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Das größte Hindernis der Ökumene: Die übertriebene
Beschäftigung der Kirchen mit sich selbst.
Januar 1999
1. Was glauben die Deutschen?
Was glauben die Deutschen? Eine seit Jahrzehnten in regelmäßigen
Abständen wiederkehrende Frage! Werbeagenturen, Massenmedien
verschiedenster Prägung und Ausrichtung, die Kirchenleitungen
der großen Konfessionen und andere interessieren sich brennend
dafür. Bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage scheint
sich seit Jahren der Himmel immer mehr zu verdunkeln. Denn die
Deutschen wie auch die Menschen anderer Länder in Europa und
Amerika glauben etwas anderes, als sie aus der Sicht und im
Auftrag kirchenamtlicher Vorgaben eigentlich zu glauben hätten
und glauben müßten.
Jedenfalls hat dies zuletzt - nach einer Reihe ähnlicher
Untersuchungen - das religions-soziologische Institut der
evangelisch-theologischen Fakultät in Berlin herausgefunden.
Nach jahrelangen Recherchen und Befragungen in fünf Gebieten der
BRD und der ehemaligen DDR, in unterschiedlichen
sozio-kulturellen Milieus, in evangelisch und katholisch
geprägten Dörfern des Hunsrücks, bei Jugendlichen und
Gymnasiasten, sogar bei Theologiestudierenden, Pfarrerinnen und
Pfarrern glaubt das Institut eine Gesamttendenz herausgefunden
zu haben, die auf den ersten Blick erschrecken, sogar
schockieren muß: das traditionell Christliche spielt im Leben
moderner Menschen kaum noch eine nennenswerte Rolle; die
dogmatische Lehre der Kirchen, das wenn auch noch so klar und
eindeutig festgelegte Gedankengebäude der Theologie gibt keine
adäquaten Antworten mehr auf Fragen und Nöte heutiger Menschen;
die Kluft zwischen dem herkömmlichen Gottesverständnis und dem
Hoffen und Ahnen der Menschen von heute ist kaum noch zu
überbrücken; es findet auf breiter Front ein Zusammenbruch der
traditionellen Lehrverkündigung statt; die Entdogmatisierung und
Entkirchlichung des Christentums und des religiösen Empfindens
überhaupt sind in vollem Gange.
So oder ähnlich lauten die Auskünfte. Symptomatisch dafür ist
nicht nur der wachsende Autoritätsverlust der Kirchen, sondern
auch die allgemeine Reaktion auf deren Lehrverkündigung, die auf
weiten Strecken als belanglos und für das Leben nicht tauglich
bewertet wird. Konkret schwindet der herkömmliche Glaube an
einen persönlichen Gott; auch die Dreifaltigkeit Gottes (das
Bild von Gott in drei Personen) und seine Allmacht erscheinen
als sehr zweifelhaft; viele sehen keine Schwierigkeit darin,
statt an die Auferstehung der Toten an die buddhistische oder
hinduistische Wiedergeburtenlehre (Reinkarnation) zu glauben;
die Sterblichkeit des Menschen wird nicht mehr mit seiner
Sündhaftigeit in Verbindung gebracht - erst recht nicht mit der
Erbsündenlehre, die praktisch bedeutungslos geworden ist. Der
Name Gottes wird kaum noch mit der Vorstellung vom Jüngsten
Gericht, von der ewigen Belohnung oder Bestrafung im Jenseits in
Verbindung gebracht. Im Ganzen scheint sich so etwas anzubahnen
wie eine, je nach Lust und Laune, individualisierte Religiosität
- ganz im Sinne einer Single-Gesellschaft, in der sich jede und
jeder einen eigenen Lebensraum gestaltet. Das Ergebnis dieser
Entwicklung scheint eine nach persönlichem Bedarf
zusammengesetzte Patchwork-Religion zu sein, die keine Menschen
mehr zusammenführt, sondern diese zu religiösen Nomaden macht,
die unsere Landschaften und Städte bevölkern.
Was wird dabei aus dem Christentum, dem christlichen Glauben?
