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Wo Kirche in Bedrängnis gerät: Fünf Prioritäten pastoralen
Handelns
"Anzeiger für die Seelsorge": 04. Mai 1996
1. Gemeindeerneuerung - wichtigstes Gebot der Stunde?
Vielen erscheint die Gemeindeerneuerung die wichtigste
Priorität, damit engstens verbunden die Sakramentenpastoral.
Tatsächlich drängen sich diese Forderungen als Reaktion auf die
vielen "Diagnosen" auf, die heute die pastorale Realität zu
beschreiben versuchen, angefangen bei dem Satz Kardinal Königs
aus Wien: "Die Kirche ist krank. Sie kämpft ums Überleben."
Diese nüchterne Feststellung taucht seit Jahren in allen
möglichen Varianten immer wieder auf. Von "ausblutenden
Gemeinden" ist die Rede, vom "fortlaufenden Erfolg", von "Kirche
im Koma", von der "Erosion der Gnadenanstalt". Die Zahlen der
Kirchenaustritte und der immer leerer werdenden Gottesdienste am
Sonntagmorgen sprechen eine deutliche Sprache. Trägt die Kirche
für heutige Menschen immer mehr das Signum der
"Entbehrlichkeit"?
Auffallend ist, dass die fortschreitende Distanz zu Kirchen und
Gemeinden ohne große Auffälligkeit geschieht. Ein "schlechtes
Gewissen" scheint die Menschen nicht zu quälen. Sie bleiben
einfach weg. Oder die Kirche ist noch gut für bestimmte
feierliche Anlässe: für Taufen, Erstkommunionfeiern,
Eheschließungen und Beerdigungen. Wie in den Medien zu lesen
war, hat sich auch die deutsche Bischofskonferenz im Frühjahr
2001 mit dem "zunehmenden Bedeutungsmangel" und "Christenmangel"
in den Gemeinden beschäftigt. Von "alarmierenden Signalen, die
in die Knochen fahren", war die Rede. In schonungsloser
Offenheit und Ehrlichkeit soll von einer Botschaft gesprochen
worden sein, die wir nicht mehr "rüberbringen". Dem
"Selbsterhaltungsbetrieb Kirche" fehlten das "Missionarische",
der Aspekt der Sendung gegenüber dem der "Sammlung und
Versorgung".
Was "die Beschäftigung der Kirche mit sich selbst" betrifft,
scheint diese nicht besonders überzeugend zu gelingen. Sonst
würde das alte Sprichwort seine Kraft entfalten: "Wovon das Herz
voll ist, davon fließt der Mund über." Aber er fließt nicht
über. Würde der Mund überfließen, dann wäre die "missionarische
Verkündigung" sozusagen wie von selbst erreicht. Sie wäre ein
Indiz dafür, dass die "frohe Botschaft" als solche erkannt
worden wäre. Zudem stellt sich heraus, dass sich "Glaubens- und
Gotteskrise" nicht wortreich überwinden lassen; dass die "Glut
des Evangeliums" und "die Leidenschaft für Gott" nicht durch
Appelle und theologische Vitaminspritzen zu entfachen sind.
Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sich immer noch
zahlreiche Geister und Gemüter regen, um Gegenmaßnahmen zu
ergreifen. Sie bieten ein breites Spektrum. "Gemeindeerneuerung"
steht auf dem Programm; das Nachdenken über verschiedene
Gemeindemodelle; der Ruf nach verantwortlichen Laien, nach den "viri
probati", nach Diakoninnen und Frauenämtern in der Kirche.
Wo es um solche und ähnliche Forderungen geht, lassen sich die
"Gegenstimmen" nicht einfach überhören. Denn andere christliche
Konfessionen haben Solches und Ähnliches schon längst
eingeführt, ohne dass es ihnen besser dabei geht.
