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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Erlebnis-Christentum?

Eine Nachlese zur Heilig-Rock-Ausstellung in Trier.

Man muß sich wirklich vor dem Dom in die schier endlose Reihe der Pilger eingereiht; man muß sich in den Strom der vielen Menschen begeben haben, der einen langsam und kontinuierlich, beharrlich und bisweilen stockend mit nach vorne nimmt,
um eine Ahnung davon zu bekommen, was sich in einem selbst und vielen anderen abspielt, die zum "heiligen Rock" drängen? Dazu kommen auf dem Domplatz die Chöre aus Weißrußland oder aus sonst einer Gegend der Welt; die ruhig-feierliche Atmosphäre der Orgel im Dom, die sinnvoll ausgewählten und vorgetragenen Texte aus Bibel und religiösem Schrifttum, die Gebete der Gläubigen...

Dies und vieles Andere, welches die Atmosphäre bestimmt, gehörte zum tiefen Eindruck dieser Wallfahrt. Dabei war man in keinem Augenblick unnötig gestört oder angetrieben. Man konnte sogar aus dem langsam nach vorne flutenden Strom von Menschen aussteigen und sich in eine Bank setzen, um die Hunderte zu beobachten, die da am heiligen Rock vorbeizogen, die ihn einfach sehen wollten, die ihn anschauten und ehrfürchtig betrachteten: in frommer Gelassenheit und vielleicht mit ein wenig Neugierde. Dabei verrieten die Gesichter in den seltensten Fällen Züge wundersüchtiger, aufdringlicher oder neurotischer Leidenschaft. Auch war der Grad des Glaubens oder Unglaubens nirgendwo auszumachen, keine Spur von Zweifeln oder weltanschaulich bzw. konfessionell bedingter Abständigkeit. Die unauffälligen Reaktionen und kaum wahrnehmbaren Äußerungen schienen selbstverständlich zum ruhigen Gang des Geschehens zu gehören. Bis dann alle langsam und nachdenklich wieder auf den Domplatz hinaustraten - so, als hätten sie einem tiefen und unverzichtbaren Geheimnis ins Angesicht geschaut.

Bischof Spital hat gut daran getan, diesem Geschehen seinen persönlichen Stempel der Offenheit und Zurückhaltung aufzudrücken und ihm eine ökumenische Note zu geben. Während auf der einen Seite bis zum Überdruß von der Krise der Kirchen gesprochen wird, vom Ausbluten und der mangelnden Integrationskraft der Gemeinden - bedrohliche Anzeichen für das Verdunsten des Glaubens überhaupt -, hat Trier ein gegenteiliges Exempel geliefert. Überhaupt sind die Wallfahrten wieder modern und zugkräftig geworden. Fatima, Lourdes, Santiago de Compostella, Taizé und Trier beweisen es. Verdunstet der Glaube tatsächlich bis zur Unkenntlichkeit oder sucht er sich eine andere Gestalt, ein anderes Gewand, einen Ausdruck, der dem selbständig gewordenen, dem theologisch weniger gebildeten Menschen von heute und morgen entspricht?

Der Übergang vom theologisch "Wahren" zum religiös Elementaren.

Mir gehen dabei eigene Erfahrungen durch den Kopf. Bei Vorträgen, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen ist mir immer wieder aufgefallen, wie wenig die akademische Theologie und das Glaubensbekenntnis der offiziellen Kirchen in das Gemüt und Bewußtsein der Leute eingedrungen ist - trotz Katechesen und Predigten bis zum "mehr geht es nicht".

Bei einer ökumenischen Veranstaltung vor einiger Zeit war von der Hoffnung die Rede, daß die Kirchen wohl bald so weit sein könnten, ihre aus dem 16.Jahrhundert stammenden gegenseitigen "Verwerfungen" zurückzunehmen. Dann seien wohl der Tag und die Stunde für die "Einheit der Kirchen" gekommen. Jedenfalls sei die neueste ökumenische Studie "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" der Einheit ein bedeutendes Stück näher gerückt; das Dokument sei äußerst positiv zu bewerten und stelle eine wichtige Etappe dar, wenn es auch noch bedeutende Schwierigkeiten gebe in den Fragen der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, im Eucharistie- und Sakramentenverständnis, im Blick auf Papstamt und apostolische Sukzession...

Im Verlauf der Diskussion stellte sich heraus, daß die allerwenigsten Anwesenden, obwohl zum Großteil aus Akademiker- und Religionslehrerkreisen stammend, von dem bedeutenden Dokument noch nichts gehört hatten. Auch mußte zuerst ein Fachmann darüber aufklären, welches die Verwerfungen der reformatorischen Bekenntnisschriften des 16.Jahrhunderts und im Gegenzug die 15o Verwerfungen des Konzils von Trient gewesen waren. Worin bestand also für die Anwesenden die so schwer zu überwindende Uneinigkeit der Kirchen? Worin könnte für sie die zu suchende Einheit bestehen? In Untersuchungen "von höchster wissenschaftlicher Qualität", von denen die Nichtfachleute noch nie etwas verstanden haben und auch nie etwas verstehen werden - trotz kirchenamtlicher Bemühungen, das Kirchenvolk darüber aufzuklären und auf dem Laufenden zu halten?