Welches müßte die Aufgabe der Kirchen sein, wenn sie überhaupt
noch eine haben? Auf solche Fragen müßten gründliche Antworten
gefunden werden. Wenn viele z.B. nicht mehr an einen
persönlichen Gott glauben, könnte dies ein Indiz dafür sein, daß
viele nicht mehr an ihre eigene Personwürde zu glauben in der
Lage sind: in einer Welt der Ziel- und Sinn-Unsicherheit, der
Ort- und Heimatlosigkeit, der Vermassung und Verplanung, des
Leistungsdenkens und überorganisierten Lebens, in dem niemand so
recht weiß, ob und wie lange er Akzeptanz und Anerkennung
findet...? Denn Gottesbilder haben immer etwas mit menschlichen
Erfahrungen in Geschichte und Gesellschaft zu tun. Natürlich
auch mit Erfahrungen in der Kirche.-
2. Die ökumenische Dimension dieser Frage.
Daß die hier gezeichnete Entwicklung von höchster Brisanz auch
für die Ökumene ist, möge am Beispiel der
Rechtfertigungsdiskussion deutlich gemacht werden. Im Juli 1998
schilderte der Chefredakteur eines renommierten christlichen
Wochenblattes den Stand und den Verlauf der Diskussion in der
Ökumenekommission der großen Kirchen. Anlaß dazu war die
Tatsache, daß nach zehnjähriger strenger Arbeit evangelische und
katholische Theologen ein Papier verfaßt hatten, welche dem
Streit seit Martin Luther endlich ein Ende setzen wollte über
die Fragen: "Wie finde ich einen gnädigen Gott; durch die Gnade
und den Glauben allein oder auch durch Werke, durch kirchliche
Ämter und Sakramente?"-
Das Papier, genannt "gemeinsame Erklärung zwischen der
katholischen Kirche und
dem lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre", hatte
die größten Chancen, auch von den Kirchenleitungen akzeptiert zu
werden. Der Schlußstrich unter die gegenseitigen
Lehrverurteilungen seit dem 16. Jahrhundert sollte zudem den Weg
zur späteren Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft eröffnen. Aber
mitten in dieser anscheinend wiedergefundenen Einheit und
Harmonie meldeten sich 160 evangelische Theologen zu Wort, die
dem Wortlaut des Dokumentes heftigst widersprachen. Sie warnten
vor einem drohenden protestantischen Identitätsverlust bei
zuviel Annäherung ans Katholische. Auch Rom schaltete sich ein.
Sie forderten mehr begriffliche Klarheit, dogmatische Präzision,
ergänzende Bemerkungen und mehr Toleranz gegenüber den
verschiedenen konfessionellen Traditionen. Der jahrhundertealte
Lehrstreit drohte nicht nur erneut auszubrechen; er war bald
wieder in vollem Gange. Kritische Stellungnahmen schienen das
Erreichte nicht nur auszuhöhlen; es drohte auch ein neuer
"Konfessionalismus", der die ökumenische Gesamt -Atmosphäre
vergiftete.
In dieser spannungsgeladenen Situation beklagte sich das
christliche Wochenblatt darüber, daß die große Öffentlichkeit,
das Fernsehen und die Tagespresse von den "aufregenden
Entwicklungen" kaum Notiz nahmen. Er bedauerte, daß das
Kirchenvolk von Anfang an aus den Überlegungen ausgeschlossen
worden war. Er forderte die Christen und Gemeinden, kirchliche
Jugendverbände und Bildungswerke, säkulare Öffentlichkeit und
Kirchenpresse auf, leidenschaftlich auf die Straße zu gehen und
die betroffenen Professoren und Kirchenleitungen zu beschwören,
dem brennenden Thema der Einheit der Christen, das doch alle
angehe, mutig nachzugehen. Ein Ruck, eine offensive Bewegung
müsse durch das ganze Kirchenvolk gehen. Stattdessen schlafe es;
schaue wie gelähmt zu; schaue sogar weg, als wenn es gar nicht
davon berührt wäre...
