www.fritz-koester.de
Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Brauchen die Menschen von heute die Kirche?

"Anzeiger für die Seelsorge": September 1996

1. Angebotskirche
Neulich in einem Reisebüro. Die Agentin hatte es nicht leicht, zwei Kunden mittleren Alters eine für sie passende Reise ausfindig zu machen. Von vielen Reisezielen war da die Rede: von Mallorca und Las Palmas, Andalusien und Mexiko, Florida und Tunesien, vom Schwarzwald und der Schleswig-Holsteinschen Seenplatte... Es dauerte lange, bis sich die beiden, nach schier endlosem Hin und Her, auf eines der vielen Angebote einlassen konnten. Offensichtlich waren sie schon an vielen Orten der Welt gewesen und deshalb recht wählerisch. Bei den Angeboten der Reiseberatung waren immer wieder die Bemerkungen zu hören: Das kennen wir schon. Das interessiert uns nicht. Das ist nichts Besonderes und ziemlich langweilig...

Beim Beobachten dieses Hin und Her, dieses "Ja" und "Doch lieber nicht" fiel mir auf, daß ich solche und ähnliche Bemerkungen in den letzten Jahren schon sehr oft gehört hatte, hauptsächlich von Jüngeren und Leuten im mittleren Alter. In Gesprächen und Diskussionen über die Kirche, den christlichen Glauben und die sonntäglichen Gottesdienste, in denen sich kirchliches Glaubensleben ja am deutlichsten und konzentriertesten zu Wort meldet, war immer wieder zu hören gewesen: Das ist ja nichts anderes als die ständige Wiederholung des Altbekannten, wenn auch in unterschiedlich feierlicher und verständlicher Form. Das ist bekannt und langweilig... Das bringt fürs Leben nichts... Das interessiert mich nicht...

Tatsächlich ist das Interesse an der Kirche und deren Angeboten rapide gesunken. Das zeigt seit Jahren das hohe Niveau der Kirchenaustrttszahlen und der Austrittswilligen, die desinteressiert am Rande stehen und aus irgendeinem unklaren Grundgefühl heraus noch irgendwie dabei bleiben. Der Trend schlägt sich zudem ständig in der Öffentlichkeit sich wiederholenden und statistisch festgehaltenen Äußerungen zum Thema Christentum und Kirche nieder - so, als wollte eine ganze europäische Gesellschaft das nun zu Ende gehende Jahrtausend rückblickend noch einmal überprüfen und Abschied nehmen von einer Vergangenheit, der keine nennenswerte Zukunft mehr zugesprochen wird. "Verlieren die Deutschen ihren Glauben?" "Die Kirchenbindung in den Niederlanden löst sich am dramatischsten auf". "Weniger als die Hälfte der Franzosen, Engländer, Belgier, Skandinavier... haben noch Vertrauen zu ihren Kirchen". "Die Menschen ohne religiöses Bekenntnis bilden in Österreich die zweitgrößte Gruppe". "Nur noch jeder Vierte ein Christ". So oder ähnlich lauten die alarmierenden Nachrichten.

Bei solch unverkennbaren Tendenzen bleiben nur noch die unverbesserlichen Optimisten bzw. Opportunisten der naiven Vorstellung verhaftet, als habe der Prozeß der Säkularisierung und dem im Gefolge der Entkirchlichung nur die europäischen Länder des Westens erfaßt. Von Polen, dem Heimatland des Papstes, zeichnen sich nach der Wende ähnlich dramatische Entwicklungen ab. Jüngst widersprachen bereits 59 Prozent der Polen der vom Papst vorgetragenen Meinung, in Polen finde eine "geplante Atheisierung" statt und 82 Prozent der Befragten forderten eine größere Offenheit der Kirche in sozialen und finanziellen Fragen, vor allem auch für die eingeleitete demokratische Entwicklung; denn in der Kirche gäbe es starke "antidemokratische Bestrebungen".

