung, die durch andere christliche Bekenntnisse
gewaltig forciert wird, da diese längst solche Wege beschritten
haben und diese auch noch biblisch-theologisch zu begründen und
zu propagieren verstehen.
Solange also dem Volk keine größere Konsensfähigkeit zugestanden
und keine eindeutig-ehrliche Sprache erlaubt wird, bleibt
"Kooperation" ein leeres Wort, ein tönendes Gerede ohne
Glaubwürdigkeit und aller Voraussicht nach auch ohne solide,
notlindernde Folgen.
6. Die Domäne eines bestimmten Standes ist nicht gefragt.
Schlußfolgernd auf das Gesagte kann eigentlich nur festgestellt
werden: die Kirche braucht keinen Glauben, der Berge versetzt,
sondern einen Glauben, der sie selbst verändert. Der
Veränderungsprozeß müßte im Sinne des Lukas verlaufen mit dem
Ergebnis, daß die Menschen sich selbst wieder als Kirche, als
mittragende und mitentscheidende Subjekte aller wichtigen
Maßnahmen verstehen lernen und das nicht nur mit feierlichen
Worten bei Sonntagsreden, sondern in der Tat und Wahrheit. Die
Menschen lehnen nicht zu Unrecht eine Kirche ab und brauchen sie
auch nicht, die die Domäne eines bestimmten Standes von
Klerikern und Theologen ist. Wo dieser Zustand als beendet
erklärt wird, bedarf es einer leicht verständlichen Theologie,
die sich der elementaren Anliegen der Botschaft Jesu wieder voll
bewußt wird - statt einer systematischen und abstrakten Lehre,
die das Volk ohnehin nicht versteht und noch nie verstanden hat.
Die Menschen brauchen eine Kirche, die in dem Maße die ihre
wird, als sich in ihr die eigene Erfahrungswelt sprachlich und
kultisch artikuliert.
Was Lukas damals postulierte, hatte wahrscheinlich weniger mit
"Kirche" etwas zu tun, die es in der Jetzt-Form ohnehin noch
nicht gab, als vielmehr mit dem "Schon-Jetzt" des Reiches
Gottes, wie Jesus es verkündete und praktizierte. Erst beim
Nachvollziehen und "Tun" dessen, was Jesus menschennah und
situationsgerecht gesagt und getan hatte, wurden Kirchen- und
Gemeindebildungen überhaupt erst möglich und glaubwürdig. Beim
Vollzug der Fortsetzung der Taten Jesu eröffnete sich eine
überraschende Freiheit in der Entfaltung und Betätigung der
Charismen. Es entwickelten sich ein pluriformes Gemeindewesen,
die Vielfältigkeit der Ämter wie auch eine große Freizügigkeit
bei der Wahl und Auswahl derer, die sich für eine bestimmte
Aufgabe eigneten und bei deren Ausübung bewährten.
Die Menschen von heute brauchen "Kirche" nur in dem Maße, als
sich alle wieder gemeinsam auf den Weg des Suchens des Reiches
Gottes machen. Sofern dies - unabhängig von Appellen und
feierlichen Sonntagsreden - real geschieht, wird auch in Zukunft
wieder alles andere hinzugegeben werden: die lebensfähige
Spiritualität und gemeinsame Handlungsfähigkeit von Christus her
und auf Christus hin. Auch "Kirche" wird hinzugegeben werden,
d.h. Sozialformen von Kirchen und Gemeinden, die sich durch ihre
Nähe zum Menschen wie gleichzeitig zu den Werten des Evangeliums
auszeichnen und von daher Zeugnisse einer gelebten Wahrheit
sind. Nicht die erdachten Wahrheiten einer Lehre werden auf
Zukunft hin entscheidend sein, sondern die Wahrheit einer
Lebensführung, die sich an Jesus orientiert und im Erdreich von
menschlich erprobten Erfahrungen verwurzelt bleibt.Wie in den
ersten Jahrhunderten, wird es auch in Zukunft verstärkt wieder
sein: die Welt und "Außenwelt" kann und will die Güte, Echtheit
und "Heilsamkeit" der christlichen Botschaft nur verifizieren an
der "Wahrheit" des gelebten Lebens.
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