Bei so viel Verwunderung kann ich mich eigentlich nur darüber
wundern, daß ein Chefredakteur sich so wundert. Denn wenn die
religiöse Entwicklung in der säkularen Welt seit Jahrzehnten
nicht täuscht, sieht das Kirchenvolk in der Tat keinen Anlaß,
wegen solcher theologischer Erbstreitigkeiten auf die Straße zu
gehen. Im Gegenteil. Sein Schweigen ist ein alarmierendes Indiz
dafür, daß sich das Christentum seit Jahrhunderten zu einer
akademisch-universitären Theologen- und Spezialistenreligion
entwickelt hat, an der der Mann auf der Straße keinen ihn
innerlich berührenden Anteil hat bzw. haben kann. Freilich
konnte man in früheren Jahrhunderten das Kirchenvolk zu
Glaubensgehorsam verpflichten. Das äußere Aufsagen von
Glaubensbekenntnissen und Glaubenssätzen änderte jedoch nichts
daran, daß es innerlich unbeteiligt blieb. Auch
Folklore-ähnliche religiöse Traditionspflege ist noch nicht
unbedingt ein Indiz für wirklichen Glauben und verantwortliche
Lebensgestaltung aus dem Glauben. Insofern ist die heute sich
ausbreitende Kirchendistanz nichts anderes als ein eklatantes
äußeres Zutagetreten der Tatsache, daß die Kirchenleitungen und
Kirchen"eliten" über Jahrhunderte hinweg mit sich selbst
beschäftigt waren, d.h. mit ihren Theologien, mit ihrem
Amtsverständnis, mit ihren Lehr- und Kultfragen. Dabei sind die
Kirchen blind geworden für werdende und sich verändernde
Lebensfragen. Vor allem haben sie das Allgemeine stets über das
Besondere gestellt; sie haben sich mit allen Menschen und der
gesamten Menschheit beschäftigt, dabei aber den Einzelnen in
seiner Einmaligkeit und Freiheit nicht besonders ernst genommen.
Indem ihnen die Menschen als Masse wie zu betreuende und zu
behandelnde "Objekte" gegenüberstanden, haben sie "Lehr-Ämter"
geschaffen, aber keine "Lebens-Ämter", die durch
Lebensbegleitung und Lebensanteilnahme immer wieder den
Zusammenhang hätten aufzeigen müssen zwischen konkreter
Lebenserfahrung und wachsendem Glauben.
Das Elend und die Schande des Christentums bestehen heute darin,
daß es in fast allen seinen Vollzügen zu einer Religion von
"Profis" geworden ist. Diese bemänteln eigene Machtansprüche
allzu leicht mit hehrem Wahrheitsanspruch. In einer
augen-fälligen Einbahnstraßen-Verkündigung melden sie sich zu
Wort. Dazu mit eindeutig-klaren Begriffen und ziemlich
unfehlbaren Sätzen. Daß auf Zukunft hin christlicher Glaube auf
diese Weise nicht weitergegeben werden kann, liegt auf der Hand.
Zudem machen die Reaktionen der "säkularen Welt" wie auch des
Kirchenvolkes allzu deutlich, daß eine Umkehr, ein
"Paradigmenwechsel" lebensnotwendig sind. Worin könnten sie
bestehen? Worauf müssen sich die Kirchen neu besinnen - alle
Konsequenzen akzeptierend, die die herkömmlichen Gebäude
erschüttern? Die Fragen stellen sich dabei: welches ist die
unverzichtbare Substanz des christlichen Selbstverständnisses?
Wie kann es wieder zur Kraft und Dynamik des Ursprungs
zurückfinden und dabei zugleich Menschen anziehen, die noch des
Suchens und Fragens fähig sind und zugleich bereit, Leben und
Welt aus der Botschaft Jesu heraus zu gestalten?
