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Erlebnis-Christentum?
Eine Nachlese zur Heilig-Rock-Ausstellung in Trier.
Man muß sich wirklich vor dem Dom in die schier endlose Reihe
der Pilger eingereiht; man muß sich in den Strom der vielen
Menschen begeben haben, der einen langsam und kontinuierlich,
beharrlich und bisweilen stockend mit nach vorne nimmt,
um eine Ahnung davon zu bekommen, was sich in einem selbst und
vielen anderen abspielt, die zum "heiligen Rock" drängen? Dazu
kommen auf dem Domplatz die Chöre aus Weißrußland oder aus sonst
einer Gegend der Welt; die ruhig-feierliche Atmosphäre der Orgel
im Dom, die sinnvoll ausgewählten und vorgetragenen Texte aus
Bibel und religiösem Schrifttum, die Gebete der Gläubigen...
Dies und vieles Andere, welches die Atmosphäre bestimmt, gehörte
zum tiefen Eindruck dieser Wallfahrt. Dabei war man in keinem
Augenblick unnötig gestört oder angetrieben. Man konnte sogar
aus dem langsam nach vorne flutenden Strom von Menschen
aussteigen und sich in eine Bank setzen, um die Hunderte zu
beobachten, die da am heiligen Rock vorbeizogen, die ihn einfach
sehen wollten, die ihn anschauten und ehrfürchtig betrachteten:
in frommer Gelassenheit und vielleicht mit ein wenig Neugierde.
Dabei verrieten die Gesichter in den seltensten Fällen Züge
wundersüchtiger, aufdringlicher oder neurotischer Leidenschaft.
Auch war der Grad des Glaubens oder Unglaubens nirgendwo
auszumachen, keine Spur von Zweifeln oder weltanschaulich bzw.
konfessionell bedingter Abständigkeit. Die unauffälligen
Reaktionen und kaum wahrnehmbaren Äußerungen schienen
selbstverständlich zum ruhigen Gang des Geschehens zu gehören.
Bis dann alle langsam und nachdenklich wieder auf den Domplatz
hinaustraten - so, als hätten sie einem tiefen und
unverzichtbaren Geheimnis ins Angesicht geschaut.
Bischof Spital hat gut daran getan, diesem Geschehen seinen
persönlichen Stempel der Offenheit und Zurückhaltung
aufzudrücken und ihm eine ökumenische Note zu geben. Während auf
der einen Seite bis zum Überdruß von der Krise der Kirchen
gesprochen wird, vom Ausbluten und der mangelnden
Integrationskraft der Gemeinden - bedrohliche Anzeichen für das
Verdunsten des Glaubens überhaupt -, hat Trier ein gegenteiliges
Exempel geliefert. Überhaupt sind die Wallfahrten wieder modern
und zugkräftig geworden. Fatima, Lourdes, Santiago de
Compostella, Taizé und Trier beweisen es. Verdunstet der Glaube
tatsächlich bis zur Unkenntlichkeit oder sucht er sich eine
andere Gestalt, ein anderes Gewand, einen Ausdruck, der dem
selbständig gewordenen, dem theologisch weniger gebildeten
Menschen von heute und morgen entspricht?
Der Übergang vom theologisch "Wahren" zum religiös
Elementaren.
Mir gehen dabei eigene Erfahrungen durch den Kopf. Bei
Vorträgen, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen ist mir
immer wieder aufgefallen, wie wenig die akademische Theologie
und das Glaubensbekenntnis der offiziellen Kirchen in das Gemüt
und Bewußtsein der Leute eingedrungen ist - trotz Katechesen und
Predigten bis zum "mehr geht es nicht".
