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Was ist eigentlich "christlich" am Christentum?
Tagung: 02./03.Nov. 1999
Diese Frage kommt mir immer wieder. Oft werde ich auch danach
gefragt. Und wenn jemand den Anschein erweckt, etwas Wichtiges
darüber aussagen zu können oder wenn es etwas Gedrucktes über
diese Frage zu lesen gibt, dann greife ich allzu gerne danach.
Sehr oft bin ich dann schon enttäuscht worden, weil es sich bei
den gebotenen Antworten um Bagatellen handelt, die jede
Gruppierung heute für sich in Anspruch nimmt. Da schreibt zum
Beispiel ein Bischof: christliches "Profil" zeige sich in
Tugenden und Haltungen wie Liebe, Toleranz, gegenseitiger
Akzeptanz, offenem Miteinander im Gespräch, Lernbereitschaft
voneinander, demokratischer Gesinnung, Geschwisterlichkeit und
Brüderlichkeit, Staunen und Ehrfurcht gegenüber der Natur und
Schöpfung usw.
Oft werden bei solcher Aufzählung auch "qualifizierte
Fähigkeiten" genannt, die viel mit der heutigen Freizeit-,
Konsum- und Leistungsgesellschaft zu tun haben - insofern
bemerkenswert, als sich christlich potente Vertreter immer
wieder gegen neu-zeitlich-moderne "Unkultur" gewehrt haben und
sich bis heute wehren. Ich denke dabei an die Wertvorstellungen
in der Zeit der Renaissance und des Humanismus, an die der
Französischen Revolution oder an die der Reformation Martin
Luthers - ganz zu schweigen von anderen "religiösen", aber
kirchenfernen Aufbrüchen.
Was ist also "christlich" am Christentum? Peinlich wird die
Frage geradezu, wenn da von "christlichen Merkmalen" gesprochen
wird, die sich aber in der Praxis des Lebens bei der "profanen
Konkurrenz" überzeugender darstellen als in Bereichen des
explizit Christlichen; wenn zum Beispiel Eltern und Jugendliche
in Fußballvereinen und bei der Feuerwehr mehr Teamgeist,
Kameradschaft, Kommunikation und Gespräch über "Gott und die
Welt" feststellen als in offiziell christlichen Verbänden und
Gremien.
Was ist also "christlich"? Ich versuche, einen Zugang zu dieser
Frage zu finden, indem ich fünf Fragen stelle und fünf Antworten
versuche. Vom Evangelium her dürfen sie nicht "minimalistisch",
aber auch nicht "idealistisch" oder gar gespielt-enthusiastisch
ausfallen. Denn das Evangelium zeichnet sich bekanntlich durch
einen erstaunlich lebensnahen Realismus aus. Man muß viel
darüber nachdenken und "erdgebunden" bleiben, um ihn nicht zu
verlieren. Bis ans Ende der Welt darf man nicht aufhören, den
wirklichen Anliegen Jesu auf der Spur zu bleiben. Sie müssen
sich als "Profil" auch immer wieder abheben von vermeintlichen
bzw. kirchenpolitisch herbei geredeten Prioritäten. In einer
immer mehr "plural" sich gebenden Welt wird ein Christentum,
welches sich immer weniger auf gesellschaftliche oder politische
"Außenstützen" verlassen kann, nur bestehen können, wenn es
eindeutig sagen und "tun" kann, welches sein Spezifikum ist.
Hier meine fünf Fragen und Antworten:
1. Ein "christliches" Profil kann uns nur vorgegeben sein durch
die Person und das Werk Jesu Christi, in dessen Namen wir unser
Leben gestalten und unsere Arbeit tun - worin besteht dieses
"Profil"? Es besteht kein Zweifel darüber, daß das Auftreten
Jesu in der damaligen Zeit insofern "auffällig" wurde, als sein
Denken und Handeln auf die Armen, die Hilfsbedürftigen und
Ausgegrenzten konzentriert waren. An den Kranken, Behinderten
und Aussätzigen machte er deutlich, worum es ihm bei seiner
Botschaft ging: das Reich Gottes muß immer schon jetzt seinen
Anfang nehmen! Alles heilende und erlösende Denken und Handeln
gleichen einer Aussaat, die immer im Hier und Heute fällig ist,
damit es überhaupt zu einem erlösenden und heilsamen Werden und
Wachsen beim Menschen wie unter den Menschen kommen kann.
2. Wie weit ist Jesus damit gekommen? Vom Standpunkt
Außenstehender aus, die mit einem großen Erwartungshorizont die
Worte und Taten Jesu als "göttlich", heilsam und im hohen Maße
als befreiend erfahren hatten und die ihn deshalb zum Herrscher
und König machen wollten, n i c h t sehr weit. Jesus hat
machtvolle und triumphalistische Positionen nicht nur für sich
abgelehnt und zugleich seine Jünger am "Karriere-Denken"
gehindert (Mt.18,1-5;Mk.1o,35-45), sondern auch die religiös und
politisch Mächtigen und Einflußreichen "nervig" hinterfragt.