Ohne sich dem so oft gefürchteten "Zeitgeist" überlassen zu
müssen, geht doch kein Weg an der Tatsache vorbei, daß es viele
Menschen gibt - vielleicht sogar eine wachsende Mehrheit? - ,
die durchaus religiös und christlich sein wollen, ohne jedoch zu
akzeptieren, dabei kirchenamtliche Hecken und Zäune überspringen
zu müssen. Amtlich kluge Lehren und Weisungen wirken allzu oft
wie Stacheldrähte, die sich um die Seelen legen, um sie daran zu
hindern, in Freiheit und eigener Verantwortung eine eigene
Beziehung zu Gott zu leben. Die Demontage herkömmlicher Kirchen-
und Gottesbilder kann sich durchaus als Befreiungsschlag
erweisen. Das Christentum wird sich immer mehr als eine Religion
freier Menschen erweisen müssen. In der Krise kann sich eine
neue ungeahnte Chance erweisen.
3. Das Christentum - auf ungewohnte Weise herausgefordert.
Wenn nicht alles täuscht, besteht die radikale Krise der Kirchen
und ihrer theologischen Lehrgebäude - unabhängig von den äußeren
gesellschaftlichen Faktoren - in dem jahrhundertealten
Mißverständnis oder Unverständnis des Christentums als einem
Lehr-, Begriffs- und Definitionsgebäude. Ihm wird immer mehr der
Boden entzogen, weil immer weniger Menschen daran glauben. Denn
sie verstehen es nicht. Sie verstehen auch nicht, was die
wenigen Fachleute und Kirchenrepräsentanten in ihren
Verlautbarungen verkünden. Deren Verkündigung bleibt schon
deshalb unverständlich, weil die meisten Verkünder ihre
Botschaft selbst nicht verstanden haben - höchstens begrifflich,
spekulativ-akademisch, aber nicht so, wie sie allein und an
erster Stelle verstanden werden müßte, nämlich existentiell und
durch das Tun konkreter Taten der Liebe, wie sie dem Menschen,
je nach Qualität und Eigenart, spontan und mit Gottes Hilfe
möglich sind.
Denn von Jesus her fangen viele Menschen - auch außerhalb der
Kirchen - wieder neu an zu erahnen: im Existieren, nicht im
Spekulieren erweisen sich die Lebenskraft und der Lebenssaft
einer Botschaft. Wer sie staatspolitisch vereinnahmt und sie den
Händen unfehlbarer Hüter überläßt; wer aus der Religion eine
verwaltete Religion macht, sie arbeitsteilig genau organisiert
und reglementiert - je nach Klerus und Laien, je nach Männern
und Frauen - ; wer für jede Aufgabe Zuständigkeiten und
Dienststellen schafft - für den erweisen sich
Kirchenvolksbegehren und unvorhergesehene Laien-Anträge nicht
nur als Gefahren für die herkömmlichen In -stanzen und
Platz-Anweiser. Diese erweisen sich sogar und werden
bloßgestellt als Vernichter und Zerstörer dessen, was sie so
energisch für die Zukunft zu retten versuchen. Das
geschichtliche Paradox besteht dann darin, daß sich die
Verteidiger von Religion und Glaube als deren größte Hindernisse
und Zerstörer erweisen.
Carl Amery hat diesen tragischen Vorgang innerhalb des
Christentums mit einer Anekdote beschrieben. In seinem letzten
Buch "Hitler als Vorläufer - Auschwitz - der Beginn des 21.
Jahrhunderts" heißt es: "Ein ehemaliger polnischer Offizier
berichtet, daß er in den ersten Tagen nach der Eroberung seines
Landes ein Schloß aufsuchte, in dem eine bayerische
Gebirgsjägerdivision untergebracht war. Die biederen Landser
wohnten gerade einer Messe bei, die ein Militärgeistlicher
zelebrierte. Im Keller aber waren Juden und andere unerwünschte
"Elemente" zusammengepfercht, deren Klagen durch den
Parkettboden zu hören war. Den Zelebranten wie die Soldaten
störte das nicht - dafür war eine andere Dienststelle
zuständig!"