Bei einer ökumenischen Veranstaltung vor einiger Zeit war von
der Hoffnung die Rede, daß die Kirchen wohl bald so weit sein
könnten, ihre aus dem 16.Jahrhundert stammenden gegenseitigen
"Verwerfungen" zurückzunehmen. Dann seien wohl der Tag und die
Stunde für die "Einheit der Kirchen" gekommen. Jedenfalls sei
die neueste ökumenische Studie "Lehrverurteilungen -
kirchentrennend?" der Einheit ein bedeutendes Stück näher
gerückt; das Dokument sei äußerst positiv zu bewerten und stelle
eine wichtige Etappe dar, wenn es auch noch bedeutende
Schwierigkeiten gebe in den Fragen der Kanzel- und
Abendmahlsgemeinschaft, im Eucharistie- und
Sakramentenverständnis, im Blick auf Papstamt und apostolische
Sukzession...
Im Verlauf der Diskussion stellte sich heraus, daß die
allerwenigsten Anwesenden, obwohl zum Großteil aus Akademiker-
und Religionslehrerkreisen stammend, von dem bedeutenden
Dokument noch nichts gehört hatten. Auch mußte zuerst ein
Fachmann darüber aufklären, welches die Verwerfungen der
reformatorischen Bekenntnisschriften des 16.Jahrhunderts und im
Gegenzug die 15o Verwerfungen des Konzils von Trient gewesen
waren. Worin bestand also für die Anwesenden die so schwer zu
überwindende Uneinigkeit der Kirchen? Worin könnte für sie die
zu suchende Einheit bestehen? In Untersuchungen "von höchster
wissenschaftlicher Qualität", von denen die Nichtfachleute noch
nie etwas verstanden haben und auch nie etwas verstehen werden -
trotz kirchenamtlicher Bemühungen, das Kirchenvolk darüber
aufzuklären und auf dem Laufenden zu halten?
Jedenfalls zeigte sich bei diesen und vielen anderen
Veranstaltungen das "Oben-Unten-Schisma" (Biser) mitten in den
Kirchen. Die Tatsache, daß vor Jahrhunderten - seit der Gründung
der Universitäten - die Reflexion über den Glauben in die
Hörsäle verlegt wurde, hat dazu geführt, daß das Christentum
eine Pastoren-, Theologen- und Spezialistenreligion geworden
ist, die "oben" voll und reich ist an theologischer Erkenntnis
und Wahrheit, aber "unten" dem Volk jede Mitsprache und
Kompetenz in Glaubens- und Kirchenfragen genommen hat. Heute, im
Zeitalter der Subjektwerdung des Menschen, zeigt sich in
verheerender Weise für die Kirche, was es heißt,
jahrhundertelang den "sensus fidelium", die "vox populi" und
damit die Alltagserfahrungen der Menschen bei wichtigen
Entscheidungen und Weichenstellungen nicht (mehr) gehört bzw.
ernst genommen zu haben. Aus religions- wissenschaftlicher Sicht
bedeutet dieser Verlust nichts anderes als die Tatsache, daß das
Christentum als "herrschende Religion" in vielen Kulturen der
Welt das religiöse Potential der Menschen nicht nur
kirchenpolitisch vereinnahmte, sondern auch zerstörte oder wie
eine weiße Schneedecke zudeckte und erstickte, so daß "von
unten" nichts mehr wachsen konnte.
Die Tatsache, daß bis in die jüngste Zeit immer der politische
oder religiöse "Fürst" die Religion seiner Untertanen bestimmte,
hat zu einem Glaubensverständnis in Abhängigkeit, Untertänigkeit
und Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit geführt, aber nicht zu
einem eigenständig verantworteten Glauben. Was jahrhundertelang
auf diese Weise kirchlich funktionierte, hat in dem Augenblick
aufgehört, ein tragender Faktor zu sein, als das Freiheits- und
Unabhängigkeitsbewußtsein die Menschen erfaßte. Im Blick auf die
Taufenden Sekten und freien Kirchen, die heute weltweit wie
Pilze aus dem Boden schießen; im Blick ebenso auf das
bedrängende Phänomen, daß auch in den westlichen Ländern ein
Großteil der Menschen durchaus christlich sein und bleiben will,
ohne dabei an eine kirchliche Bindung zu denken; im Blick auf
die Tatsache, daß ein Großteil der Kirchenaustrittswilligen von
einem "langen Entfremdungsprozeß von der Kirche" spricht, von
"eigenen Glaubenseinsichten" und "eigenen religiösen
Überzeugungen" - alles das scheint ein Bewußtsein zu markieren,
welches das religiöse Potential in der Menschheit wieder zu
neuem Leben erweckt, allerdings fernab von den Kirchen. Man
könnte diesen geschichtsmächtigen Vorgang als einen Übergang
interpretieren vom kirchenamtlich Wahren und objektiv Richtigen
zum religiös Elementaren - verbunden mit dem Niedergang der
bisher herrschenden Religionen und Konfessionen.