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, würde man in Afrika das rapide Vorstoßen des Islam in herkömmlich "heidnische Stammländer" näher in den Blick nehmen und das der Sekten und "freien Kirchen", die zehntausendfach wie Pilze aus dem Boden schießen. Aus Lateinamerika liegen Nachrichten vor, daß sich täglich bis zu 8000 Katholiken einer anderen Religionsgemeinschaft zuwenden. Bis zur Jahrtausendwende rechnet man weltweit mit 120 Millionen Austritten - eine Entwicklung und Herausforderung, die zu bewältigen die Kirche wohl mehr Jahre brauchen wird als die kurze Zeit, die ihr noch bis zur Jahrtausendwende bleiben.

2. Die Herausforderung. Wie ihr begegnen?
Max Weber hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß der Nachteil jeder Wissenschaft (und der Theologie?) bei allen Klarstellungen und sicheren Erkenntnissen darin besteht, daß sie keine Werte, keinen Sinn mehr vermitteln und damit auch nicht mehr auf die zentralen Fragen des Lebens einzelner Menschen zu antworten vermögen. Ihre Reden wirkten in der Moderne wie feierliche akademische Veranstaltungen, die die Rolle des Sinn-Lieferanten verloren hätten. So käme es zu einer "strukturellen Verwaisung" der metaphysischen Bedürfnisse des Menschen. Die auf diese Weise "ortlos gewordenen Energien" suchten sich ihren eigenen religiösen oder pseudo-religiösen Weg.

Man könnte gegen diese Hypothese ins Feld führen, daß es in der Kirche eine Fülle von Liturgien, Riten, Sakramenten und Sakramentalien gibt, die dafür da sind, daß die metaphysischen Bedürfnisse der Menschen eben nicht "ortlos" werden, sondern im Gegenteil ihre festen Zeiten und Orte haben. Daraus könnte man die Aufgabe und stets "modern" bleibende Verpflichtung ableiten, den Sakramenten, den Riten und liturgischen Feiern die größte Aufmerksamkeit zu schenken.

Tatsächlich haben diese mit der Lebensgeschichte von Menschen, den einschneidenden Lebensabschnitten mit ihrem Auf und Nieder, mit ihren Höhen und Tiefen sehr viel zu tun. Und nirgends sind die Menschen so konkret ansprechbar wie in Augenblicken und Situationen, die ihnen besonders wichtig sind, weil sie so etwas wie Zäsuren im Leben darstellen und deshalb auch lange Zeit prägend in Erinnerung bleiben. Es gibt also für die Kirche viel zu tun, wenn sie sich um die Konkretheit solcher Lebensvollzüge kümmert. Die Aufgabe würde darin bestehen, Anlässe wie Geburt und Tod, Pubertät und Hochzeit, Berufsentscheidung und Autokauf, Freizeitgestaltung und Ferienzeit möglichst menschennah zu begleiten und die dafür vorhandenen Riten anthropologisch-christlich so zu deuten, daß sie für jedermann verständlich sind. Geschieht auf diesem weiten Feld, bei dem es um die Bewältigung von Kontingenzerfahrungen geht und gehen muß, um das "irgendwie damit fertig werden" (Lübbe), nicht genug? Und wenn ja - warum dennoch die stets beschworene "Krise der Sakramentenpastoral"?