In die oben beschriebene Rechtfertigungsdiskussion hat sich u.a.
ein Mediziner und Arzt eingeschaltet. Er wirft den Kirchen
"Begriffs-Fetischismus" vor; ein "total steriles und
unbrauchbares Denken"; ein Fixiertsein auf völlig
rückwärtsgewandte Streitfragen inmitten einer Welt, "die ringsum
in Flammen steht".
Nun, selbst wenn die Welt nicht ringsum in Flammen stehen würde
- ich stelle mir vor: eines Tages würden die Kirchen und
Konfessionen eine einzige theologische Sprache sprechen; sie
würden sich über alle Streitfragen verständigen und gemeinsame
Lehr-Formeln ersinnen - wenn dies auf die traditionell - übliche
Weise geschähe im Sinne eines Glaubensverständnisses, welches
überkonfessionell gemeinsam Sätze für-wahr-zu-halten gedenkt -
eine solche "Einigung" würde niemanden mehr vom Stuhle reißen!
Denn es könnte sein, daß viele Fragen von früher nicht mehr die
Fragen heutiger Menschen sind. Auch die bedrängende Frage M.
Luthers, die heute die Diskussion der Theologen beherrscht: "Wie
finde ich einen gnädigen Gott?" dürfte für die wachsende
Mehrheit der Gläubigen heute keine bedrängende Frage mehr sein.
Wenn seriöse Umfragen und Untersuchungen nicht täuschen, stellen
mündig, frei und selbstbewußt gewordene Menschen andere Fragen:
Wie finde und gestalte ich eine gnädige Zukunft? Wie finde ich
meine Lebensrolle in einer Welt, die so unübersichtlich, in
vielen Bereichen so wurzellos, so heimatlos, so orientierungslos
geworden ist? Wie finde ich mich selbst, in meinem Werden und
Wachsen, mit meinen Gaben und der Akzeptanz meiner Grenzen? Wo
finde ich Menschen und Gemeinden, die mich so einschätzen und
behandeln wie ich bin? Wie lerne ich, andere vorurteilslos und
realistisch einzuschätzen, um sie verstehen, lieben und achten
zu lernen? Wie finde ich zu gelungenen und geglückten
Beziehungen: in Ehe und Familie, im Freundeskreis und am
Arbeitsplatz? Schließlich: wie kann ich in meinen Zweifeln und
Lebensängsten den Weg zu Gott oder zur Transzendenz finden? Wer
öffnet mir den verrannten Weg ins Jenseits, falls es überhaupt
eins gibt? Wer hilft mir die Grenzen meiner selbst überschreiten
- nicht durch kluge Worte und Sonntagsreden, sondern durch den
Mut eines Lebenszeugnisses, welches sich von der Kraft Christi
bestimmen läßt und von Menschen, die zu überzeugen vermögen?
Was sich beim modernen Menschen auf den ersten Blick als
Demontage Gottes und traditionell-kirchlicher
Gottesvorstellungen erweist, kann sich durchaus als eine
neuartige und lebenswichtige Anfrage an das konventionelle
Christentum herausstellen - an ein Christentum, welches seine
Hauptaufgabe wieder darin sehen muß, die Menschen das Leben und
Lieben zu lehren. Gefragt ist das Christentum als eine Religion,
die theoretisch-abstrakte Klarheiten und angeblich absolute
Wahrheiten an die zweite oder dritte Stelle rückt; welches
stattdessen dem Willen absolute Priorität verleiht, in
Gemeinschaft gottgewolltes und evangeliumsgemäßes Leben zu
gestalten; also nach dem Vorbild Jesu erlösendes und heilendes
Denken und Handeln zu praktizieren. Die Einübung in ein vom
Evangelium inspiriertes Denken und Handeln, welches den Menschen
in seinen konkreten Lebenslagen im Blickfeld hat, ist das Gebot
der Stunde. Wo es darum geht, daß die für Menschen heilsamen
Worte und Taten Jesu weitergehen, da gilt nicht mehr Mann oder
Frau, Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, katholisch oder
alt-katholisch, evangelisch, orthodox oder freikirchlich. In
dieser Aufgabe sind alle "eins" in Christus Jesus (vgl. Gal
3,28).