Jedenfalls zeigte sich bei diesen und vielen anderen Veranstaltungen das "Oben-Unten-Schisma" (Biser) mitten in den Kirchen. Die Tatsache, daß vor Jahrhunderten - seit der Gründung der Universitäten - die Reflexion über den Glauben in die Hörsäle verlegt wurde, hat dazu geführt, daß das Christentum eine Pastoren-, Theologen- und Spezialistenreligion geworden ist, die "oben" voll und reich ist an theologischer Erkenntnis und Wahrheit, aber "unten" dem Volk jede Mitsprache und Kompetenz in Glaubens- und Kirchenfragen genommen hat. Heute, im Zeitalter der Subjektwerdung des Menschen, zeigt sich in verheerender Weise für die Kirche, was es heißt, jahrhundertelang den "sensus fidelium", die "vox populi" und damit die Alltagserfahrungen der Menschen bei wichtigen Entscheidungen und Weichenstellungen nicht (mehr) gehört bzw. ernst genommen zu haben. Aus religions- wissenschaftlicher Sicht bedeutet dieser Verlust nichts anderes als die Tatsache, daß das Christentum als "herrschende Religion" in vielen Kulturen der Welt das religiöse Potential der Menschen nicht nur kirchenpolitisch vereinnahmte, sondern auch zerstörte oder wie eine weiße Schneedecke zudeckte und erstickte, so daß "von unten" nichts mehr wachsen konnte.

Die Tatsache, daß bis in die jüngste Zeit immer der politische oder religiöse "Fürst" die Religion seiner Untertanen bestimmte, hat zu einem Glaubensverständnis in Abhängigkeit, Untertänigkeit und Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit geführt, aber nicht zu einem eigenständig verantworteten Glauben. Was jahrhundertelang auf diese Weise kirchlich funktionierte, hat in dem Augenblick aufgehört, ein tragender Faktor zu sein, als das Freiheits- und Unabhängigkeitsbewußtsein die Menschen erfaßte. Im Blick auf die Taufenden Sekten und freien Kirchen, die heute weltweit wie Pilze aus dem Boden schießen; im Blick ebenso auf das bedrängende Phänomen, daß auch in den westlichen Ländern ein Großteil der Menschen durchaus christlich sein und bleiben will, ohne dabei an eine kirchliche Bindung zu denken; im Blick auf die Tatsache, daß ein Großteil der Kirchenaustrittswilligen von einem "langen Entfremdungsprozeß von der Kirche" spricht, von "eigenen Glaubenseinsichten" und "eigenen religiösen Überzeugungen" - alles das scheint ein Bewußtsein zu markieren, welches das religiöse Potential in der Menschheit wieder zu neuem Leben erweckt, allerdings fernab von den Kirchen. Man könnte diesen geschichtsmächtigen Vorgang als einen Übergang interpretieren vom kirchenamtlich Wahren und objektiv Richtigen zum religiös Elementaren - verbunden mit dem Niedergang der bisher herrschenden Religionen und Konfessionen.

Auch die Wallfahrtsbewegungen in unserer Zeit scheinen dies deutlich zu bestätigen. Was in Trier zu beobachten war, war alles andere als "objektiv wahr" und noch weniger eine Rückkehr suchender und ahnender Menschen zur traditionell vorhandenen Kirchlichkeit. Vielmehr sind solche religionswissenschaftlich feststellbaren Phänomene eine enorme Herausforderung an die Kirchen: an ihre Strukturen, an ihr Ämter- und Sakramentenverständnis, an ihre Liturgie und ihr metaphysisch-philisophische Theologie überhaupt. Man könnte sie in der Frage zusammenfassen: wieviel Philosophie, Theologie und herkömmliche Kirche brauchen die Menschen, um glauben zu können? Vermutlich viel weniger, als es kirchlich zu denken bisher erlaubt oder üblich war. Jedenfalls sind Kirche und Theologie in die größten Schwierigkeiten geraten, weil sie schon lange aufgehört haben, im täglichen Leben verwurzelt zu sein und sich - bei aller Abgehobenheit in Lehre und Sprache - den beunruhigenden Zeichen der Zeit und den elementaren Erfahrungen der Geschichte zu stellen. Dagegen finden sich für die Suchenden "Kanzeln" überall

Mit Christus unterwegs - zu einer christlichen Kultur "von unten".

Der Bischof von Trier hat von vorneherein gut daran getan, den Blick der Gläubigen nicht allzu sehr auf einen Rock zu konzentrieren, sondern das Unterwegssein der Leute in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die Reaktion auf das "Mit Christus unterwegs" kennzeichnet in vieler Hinsicht die religiöse Weltsituation, die der großen Glaubenslehren, weil ideologieverdächtig, überdrüssig geworden ist. Sie verlangt vielmehr nach Menschen oder Gruppen, die modellhaft und exemplarisch der Welt vor Augen zu führen vermögen, wie Leben gestaltet und gemeistert werden kann - sogar über den Tod hinaus. Also Lebensmeisterung statt Glaubenskriege, Weltbewältigung statt denkerischer Haarspaltereien "in Christus".