3. Krise der Riten-Pastoral oder fehlende Voraussetzungen?
In mancher Hinsicht ist die heutige Kirchensituation der der biblischen Zeit nicht ganz unähnlich. In den ersten Jahrhunderten gab es auch nur die "kleine Herde": im Umfeld die Mehrheit der Ungläubigen, der Nichtchristen und Desinteressierten. In der Apostelgeschichte (2,42-47) schildert der heilige Lukas vier Eckpfeiler, die er offensichtlich für das Gemeindeleben als unverzichtbar ansieht - sozusagen Überlebensstrategien bei der jungen Kirchen- und Gemeindebildung und gleichzeitig Überzeugungspotential gegenüber einem übermächtigen heidnischen Umfeld. Erstens ist da vom Festhalten an der Lehre der Apostel die Rede. Diese Lehre ist kein großartiges theologisches Gedanken- und Katechismus-System, sozusagen geeignet für Spezialisten, die sich ein ganzes Leben lang mit Theologie beschäftigen und aufgrund ihres Vielwissens beim einfachen Volk den nachhaltigen Eindruck seiner "Laienhaftigkeit", Inkompetenz und Sprachunfähigkeit hinterlassen. "Lehre" meint vielmehr die dauernde und lebendige Erinnerung an die Person Jesu, an das, was er vor Tod und Auferstehung in konkreten Lebenslagen und Begegnungen gesagt und getan hat. Die Christen lernten auf diese Weise, in ihren Lebenslagen ähnlich zu denken und zu handeln. Die christlichen Gemeinden der Frühzeit waren "Erinnerungsgemeinschaften", Austausch- und Kommunikationsgemeinschaften, die sich am heilsamen "Lebensmodell Jesus" zu orientieren versuchten und im Denken und Handeln das Evangelium nicht nur predigten, sondern auch in ihrer jeweiligen Jetzt-Zeit aktualisierten, sozusagen für alle erkennbar "auf den Tag", auf den Punkt zu bringen versuchten.

Von daher war auch der zweite Eckpfeiler der Gemeinschaft plausibel und zwingend. Es herrschte in den frühen Gemeinden keine Monologstruktur des Predigens auf der einen und des Zuhörens auf der anderen Seite. Theologische Inhalte im heutigen Sinn gab es noch nicht. Im Blick auf das "Lebensmodell Jesus" herrschte ein reger Gedankenaustausch vor, der dazu führte, daß die Lebens- und Glaubenserfahrungen der Beteiligten zur Sprache gebracht werden konnte. Der Glaube an Christus begründete die Überzeugung von der persönlichen Würde, Entscheidungs- und Mitsprachekraft des einzelnen. Bei allen entscheidenden Fragen mußte ein möglichst großer Konsens gefunden werden. Die Beziehungsfähigkeit der Christen wurde dabei auf eine harte Probe gestellt. Letztlich aber erwies sich diese Lebens- und Vorgehensweise als "prophetisch-zeugnishaft", als "attraktiv" auch für Außenstehende, die auf der Suche nach Gemeinschaft und Kommunikation waren. Das ungewöhnliche Verhalten der Christen führte schließlich nicht nur zu den verschiedenen lebensnahen Theologien im NT und der Vielgestaltigkeit der Gemeindebildung, sondern erklärt es auch, daß sich die "kleine Herde" behaupten konnte, um schließlich sogar eine große weltgestaltende Kraft zu entfalten.

Die Lebens- und Menschennähe christlicher Zusammenkünfte machte den dritten Eckpfeiler eigentlich erst möglich und glaubwürdig: die nicht ritualisierte und triumphalisierende Feier des Brotbrechens als Fest der Gemeinschaft. In ihr ging es nicht um die "Verwandlung" von Brot und Wein und um die Frage nach dem dazu Bevollmächtigten. Das Pascha-Mahl war die Erinnerungsfeier an das "letzte Abendmahl", an Leben, Tod und Auferstehung Jesu. Es war zugleich ein Fest der Hoffnung auf seine Wiederkunft, an das vollendete Reich Gottes, welches immer schon durch konkretes Tun schrittweise im Leben zu verwirklichen war. Der Feier stand gewöhnlich der Gemeindevorsteher vor oder die Gastgeberin bzw. Gastgeber, in deren Haus sich die Christen versammelten.

Der vierte Eckpfeiler war - bei allem Sprechen miteinander - das Sprechen mit Gott. Beides gehörte zusammen. Das Zur-Sprache-Bringen des Lebens untereinander befähigte dazu, das Leben auch vor Gott im Gebet zur Sprache zu bringen. Das "Vater unser" zum Beispiel enthält die Bitten um die Gewährung dessen, was die Jüngerinnen und Jünger Jesu am dringendsten brauchen: das tägliche Brot, die Vergebung der Schuld, die Bewahrung vor Versuchungen, die Hoffnung auf das Kommen des vollendeten Reiches Gottes...


