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5. Leben als Steinbrucharbeit.
Deutsche Welle, 28. Okt. 1995.
Verehrte Hörerinnen und Hörer.
Von Mutter Teresa aus Kalkutta stammt das Wort: "Leben ist eine
Herausforderung, stell dich ihr... Leben ist Sorge, überwinde
sie... Leben ist Kampf, nimm ihn auf... Leben ist eine Tragödie,
biete ihr die Stirn..."
Solche Gedanken und Erfahrungen über das Leben klingen nicht
gerade wie feierliche Sonntagsmusik. Eher drücken sie
illusionslosen Realismus aus. Der lateinische Dichter Vergil hat
ihn schon vor 2000 Jahren auf die Formel gebracht: Die Dinge
haben, so wie sie sind, ihre Tränen. Die Welt ist voll von
Traurigkeit und Bitterkeit. Man kann den Enttäuschungen des
Lebens nicht entfliehen. Wer es dennoch versucht, kommt vom
Regen in die Traufe. Er würde sozusagen nur den Schauplatz
ändern; das Drama selbst bliebe überall dasselbe.
Es scheint wie ein Kainsmal der Menschheit anzuhaften - wie ein
unauslöschliches Siegel. Schon auf den ersten Seiten beschäftigt
sich das Alte Testament mit der Frage nach dem "Warum?" des
Elends und des Leids. Die Antwort, die es findet, lautet: Die
ersten Menschen haben bereits gesündigt; sie haben sich den
Plänen Gottes von Anfang an widersetzt, weil sie es immer schon
besser wußten... Deshalb wurden sie aus dem Paradies vertrieben.
Gott sprach zu Eva: "Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du
schwanger bist. Unter Schmerzen gebierst du Kinder..." Und zu
Adam sagte er: "So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen.
Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens.
Dornen und Disteln läßt er dir wachsen, und die Pflanzen des
Feldes mußt du essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du
dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden. Denn Staub
bist du, zum Staub mußt du zurück" (Gen 3,16-19).
Man kann hinter einem solchen Fluch über die Menschheit einen
unverzeihlichen, rächenden und masochistischen Gott vermuten.
Korrekter jedoch ist es, das Selbstverständnis der Menschen von
damals darin zu sehen. Schon am Anfang der Weltgeschichte
machten sie die Erfahrung, daß die Dinge ihre Tränen haben. Ob
man sich nun ins Kloster zurückzieht oder nicht; ob man im
Operationssaal einer Klinik oder in der Großküche eines Hotels
sich abmüht; ob man - wie Mutter Teresa - nach Kalkutta geht, um
einen nahezu aussichtslosen Kampf für die Ärmsten der Armen zu
führen - ganz gleich, wie und wo ein Mensch sein Leben fristet:
die Dinge haben unausweichlich ihre Tränen. Es gibt keinen Ort
auf der Welt, wohin man fliehen könnte, um aller Probleme ledig
zu sein.
Deshalb auch die uralte Erfahrung der Menschheit, die zugleich
eine Aufforderung an alle ist: Sorgen müssen durchsorgt, Trauer
muß ausgetrauert werden! Das Leben ist eine harte
Steinbrucharbeit. Es ist durchsetzt von Krisen und Niederlagen.
In solchen Zeiten geht es jedem so wie jenem Arbeiter, dem sein
Werkzeug zerbrochen, dem das für seinen Beruf unverzichtbare
Handwerkszeug abhanden gekommen ist. Wo Hoffnungen und
Illusionen, Ideen und Utopien zerbrechen, da bleibt nur Eines:
das Werkzeug wieder herzurichten, um wieder arbeiten zu können;
wieder Boden unter die Füße zu bekommen, damit die Schritte und
Tritte wieder gelingen.
Insofern werden Menschen immer wieder mit der Notwendigkeit zu
einem neuen Anfang konfrontiert. Das geht dem unheilbar Kranken
ebenso wie dem Behinderten; dem so oder so in Not Geratenen, dem
Arbeits- und Obdachlosen... Auch Eheleute sind davon nicht
ausgenommen, die dabei sind, ihre Gemeinschaft aufzulösen.
Ebenso die angefochtenen Priester nicht, die alles hinschmeißen
möchten. Da gibt es die vernachlässigten Kinder, die verlassenen
Liebenden und die vereinsamten Alten...
Sie alle können - so oder so - in schlaflosen Nächten oder an
sinnlosen Tagen zur Beute einer Panikstimmung werden. Ihre
verzehrenden Sorgen, ihr nagender Kummer, ihre bohrende Pein
können sie zu Fluchtbewegungen veranlassen: heraus aus dem
Leben, heraus aus dem Alltag, heraus aus der Welt! Wenn auch
nicht hinein in den Tod, so doch hinein in Illusionen, in
weltabgewandtes Schwärmertum, in die Einsamkeit der Wüste und
Beziehungslosigkeit, die anscheinend alles vergessen machen. Nur
nicht mehr zurück in die banalen Niederungen des Alltags!
Und doch lebt uns Mutter Teresa beispielhaft vor, in jeder Krise
eine CHANCE zu erkennen: "Leben ist ein Traum, verwirkliche
ihn... Leben ist ein Versprechen, erfülle es... Leben ist ein
Abenteuer, wage es..."- Im morgigen Evangelium begegnet uns die
Gestalt des Zöllners, der die ehrliche Erfahrung gemacht hat,
daß nichts im Leben Anlaß zu Selbstbetrug und
Selbstüberzogenheit sein kann. Alles Menschliche bleibt immer
nur sehr begrenzt, fehlbar, bruchstückhaft. Deshalb kann er mit
dem Bewußtsein aus dem Tempel gehen, daß erniedrigt wird, wer
sich selbst erhöht; daß erhöht wird, wer sich selbst erniedrigt.
Denn da ist noch einer mitten im Leben, der Unerlöstes zu
erlösen vermag (vgl. Lk 18,9-14).
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