2. Werte, die zum Leben verhelfen, sind gefragt
Beim vielen Hin und Her der "Gemeindeerneuerung" und des
Reformwillens ist immer wieder zu beobachten, dass dabei stets
"die selben Gesichter zu sehen sind". So bewundernswert ihr
Eifer ist, wachsen die Klagen darüber, dass die Lasten auf ihren
Schultern immer schwerer werden, weil sie von immer weniger
"Aktiven" getragen werden müssen. Dabei werfen sie wichtige
Fragen auf: Haben Versuche der Gemeindeerneuerung eine
"missionarische Dimension", die auch "Fernstehende" noch
erreicht? Oder ist doch eher eine verständliche
Selbstbeschäftigung der Rest-Gemeinden im Gange, die den
Eindruck erweckt: hier bemüht sich ein Verein neben vielen
anderen Vereinen in der heutigen Gesellschaft um seinen
Selbsterhalt; hier wird versucht, die Mitglieder bei der Stange
zu halten - ein Bemühen, welches jedem Fußballclub oder
Taubenzuchtverein eigen ist. Kann eine solche Art des
Selbsterhaltes weiter führen als dass eine gewisse
"Bremswirkung" auf das Schrumpfen der Gemeinden erreicht wird?
Jedenfalls hat es neulich ein Pfarrer in einer Pastoralkonferenz
wie folgt ausgedrückt: "Die Kirche ist auch an Sonntagen ein
Verein unter vielen konkurrierenden Vereinen geworden. Ich
bemühe mich von früh morgens bis spät abends mit dem Ergebnis,
dass meine Gemeinde etwas langsamer stirbt als die der anderen."
Man muss nicht nur auf die großen Allensbacher Untersuchungen,
auf die Berliner Jörns-Studie von 1992 oder die regelmäßig
wiederkehrenden Shell-Studien schauen - auch die "kleineren
Umfragen" in den Gemeinden vor Ort machen deutlich: den Menschen
geht es in erster Linie nicht um Gemeinde- und
Kirchenerneuerung, wenn ihnen dieses Anliegen von
"Hauptamtlichen" auch voreilig unterstellt wird. In der
Rangfolge scheint ihnen auch die krisengeschüttelte Großkirche
nicht besonders am Herzen zu liegen. Die Gläubigen, die zu ihrer
Ortsgemeinde noch enge Bindungen haben und pflegen, nennen nicht
"Gemeindeerneuerung" ihre primäre und wichtigste Aufgabe. Denn
was "Gemeinde" ist, läßt sich schwer definieren. Christen wohnen
irgendwo oder ziehen in ein bestimmtes Wohngebiet. Dann heißt
es: dieses Territorium gehört zur Gemeinde "Maria Aufnahme" oder
ähnlich. Noch bevor sich die Christen kennen oder Kontakt
miteinander aufgenommen haben - manche wollen ihn gar nicht oder
sind es nicht gewohnt, Kontakte zu pflegen - , werden sie doch
einer Gemeinde zugeordnet. Bei bestimmten Anlässen wie Taufe,
Firmung, Eheschließung... muss der Einzelne sich dessen bewusst
werden. Ansonsten pflegen Christen wie alle anderen
freundschaftliche und berufliche Kontakte, unabhängig von
Gemeindegrenzen. Was ist also "Gemeinde"? Ein Ort der
Zusammengehörigkeit, der Vertrautheit, der gemeinsamen
Lebensausrichtung?
Während "Gemeinde" eine recht verschwommene Vorstellung bleibt,
gibt es in den heutigen gesellschaftlichen Umbruchsituationen
doch zahlreiche "Christen im Aufbruch", oder besser gesagt: in
einer Selbstbesinnungsphase. Sie ist zum Teil von der Angst
bestimmt, dass im Umbruch der Zeit viel Liebgewordenes verloren
geht. Deshalb geht es ihnen um den Erhalt fundamentaler Inhalte
und Werte, die zum eigenen Leben verhelfen --weniger zunächst um
"Gemeinde". Die Erfahrung zeigt und scheint gerade in den
banalen Alltagserfahrungen ins Bewußtsein zu heben, dass der
Mensch nicht vom Brot allein leben kann. Er braucht Sinn und
Lebensorientierung. Er braucht Menschen, die etwas verkörpern
und Beispielhaftes tun. Ob gesuchte Werte "Liebe" heißen oder
"Toleranz", Gerechtigkeit oder Klugheit, Lebensbewältigung oder
Hoffnungsperspektiven, Tüchtigkeit im Leben oder Solidarität mit
anderen - "Werte", die das Leben lebenswert und tragfähig
machen, sind gefragt. Sie sind im Strom der Schnelllebigkeit wie
"Strohhalme", an denen man sich festmachen, wie Wurzeln, aus
denen heraus sinnvolles Leben zustande kommen kann. Christen
müssen sich mehr denn je ihres "Wertekataloges" bewusst werden
und dabei "Gemeinde" werden.