4. Viele pastorale Fragen.
Solche Eckpfeiler, zugleich Überlebensstrategien von damals, auf das Heute übertragen, eröffnen den Horizont für viele pastorale Fragen und Notwendigkeiten der Gegenwart. Zunächst ist es auffallend, daß bei Lukas das "Brotbrechen" erst an dritter Stelle kommt, was leicht die Vermutung aufkommen läßt, daß die Feier des Brotbrechens dringend einen humanen Boden voraussetzt, wenn sie nicht ritualistisch verkümmern oder den Eindruck hinterlassen soll, traditionellen Bedürfnissen zu genügen oder magischen Grundbefindlichkeiten zu entsprechen. Wenn man dazu bedenkt, daß es das Wort "Sakrament" als "heilswirksames Zeichen", ex opere operato wirksam, im NT noch gar nicht gibt; daß sich die Sakramente im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben und deren Siebenzahl bei Petrus Lombardus (gest.116o) zum ersten Mal auftaucht; daß der sog. Taufbefehl (Mt 28,19f) wohl nicht vom historischen Jesus stammt und auch Paulus in seinem Bewußtsein, das Evangelium verkünden zu müssen und zu dürfen, die Taufpraxis nicht auf einen Auftrag Jesu zurückführt (vgl. 1Kor 1,17) - in Anbetracht dieser und vieler anderer Tatbestände stellt sich die Frage, wie die heutige Gemeindepastoral weiterhin ihre vorrangige Priorität in der Sakramentenpraxis sehen kann, zumal die eigentliche Kraft des Evangeliums in den ersten Jahrhunderten von ihr wohl am wenigsten ausging? Oder anders ausgedrückt: erst auf dem Boden des gelebten Lebens (als "Nachfolge" und Einübung in die Praxis Jesu) und des kraftvoll sich entfaltenden Evangeliums konnten die Sakramente ihre "Zeichenhaftigkeit" und "Wirksamkeit" entfalten. Ebenso die Predigt. Leben und Verkündigung waren jedenfalls nicht identisch mit der so oder anders gestalteten Feier der Sakramente. Jene gingen dieser voraus. Wäre dem nicht so gewesen - das Christentum der ersten Zeit wäre wohl aus seinem Embryo-Zustand so schnell nicht herausgewachsen, von seiner weltgestaltenden Kraft über Jahrhunderte ganz zu schweigen.

Vielleicht ist es auch heute wieder höchste Zeit, anstatt von der "Krise der Sakramente" zu sprechen, eher nach den fehlenden Voraussetzungen zu fragen. Theologisch und kirchenrechtlich sind im Laufe der Zeit diese Voraussetzungen zwar klargestellt worden. Es bedarf zum gültigen Empfang des bevollmächtigten Spenders, des disponierten Empfängers usw. Was aber für Theologie und Kirche klar ist, scheint es für das NT wie für die Leute von heute durchaus nicht zu sein. Diese mögen über Kirche und Gemeinde viele Auskünfte zu geben fähig sein. Was sie auf Anfrage wahrscheinlich nicht sagen würden oder zu sagen vermöchten, war für die erste Zeit ein Marken- und Erkennungszeichen der Christen: an ihren Früchten, an ihrer Liebe zueinander kann man sie erkennen (z.B. Joh 13,35).

Bei Lukas stehen die lebendige Beziehung zu Christus wie auch die zwischen den Christen an erster und zweiter Stelle - eine humane Kultur des Miteinanders, die
allerdings in der frühen christlichen Zeit der mündlichen Tradition, der noch intakten Familien- und Gemeinschaftsbande "kirchlich" nicht eigens geschaffen werden mußte. Genau diese aber ist in der heutigen Zeit weitgehend aus dem Lot geraten. M. Buber hat unsere Zeitphase eine der "Hauslosigkeit" genannt, die die frühere Zeit der Beheimatung, der traditionellen Verwurzelung und Funktionssicherheit jedes einzelnen, der "Behaustheit" abgelöst hat. Was früher auch gesellschaftlich noch weitgehend in Ordnung war und von Lukas in einen größeren christologischen Zusammenhang gestellt wird - muß es von der Kirche heute in besonderer Weise "geschaffen" werden als Voraussetzung dafür, daß Sakramentenpastoral und Verkündigung überhaupt gelingen können? Wahrscheinlich muß hier ein ganz neues Denken und Handeln bestimmend werden, zumal auch im Blick auf viele christliche Jahrhunderte nicht sehr glaubwürdig behauptet werden kann, die Schaffung einer "humanen Kultur" sei ein zentrales kirchliches Anliegen gewesen...