4. Im Zurück zur Dynamik des Anfangs Zukunft gestalten.
Die gegenwärtige bis an seine Wurzeln und an die Substanz
gehende Krise des Christentums und die Anfragen der Welt an
seinen eigentlichen Auftrag verschaffen nicht nur die
Möglichkeit, auf neue Weise "eins in Christus" zu sein, sondern
zugleich auch zu dem zurückzufinden, welches die "Dynamik des
Anfangs" war. Diese bestand nicht darin, daß Jesus oder die
Urgemeinden Katechismen und dogmatische Handbücher schrieben -
zum Gedankenschmaus für Denker und als Übungsfelder für
ideologisch verbrämte Rechthaber, zweifelsfreie Missionare und
religiöse Eroberer, verbunden mit all den brutalen Konsequenzen,
die aus der Geschichte all zu bekannt sind: Hexenwahn,
Inquisition, Religions- und Konfessionskriege, Marginalisierung
und Unterdrückung all derer, die sich schwer taten mit
unfehlbaren Behaupten über Gottes Wege und Weisungen.
Die Dynamik des Anfangs bestand ja in nichts anderem als in der
Tatsache, daß sich die Christen der ersten Zeit im Vertrauen auf
Gottes bleibende Anwesenheit in ihrer Mitte zusammentaten, um
sich - nach dem Schock des Karfreitags und nach der
unglaublichen, aber doch frohen Kunde des Ostermorgens - in
seinem Geiste an all das mühsam zu erinnern, was Jesus gesagt
und getan hatte. Die Urkirche entfaltete sich in
unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften, die aber auch die
Nachfolge Christi zu leben versuchten, indem sie in ihren
Situationen das zu tun versuchten, was er getan hatte. Christen
und christliche Gemeinden sind getrieben oder müssen getrieben
sein von dem gemeinsamen Willen, daß durch sie die Worte und
Taten Jesu in der Konkretheit des Lebens weitergehen. Nur
dadurch, daß Christen sich einmischen lernen, indem sie das
menschennahe und situationsbezogene Denken und Handeln Jesu
praktizieren - über alles Theologisieren und kirchenrechtliche
Vorschreiben hinaus - , erweisen sie sich als "Licht der Welt"
und "Salz der Erde". Wie Jesu Worte und Taten unmittelbar für
Zeitgenossen heilsam und erlösend waren, so muß sich die
Existenz christlicher Kirchen für Menschen als heilsam und
erlösend erweisen. Da gelten nicht nur das Sich-Versammeln und
Nachdenken in seinem Auftrag; auch nicht nur Mediation und
eingebildete Gotteserfahrung, sondern der Mut des
Sich-Einmischens in konkrete Welt- und Lebensverhältnisse - also
das "Tun der Wahrheit" in seinem Namen. Maßstab für den
Gottesdienst ist nicht das Einhalten von Gesetzen und
Moralvorschriften, sondern der konkrete Dienst am Nächsten als
gewissenhaftes und personalverantwortetes Erfüllen des Gesetzes
in der Liebe.
Von daher wird sich auf Zukunft hin viel akademisch-ökumenisches
Diskutieren über Rechtfertigung, Eucharistie- und
Ämterverständnis als überflüssig erweisen. Viele theoretische
"Verständnisfragen" wurden lange genug als "frohe Botschaft"
verkündet und gepredigt - von großen Teilen des Kirchenvolkes
Gott-sei-Dank heute nicht mehr als solche angenommen.
Entscheidend wird sein, daß die Menschen in ihren Lebenslagen
das Werden und Wachsen im Glauben und Hoffen lernen und bei
allen Zweifeln und Anfeindungen das Tun der Wahrheit nicht
vergessen. Dazu brauchen sie nicht so sehr Lehr-Ämter oder
Lehr-Meister als vielmehr Lebens-Ämter oder Lebe-Meister - also
Vorbilder in dem, worauf es wirklich ankommt.