Auch die Wallfahrtsbewegungen in unserer Zeit scheinen dies
deutlich zu bestätigen. Was in Trier zu beobachten war, war
alles andere als "objektiv wahr" und noch weniger eine Rückkehr
suchender und ahnender Menschen zur traditionell vorhandenen
Kirchlichkeit. Vielmehr sind solche religionswissenschaftlich
feststellbaren Phänomene eine enorme Herausforderung an die
Kirchen: an ihre Strukturen, an ihr Ämter- und
Sakramentenverständnis, an ihre Liturgie und ihr
metaphysisch-philisophische Theologie überhaupt. Man könnte sie
in der Frage zusammenfassen: wieviel Philosophie, Theologie und
herkömmliche Kirche brauchen die Menschen, um glauben zu können?
Vermutlich viel weniger, als es kirchlich zu denken bisher
erlaubt oder üblich war. Jedenfalls sind Kirche und Theologie in
die größten Schwierigkeiten geraten, weil sie schon lange
aufgehört haben, im täglichen Leben verwurzelt zu sein und sich
- bei aller Abgehobenheit in Lehre und Sprache - den
beunruhigenden Zeichen der Zeit und den elementaren Erfahrungen
der Geschichte zu stellen. Dagegen finden sich für die Suchenden
"Kanzeln" überall
Mit Christus unterwegs - zu einer christlichen Kultur "von
unten".
Der Bischof von Trier hat von vorneherein gut daran getan, den
Blick der Gläubigen nicht allzu sehr auf einen Rock zu
konzentrieren, sondern das Unterwegssein der Leute in einen
größeren Zusammenhang zu stellen. Die Reaktion auf das "Mit
Christus unterwegs" kennzeichnet in vieler Hinsicht die
religiöse Weltsituation, die der großen Glaubenslehren, weil
ideologieverdächtig, überdrüssig geworden ist. Sie verlangt
vielmehr nach Menschen oder Gruppen, die modellhaft und
exemplarisch der Welt vor Augen zu führen vermögen, wie Leben
gestaltet und gemeistert werden kann - sogar über den Tod
hinaus. Also Lebensmeisterung statt Glaubenskriege,
Weltbewältigung statt denkerischer Haarspaltereien "in
Christus".
Beim gegenwärtigen Niedergang der Kirchen ist in Trier deutlich
geworden, daß eigentlich nur exemplarische Menschen das
religiöse Potential von Menschen zu wecken vermögen. Für die
Kirchen eröffnet sich die Chance, die Gestalt Jesu als
Modellfall gottgewollten und gottgemäßen Lebens, seine
Lebenspraxis, sein menschennahes und situationsgemäßes Denken
und Handeln in die Mitte ihrer Verkündigung zu stellen. Und vor
allem in die Mitte ihrer eigenen Praxis! Für heutige suchende
und fragende Menschen ist dies jedenfalls entscheidend wichtiger
als kirchenrechtliche und systemimmanente Festlegungen "von
oben", weil die Erinnerung an die Worte und Taten Jesu einen
grundsätzlich anderen Geist atmen als festgeschriebene
Verlautbarungen. Wo Jesus auftritt, da wird immer der einzelne
in seiner einmaligen situativen Größe und Tragik wichtig. Auch
wer ihm damals schon zu seiner Zeit begegnete, wurde nicht mit
einer Vorschrift, einem Gebot oder Verbot konfrontiert, sondern
mit einer befreienden Perspektive zum Weitermachen oder zu einem
neuen Anfang auf dem Wege Gottes.