Beim gegenwärtigen Niedergang der Kirchen ist in Trier deutlich geworden, daß eigentlich nur exemplarische Menschen das religiöse Potential von Menschen zu wecken vermögen. Für die Kirchen eröffnet sich die Chance, die Gestalt Jesu als Modellfall gottgewollten und gottgemäßen Lebens, seine Lebenspraxis, sein menschennahes und situationsgemäßes Denken und Handeln in die Mitte ihrer Verkündigung zu stellen. Und vor allem in die Mitte ihrer eigenen Praxis! Für heutige suchende und fragende Menschen ist dies jedenfalls entscheidend wichtiger als kirchenrechtliche und systemimmanente Festlegungen "von oben", weil die Erinnerung an die Worte und Taten Jesu einen grundsätzlich anderen Geist atmen als festgeschriebene Verlautbarungen. Wo Jesus auftritt, da wird immer der einzelne in seiner einmaligen situativen Größe und Tragik wichtig. Auch wer ihm damals schon zu seiner Zeit begegnete, wurde nicht mit einer Vorschrift, einem Gebot oder Verbot konfrontiert, sondern mit einer befreienden Perspektive zum Weitermachen oder zu einem neuen Anfang auf dem Wege Gottes.

Die Welt, in der wir leben, hat keine Lust mehr, sich an theologisch-konfessionellen Rechthabereien zu beteiligen. Sie ist der inquisitorischen Machenschaften und Verleumdungen überdrüssig geworden und hat auch jeden Sinn verloren für Glaubenskongregationen und Wahrheitsbüros im Stile George Orwells. Sie hat eher wieder den Sinn dafür entdeckt, daß es durchaus verschiedene Zugangswege zum Verständnis der Person Jesu geben kann und damit auch verschiedene Zugangswege zum Glauben. Auch das ökumenische Anliegen des Volkes, seine Eigendynamik, scheint darauf hinauszulaufen, daß es nach Lebensformen und Lebensstilen verlangt, die den Geist der Botschaft Jesu widerspiegeln und einen Eindruck dafür hinterlassen, wie die "Zivilisation der Liebe" im Kleinen wie im Großen Form und Gestalt annehmen könnte.

Tatsächlich ist ja Jesus nicht gekommen, eine bestimmte Theologie ohne Wenn und Aber und eine zweifelsfreie Christenlehre zu verkünden - zum Gedankenschmaus für Denker und als Übungsfelder für ideologische Kämpfer und religiöse Eroberer. Er hat keine Definitionen formuliert und keine Moralvorschriften erlassen. Er hat noch nicht einmal Gottessicherheit gebracht, obwohl sich viele danach sehnen. Er verkündete das Reich Gottes. Mit dem Schon-Jetzt der anbrechenden Gottesherrschaft waren Werte und Lebenshaltungen gemeint - ein menschlich nicht leichter Lebensstil persönlicher Würde und verantworteten Miteinanders.

Das Christentum an der Schwelle eines neuen Jahrtausends muß sich ernstlich überlegen, auf was es sich in Zukunft konzentrieren will? Jedenfalls steht fest: Hätte die Kirche seit Jahrhunderten annähernd soviel Kraft, Intelligenz, Energie und schöpferische Initiativen für die Entwicklung situations- und zeitbedingter Lebensstile entfaltet, wie für die Absicherung ihrer Privilegien und die Definierung, Formulierung und Verteidigung ihrer unfehlbaren Glaubenssätze - ihr Zeugnis könnte sich seit Jahrhunderten sehen lassen, ihre Lehr-Sätze wären nicht über Nacht zu Leer-Formeln und leeren Hülsen geworden.

Auf Zukunft hin wird die Welt weniger nach großer christlicher Gelehrsamkeit lechzen als vielmehr nach einer humanen Kultur, die ihre Wurzeln in einer Botschaft hat und aus ihr ihre immanente und transzendente Glaubwürdigkeit gewinnt. Trier und viele andere religiöse Bewegungen legen den Gedanken nahe, daß die Kirchen und Konfessionen wieder entschieden jesuanischer werden müssen - mit allen Konsequenzen für Kirchen- und Ämterverständnis. Sollten sie sich, weil im Guten verhärtet, diesem elementaren, aber folgenreichen Anspruch widersetzen, besteht für viele Menschen kein Anlaß mehr, ihrem Sterben nachzutrauern. Sie werden den Staub von ihren Füßen schütteln und sich an anderen "Hoffnungsversuchen" beteiligen. Für diejenigen, die nicht im religiösen Niemandsland untertauchen möchten, bieten sich heute schon die sogenannten Sekten und freien Kirchen tausendfach als Ausweg an. Sich ihnen anzuschließen, scheint ohne Skrupel und Gewissensbisse möglich.


Letzte SeitenÄnderung: 08.03.2005.
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