3. Orientierung an "exemplarischen Menschen" - statt
"Indoktrination und Sozialisation"
Menschen der Vergangenheit und Gegenwart nach dem befragt, was
sie am meisten im Leben geprägt, beeinflußt, lebenstüchtig oder
depressiv gemacht hat, weisen gewöhnlich auf Bezugspersonen hin,
die Einfluß auf sie hatten. Da war die übernervöse oder sorgende
Mutter, der sehr autoritäre oder verstehende Vater, der barsche
oder der aufbauende Lehrer, der moralisierende oder
menschenfreundliche Priester. Meistens gehen die Erfahrungen mit
Bezugspersonen schon während der Kindheit ins Gottesbild ein.
Dann wird Gott auch als "sehr autoritär" oder verstehend,
strafend oder verzeihend-liebend verstanden. Auch das Kirchen-
und Weltverständnis werden davon geprägt. Je nach persönlichen
Erfahrungen beurteilen sie die Welt, kirchliche Verhältnisse,
Autoritäten und Weisungen so oder so. Bis ins hohe Alter können
Reaktionsweisen der Pubertätszeit nachwirken: "Abnabelung",
Distanzierung, scharfe Kritik, Verständnis, Bejahung,
Akzeptanz...
Weil eigene Erfahrungen fast alles sind, müssen Christen durch
Gespräche zueinander finden. Sie müssen den Mut und das
Vertrauen zueinander aufbringen, offen und ehrlich alles Erlebte
und Erfahrene zur Sprache zu bringen, aufzuarbeiten, zu
"verdauen", Abstand davon zu bekommen. Erst dadurch werden sie
frei für zwei entscheidende Lebensgrundlagen:
- Wer bin ich selbst? Welche Fähigkeiten, Gaben,
Charismen... hat Gott jedem von uns mit auf den Lebensweg
gegeben? Welche Grenzen sind damit verbunden? Wie und wo ist
jede/jeder von uns ergänzungsbedürftig durch andere? Wie
können wir so zueinander finden und gemeinsam Leben und Welt
gestalten?
- Wer ist das eigentlich: Gott? Wer war Jesus wirklich? In
welchen Lebenssituationen hat er gestanden? Inwiefern ist das,
was er gesagt und getan hat, hilfreich für die Bewältigung
heutiger Lebensprobleme und Aufgaben? Wie können die Worte und
Taten Jesu durch uns weitergehen?
4. Es geht um das, was Menschen persönlich betroffen macht
Im Christentum hat es einmal so etwas wie eine "Dynamik des
Anfangs" gegeben. Diese Dynamik wurde im Laufe von 2000 Jahren
immer wieder gebremst und durch Versagensgeschichten vereitelt.
Könnte so etwas wieder möglich werden - auch in unserer Zeit, in
unseren Gemeinden? Man kann "Erneuerung" und "Aufbruch" nicht
herbeireden, auch nicht "begeistert" in Sonntagsreden
beschwören, die am nächsten Werktag wieder vergessen sind.
Dennoch: es gibt sie. Es kann sie zu jeder Zeit und an jeden Ort
geben. Einige Voraussetzungen, die dafür wichtig sind, seien
hier genannt:
- Wie oben schon betont: Orientierung am Gründer, an
Heiligen und "Vorbildern", die auf zeitgemäße Weise die
Anliegen Jesu deutlich machen. Erinnert sei an Edith Stein,
Helder Camara, A. Schweitzer, M. L. King,
Mutter Teresa und andere. Es können auch eigene Eltern,
Freunde, Bekannte sein, also Menschen aus nächster Nähe.
- Entdeckung der eigenen Begabungen und Kräfte, die in jedem
schlummern und "wach" werden müssen. Sie sind wie Gras,
welches die Frühlingssonne - sprich "Gemeinde" - zum Leben
erweckt. Gemeinde muss Personwerdung ermöglichen!