Das eigentlich Jesuanische der biblischen Botschaft besteht ja
nicht darin, daß sich Hierarchien und Expertokratien bilden, die
vom Christentum leben und Sinn-Agenturen für die Menschheit
betreiben, die ohne Wenn und Aber sind. Es geht vielmehr um die
"Fleisch-" und "Menschwerdung" der Liebe. Diese kann nicht
einfach darin bestehen, daß Ritualisierungen gepflegt und
Mythenbildungen genehmigt werden. Die vom Evangelium vorgegebene
Praxis der Liebe muß sich realgeschichtlich einmischen überall
dort, wo die Würde des Menschen durch welche Machenschaften auch
immer verletzt und mit Füßen getreten wird. Seit Jesus von
Nazareth sind nicht absolute Wahrheitsansprüche, sondern ist
jede Form von heilsamer Menschenliebe zum Maßstab für die
Gottesliebe geworden. Deshalb kann Gott zu jeder Zeit und an
jedem Ort angebetet werden, wo und wann auch immer es um das
Wohl und Heil lebendiger Menschen geht. Da ereignet sich auch
immer "Nachfolge Christi".
Christliche "Nachfolge-Gemeinschaften", in denen konkret etwas
Heilsames und Erlösendes geschieht, vermögen auch Mahl - und
Eucharistie-Gemeinschaften zu sein. Das eine gehört wesentlich
zum anderen. In der Mahlfeier findet das, was Christen sind und
zu sein haben, seinen kultischen Höhepunkt. Ohne die Erfüllung
des Auftrags Jesu, ohne die Fortsetzung seiner Taten in
gemeinsamer Verantwortung erweist sich dieser "Höhepunkt" als
ritualisiertes Scheingefecht am Sonntagmorgen. Es wird schon
dadurch Lügen gestraft, daß es viele leichtfertig und ohne
Gewissensbisse durch Sport- und Schwimmübungen zu ersetzen
vermögen. Jedenfalls muß ernsthaft über die Frage nachgedacht
werden, warum so viele Christen das Wichtigste versäumen, ohne
es zu missen...?
Denn dem Christentum ist es aufgegeben, Salz und Sauerteig zu
sein - weniger in Sakristei und Kirche als vielmehr mitten in
der Welt. Wenn das Salz der Erde selbst schal wird, kann
menschliches Leben durch nichts mehr sinnvoll gesalzen und
gesäuert werden. Ohne die Fleisch und Mensch gewordene Liebe
wird es auch bald keine Menschen mehr geben.
In vieler Hinsicht steht das Christentum also an einem
Wendepunkt. Es kann sich nur erneuern, wenn es die "Zeichen der
Zeit" als Sprache und Anrufe Gottes selbst wieder zu hören und
zu beantworten fähig wird. Wie sollte Gott denn sonst seinen
Willen kundtun? Sicher nicht durch eingebildete Erleuchtungen
und phantasiegeladene Verzückungen von Menschen mit
religiös-hysterischem Hang. Gott offenbart sich auch nicht in
den Amtsstuben von Amtsträgern und am Weiterbau liebgewordener
systematischer Gedankenbastionen, hermetisch abgeschlossen durch
konfessionelle Hecken und Zäune. Byzantinischer Triumphalismus
und aufwendiges Getöse bei religiösen Massenveranstaltungen
eignen sich nicht, um den Willen Gottes zu erforschen. Pompöser
Aufwand bei Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 2ooo geben eher
Aufschluß über die Fragen, wer davon am meisten profitiert und
wer sich dabei am besten in Szene zu setzen vermag - man rechne
nicht allzu sehr mit der Anwesenheit Christi, obwohl am meisten
über ihn geredet wird! Das Antworten auf die Zeichen und
Herausforderungen der Zeit kann allein Aufschluß geben über die
Frage, ob es den Christen mit ihrer Botschaft wirklich ernst
ist? Machbare Schritte und entschiedene Maßnahmen müssen es
erweisen. So heißt es schon bei Mathäus: "Nicht jeder, der zu
mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern
nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut" (7,21).
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