Sein Leben mündete aus diesen und anderen Gründen in eine äußere
Katastrophe. Dabei wurde aber unübersehbar die Grundstruktur
seiner Predigt offenbar gemacht: das Reich Gottes ist ein
langsamer, aber unaufhaltsam werdender und wachsender Prozeß. Es
ist wie ein Sauerteig oder wie das Salz der Erde... Es "w i r d"
bis zum Tag der Ernte, an dem die vollendete Welt, die endgültig
erlöste Schöpfung im neuen Licht Gottes erstrahlen wird.
3. Wie weit ist "die Kirche" seit 2000 Jahren gekommen? In
vieler Hinsicht ist die Kirche auch n i c h t sehr viel weiter
gekommen. Das umso weniger, je mehr sie auf Geld, Macht, Einfluß
und "großartige" theologische Gedankensysteme setzte (was in
heutiger Zeit weltweit immer mehr zu einer Belastung wird). Wo
sie wirklich überzeugend weitergekommen ist - das sind die
zahlreichen Bereiche, in denen Christen exemplarisch und
beispielhaft ihren Dienst an den Armen und Hilfsbedürftigen
ausüben. Heute besitzt das Christentum in buddhistischen,
islamischen und anderen nicht-christlichen Ländern eine große
Anziehungs- und Überzeugungskraft, insofern es pädagogische,
medizinische und sozial-caritative Einrichtungen unterhält, die
einfach für die Menschen da sind. Je weniger Verwaltung und
umständliche Bürokratie dabei vorherrschend sind, sondern
spontanes Reagieren und Zupacken in Situationen der
Bedürftigkeit, desto überzeugender machen solche Einrichtungen
"von sich reden". Das gilt im Besonderen von "exemplarischen
Menschen", die sich darin engagieren, bewähren und zu "Zeichen",
zu "Lichtblicken" werden als Antwort auf konkrete
Herausforderungen und Lebensumstände. Von ihnen hat das
Christentum schon immer gelebt und wird weiter leben. Sie sind
nicht unbedingt identisch mit denen, die vom Christentum
profitieren...
4. Wie weit können engagierte Christen mit heilsamen Worten und
erlösenden Taten kommen? Wahrscheinlich werden wir in dem Maße
"weiterkommen" als es uns gelingt, in kleinen Schritten wirklich
"Heilsames" und "Erlösendes" für konkrete Menschen zu bewirken.
Von der Predigt Jesu her sind uns unsere "Rollen" eindeutig
vorgegeben: Wir sollen das Säen nicht vergessen! Wir sind immer
nur zum Säen bestimmt und berufen! Das ist unsere Größe und
(schwer zu verkraftende) Grenze zugleich. Das Wachsen und
Gedeihen bis zum Tag der Ernte liegen nicht in unserer Macht.
Insofern ist all unser Tun "auf Hoffnung" gegründet, nicht auf
Gewißheit bzw. absolut sicheren Erfolgen.
5. Was hat unsere Arbeit mit prophetischem Denken und Handeln zu
tun? Das Prophetische einer solchen Arbeit liegt immer in der
festen Glaubens-Zuversicht, daß da einer ist, der allem, was in
menschlichen Bereichen fragmentarisch und unvollendet bleibt,
seine Vollendung zu geben vermag. Menschen, die tun, was in
ihrer Kompetenz und Macht liegt, vermögen nicht nur ein
erfülltes Leben darin zu finden; sie vermögen auch auf den zu
vertrauen, der über alles Menschliche hinaus "mächtig" ist.
Dadurch vermögen sie auch anderen Sinn und Hoffnung zu geben.
Oft leben sie aus der Kraft einer jesuanischen "Ethik der
Entrüstung" - fähig, alles menschliche Versagen beim Namen zu
nennen, vor allem dann, wenn es vertuscht wird und wenn Tarn-
und Verdrängungsmechanismen "Neues" verhindern.
Solch prophetisches Denken und Handeln finden sich übrigens auch
bei Nicht-Christen und in nicht-kirchlichen Einrichtungen. Da
sich das Denken und Tun Jesu auf die ganze Schöpfung beziehen
und von Anfang an in ihr grundgelegt sind (Röm. 8,18-30;
Kol.1,12-20), sind die Christen nicht die Einzigen in diesem
Erlösungsgeschehen; aber sie sollten die Ersten sein, weil sie
die "Erstlingsgabe" dazu empfangen haben. Diese muß sich auch im
nötigen Mut und in der offenen Bereitschaft zum
Voneinander-Lernen, zur Zusammenarbeit mit anderen und zum
gemeinsamen Wirken in einer vielfach heillosen Welt und
Menschheit manifestieren und bewähren. Für Christen muß die
alles beherrschende Perspektive sein: das Ganze der Welt ist auf
Heil und Erlösung angelegt. Menschen müssen darin Motoren und
Werkzeuge sein, Hoffnungszeichen und Lichtblicke für etwas, was
noch nicht ist und trotzdem schon im Werden begriffen ist.
"Christlich" im Christentum ist also der neue
heilsgeschichtliche Horizont, der "bis zum Ende der Welt"
dauert, in den hinein menschliches Leben und Handeln gestellt
ist.
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