5. Das pastorale Dilemma zwischen Versorgung und "Kooperation".
Wahrscheinlich haben mit der sog. "Konstantinischen Wende" auch die im Evangelium grundgelegten kommunikativen Voraussetzungen des "Brotbrechens" aufgehört, ernst genommen zu werden. Indem die Massen in die Kirche strömten, war auch der Anonymität Vorschub geleistet. Die kirchliche Betriebsamkeit wurde zweifellos immer mehr vom Konzept einer Versorgungspastoral bestimmt. Hier die Sorgenden, dort die Versorgten. Hier der Klerus, dort die Laien. Hier die Hauptamtlichen, dort die Betreuten. Dazu war das meiste auf das "ewige Heil" ausgerichtet.

Heute möchte man, unter dem Druck vieler gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen, von der "versorgten Gemeinde" weg. Von "mitsorgender Gemeinde" ist die Rede, von der "kooperativen Pastoral" - wobei an vielen Stellen der Eindruck kaum aus der Welt zu schaffen ist, daß das Wort "Kooperation" nur ein neues Wort, ein Etikett ist für das alte Versorgungsdenken, also nicht viel mehr ist als ein unbeabsichtigter, aber leicht durchschaubarer Etikettenschwindel.

Denn wirkliche "Kooperation" kann eigentlich nur da zustande kommen, wo zumindestens die beiden ersten Voraussetzungen des Lukas zentral in den Blick genommen werden. Auch dem heutigen Menschen geht es - und darin ist er dem biblischen Denken nicht fern - um Subjekt- und Personwerdung, um das ihm allein zukommende Charisma, um seine persönliche Würde und Aufarbeitung seiner Geschichte, um seine Lebens- und Glaubensgeschichte und konsequent um verantwortliche Mitbestimmung und Mitentscheidung in allen wichtigen Belangen kirchlichen und christlichen Miteinanders.

Wenn man sich im Blick auf das, was für Menschen von heute eminent wichtig geworden ist, die kirchlichen Entwicklungen seit dem 2. Vatikanischen Konzil und den vielen diözesanen Synoden/Foren näher betrachtet, dann kann man nur erschreckt sein über den bis in die existentiellen Wurzeln gehenden ungelösten Konflikt zwischen "Amtskirche" und "Volk Gottes". Für das informierte Volk besteht die christliche Existenzkrise darin, daß es sich weiterhin nicht ernst genommen sieht, weil es eigentlich nur solche Gedanken und Ideen vorzubringen hat, die kirchenamtlich vorgesehen sind - so, als müßte der heilige Geist auch immer erst das Kirchenrecht befragen, ob und wohin er sein Volk führen darf. Zudem sprechen heute viele Indizien dafür, daß das Engagement für Kirche und Gemeinden deshalb erlahmt oder gar nicht erst zustande kommt, weil man das bisherige System von Männern und "Monarchen" nicht mehr zu stützen bereit ist. Die Amtskirche sieht sich ihrerseits in ihrer Existenz dadurch bedroht, daß große Teile des herkömmlich betreuten Volkes völlig ungewohnte und angeblich evangeliumsferne Vorstellungen entwickeln im Blick auf synodale Strukturen in der Kirche, auf Ämter und Ämterbesetzungen, auf Zölibatsfreiheit und "viri probati", auf die Rolle und Weihefähigkeit der Frauen usw. - eine Bedrohung, die durch andere christliche Bekenntnisse gewaltig forciert wird, da diese längst solche Wege beschritten haben und diese auch noch biblisch-theologisch zu begründen und zu propagieren verstehen.