Die Welt, in der wir leben, hat keine Lust mehr, sich an
theologisch-konfessionellen Rechthabereien zu beteiligen. Sie
ist der inquisitorischen Machenschaften und Verleumdungen
überdrüssig geworden und hat auch jeden Sinn verloren für
Glaubenskongregationen und Wahrheitsbüros im Stile George
Orwells. Sie hat eher wieder den Sinn dafür entdeckt, daß es
durchaus verschiedene Zugangswege zum Verständnis der Person
Jesu geben kann und damit auch verschiedene Zugangswege zum
Glauben. Auch das ökumenische Anliegen des Volkes, seine
Eigendynamik, scheint darauf hinauszulaufen, daß es nach
Lebensformen und Lebensstilen verlangt, die den Geist der
Botschaft Jesu widerspiegeln und einen Eindruck dafür
hinterlassen, wie die "Zivilisation der Liebe" im Kleinen wie im
Großen Form und Gestalt annehmen könnte.
Tatsächlich ist ja Jesus nicht gekommen, eine bestimmte
Theologie ohne Wenn und Aber und eine zweifelsfreie
Christenlehre zu verkünden - zum Gedankenschmaus für Denker und
als Übungsfelder für ideologische Kämpfer und religiöse
Eroberer. Er hat keine Definitionen formuliert und keine
Moralvorschriften erlassen. Er hat noch nicht einmal
Gottessicherheit gebracht, obwohl sich viele danach sehnen. Er
verkündete das Reich Gottes. Mit dem Schon-Jetzt der
anbrechenden Gottesherrschaft waren Werte und Lebenshaltungen
gemeint - ein menschlich nicht leichter Lebensstil persönlicher
Würde und verantworteten Miteinanders.
Das Christentum an der Schwelle eines neuen Jahrtausends muß
sich ernstlich überlegen, auf was es sich in Zukunft
konzentrieren will? Jedenfalls steht fest: Hätte die Kirche seit
Jahrhunderten annähernd soviel Kraft, Intelligenz, Energie und
schöpferische Initiativen für die Entwicklung situations- und
zeitbedingter Lebensstile entfaltet, wie für die Absicherung
ihrer Privilegien und die Definierung, Formulierung und
Verteidigung ihrer unfehlbaren Glaubenssätze - ihr Zeugnis
könnte sich seit Jahrhunderten sehen lassen, ihre Lehr-Sätze
wären nicht über Nacht zu Leer-Formeln und leeren Hülsen
geworden.
Auf Zukunft hin wird die Welt weniger nach großer christlicher
Gelehrsamkeit lechzen als vielmehr nach einer humanen Kultur,
die ihre Wurzeln in einer Botschaft hat und aus ihr ihre
immanente und transzendente Glaubwürdigkeit gewinnt. Trier und
viele andere religiöse Bewegungen legen den Gedanken nahe, daß
die Kirchen und Konfessionen wieder entschieden jesuanischer
werden müssen - mit allen Konsequenzen für Kirchen- und
Ämterverständnis. Sollten sie sich, weil im Guten verhärtet,
diesem elementaren, aber folgenreichen Anspruch widersetzen,
besteht für viele Menschen kein Anlaß mehr, ihrem Sterben
nachzutrauern. Sie werden den Staub von ihren Füßen schütteln
und sich an anderen "Hoffnungsversuchen" beteiligen. Für
diejenigen, die nicht im religiösen Niemandsland untertauchen
möchten, bieten sich heute schon die sogenannten Sekten und
freien Kirchen tausendfach als Ausweg an. Sich ihnen
anzuschließen, scheint ohne Skrupel und Gewissensbisse möglich.
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