- Zusammenspiel der Kräfte. Da gilt nicht: "mit dem eigenen
Kopf durch die Wand", sondern "wir alle gemeinsam", die wir
die konkreten Aufgaben des Lebens zu sehen und zu bewältigen
haben (in Ehe, Familie, Kirche, Gesellschaft, Berufswelt). Es
geht um den Erfahrungsaustausch über alles, was Leben und
Glauben erfreulich oder bedrohlich macht; es geht um eine
gemeinsame Lebens- und Gesprächskultur!
- Vertrauen und Hoffnung auf den, der die Sonne aufgehen
läßt über alles, was für Menschen heilsam und erlösend ist.
Wenn durch Christen die Worte und Taten Jesu weitergehen,
jeweils auf den "Stand", auf den "Punkt" gebracht werden,
können Gemeinden so etwas wahr machen, was das Evangelium als
"Licht der Welt", als Salz der Erde bezeichnet. Dadurch
erfährt Gemeinde überhaupt erst "Existenzberechtigung" und
Bestätigung ihrer selbst.
5. Fünf Forderungen pastoralen Handelns
Umfragen und Entwicklungen im pastoralen Bereich, die hier nicht
näher berücksichtigt werden können, lassen den Schluß zu, dass
pastorale Aktivitäten sich darauf konzentrieren müssen, eine
neue, vom Evangelium her inspirierte "Wertediskussion" in Gang
zu setzen, um den Menschen in der allgemeinen
Orientierungslosigkeit Halt, Stabilität und eigene Identität zu
ermöglichen. Fünf Forderungen seien hier erhoben.
- Pastorales Handeln muss grundsätzlich davon Abstand
nehmen, Menschen für den Betrieb "Kirche" zu gewinnen und sich
selbst als ein Verein unter vielen anderen Vereinen zu
disqualifizieren. Zudem sind die Menschen von heute, besonders
die jüngeren Generationen, sehr misstrauisch geworden
gegenüber jeder Form von Vereinnahmung. Die sie sich leicht
gefallen lassen, sind nicht unbedingt die originellen und
schöpferischen Kräfte innerhalb von Gesellschaft und Kirche.
- Pastorales Handeln muss davon absehen, die Menschen zu
"Miniaturtheologen" heranbilden zu wollen, statt sie zu
"Hörern des Wortes" zu "Hörern kirchlicher Verlautbarungen" zu
machen (vgl. Mt. 23,42). Je ausgeklügelter die Theologie und
ihre Sprache sind, desto unwilliger werden die Menschen, das
Vorgegebene zu lernen und willig nachzuvollziehen.
- Pastorales Handeln muss grundsätzlich dazu fähig sein, die
Lebens-Werte des Evangeliums für das Hier und Heute zu
entdecken. Da geht es nicht um das Verkünden von hehren
Ansprüchen wie Liebe, Gerechtigkeit, Toleranz,
Geschwisterlichkeit, sondern um das gemeinsame
Sich-Rechenschaft-Ablegen über deren Realisierbarkeit. Dazu
gehört der ehrliche Umgang mit Versagensschichten, Ängsten,
Zweifeln, Nöten..., wie sie in jeder Lebensbiographie und im
Gesamten der christlichen Geschichte zu finden sind. Den
kritisch gewordenen Generationen gegenüber muss es um eine
"neue Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit" gehen.
- Es geht um die Einübung in die Wertevorgaben des
Evangeliums nicht im Sinne des "Idealismus", sondern des "Meliorismus"
("Was meistens nur mäßig gelingt, wollen wir stets neu
versuchen."). Für solche "Einübung" sind nicht so sehr kluge
akademische Lehre und Wahrheitssysteme wichtig, sondern
"exemplarische Menschen": angefangen bei den Großen der
christlichen Geschichte bis zu den eigenen Eltern, Verwandten,
Freunden, die bisweilen als hilfreicher und wertvoller
angesehen werden als alle Bücher und hochplatzierten
Amtsträger der Welt.
- Es geht um das "Suchet zuerst das Reich Gottes" (Mt.6,
33). Dann wird alles andere hinzugegeben: auch der Sinn für
Gnade, Erlösung, Sakramente, christliche Gemeinschaft...
"Gemeindeerneuerung" steht nicht am Anfang, sondern am Ende
eines von möglichst vielen Menschen getragenen Prozesses des
gemeinsamen "Leben- und Liebenlernens in Christus".
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