Solange also dem Volk keine größere Konsensfähigkeit zugestanden und keine eindeutig-ehrliche Sprache erlaubt wird, bleibt "Kooperation" ein leeres Wort, ein tönendes Gerede ohne Glaubwürdigkeit und aller Voraussicht nach auch ohne solide, notlindernde Folgen.

6. Die Domäne eines bestimmten Standes ist nicht gefragt.
Schlußfolgernd auf das Gesagte kann eigentlich nur festgestellt werden: die Kirche braucht keinen Glauben, der Berge versetzt, sondern einen Glauben, der sie selbst verändert. Der Veränderungsprozeß müßte im Sinne des Lukas verlaufen mit dem Ergebnis, daß die Menschen sich selbst wieder als Kirche, als mittragende und mitentscheidende Subjekte aller wichtigen Maßnahmen verstehen lernen und das nicht nur mit feierlichen Worten bei Sonntagsreden, sondern in der Tat und Wahrheit. Die Menschen lehnen nicht zu Unrecht eine Kirche ab und brauchen sie auch nicht, die die Domäne eines bestimmten Standes von Klerikern und Theologen ist. Wo dieser Zustand als beendet erklärt wird, bedarf es einer leicht verständlichen Theologie, die sich der elementaren Anliegen der Botschaft Jesu wieder voll bewußt wird - statt einer systematischen und abstrakten Lehre, die das Volk ohnehin nicht versteht und noch nie verstanden hat. Die Menschen brauchen eine Kirche, die in dem Maße die ihre wird, als sich in ihr die eigene Erfahrungswelt sprachlich und kultisch artikuliert.

Was Lukas damals postulierte, hatte wahrscheinlich weniger mit "Kirche" etwas zu tun, die es in der Jetzt-Form ohnehin noch nicht gab, als vielmehr mit dem "Schon-Jetzt" des Reiches Gottes, wie Jesus es verkündete und praktizierte. Erst beim Nachvollziehen und "Tun" dessen, was Jesus menschennah und situationsgerecht gesagt und getan hatte, wurden Kirchen- und Gemeindebildungen überhaupt erst möglich und glaubwürdig. Beim Vollzug der Fortsetzung der Taten Jesu eröffnete sich eine überraschende Freiheit in der Entfaltung und Betätigung der Charismen. Es entwickelten sich ein pluriformes Gemeindewesen, die Vielfältigkeit der Ämter wie auch eine große Freizügigkeit bei der Wahl und Auswahl derer, die sich für eine bestimmte Aufgabe eigneten und bei deren Ausübung bewährten.

Die Menschen von heute brauchen "Kirche" nur in dem Maße, als sich alle wieder gemeinsam auf den Weg des Suchens des Reiches Gottes machen. Sofern dies - unabhängig von Appellen und feierlichen Sonntagsreden - real geschieht, wird auch in Zukunft wieder alles andere hinzugegeben werden: die lebensfähige Spiritualität und gemeinsame Handlungsfähigkeit von Christus her und auf Christus hin. Auch "Kirche" wird hinzugegeben werden, d.h. Sozialformen von Kirchen und Gemeinden, die sich durch ihre Nähe zum Menschen wie gleichzeitig zu den Werten des Evangeliums auszeichnen und von daher Zeugnisse einer gelebten Wahrheit sind. Nicht die erdachten Wahrheiten einer Lehre werden auf Zukunft hin entscheidend sein, sondern die Wahrheit einer Lebensführung, die sich an Jesus orientiert und im Erdreich von menschlich erprobten Erfahrungen verwurzelt bleibt.Wie in den ersten Jahrhunderten, wird es auch in Zukunft verstärkt wieder sein: die Welt und "Außenwelt" kann und will die Güte, Echtheit und "Heilsamkeit" der christlichen Botschaft nur verifizieren an der "Wahrheit" des gelebten Lebens.


Letzte SeitenÄnderung: 08.03.2005.
Bitte beachten Sie meine Nutzungsbedingungen.