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Prägungen der Kindheit?
Vielleicht ist jeder Mensch durch Ereignisse in der Kindheit
stärker geprägt, als es im Laufe des späteren Lebens bewußt
wird. Heute wird viel von Kriegsgefangenen geredet, die bei uns
im Nazi-Deutschland zur Zwangsarbeit verpflichtet waren und nun,
nach fast 60 Jahren, durch Firmen zu entschädigen sind. Ich
erinnere mich an ein Lager mit russischen Kriegsgefangenen. Sie
hatten einen Bunker zu bauen - ganz in der Nähe meines
Elternhauses. Der Bevölkerung war es strengstens verboten, mit
den Gefangenen in irgendeiner Weise Kontakt aufzunehmen. Sie
waren von deutschen Soldaten scharf bewacht. Um das Lager herum
war ein hoher Drahtzaun gespannt. Gelegentlich sah man die
hungrigen, ausgemergelten Gesichter der Gefangenen, wie sie über
den Zaun zu uns herüber schauten.
Ich war damals 9-10 Jahre alt. Eines Tages sagte meine Mutter zu
mir: "Im Drahtverhau habe ich ein Loch entdeckt. Heute abend,
wenn es dunkel geworden ist, versuche, dich durch das Loch
durchzuzwängen. Du bist noch klein. Du kannst es. Aber sei
vorsichtig, dass du nicht erwischt wirst. Bringe den hungrigen
Gefangenen ein paar Pellkartoffeln und ein Stück Brot."
So habe ich es öfter gemacht. Es war ein waghalsiges
Unternehmen. Es hätte weniger mir, aber meinen Eltern das Leben
kosten können. Ich erinnere mich, dass meine Mutter noch
hinzufügte: "Denk an deinen älteren Bruder. Mit 18 muss er schon
in Rußland kämpfen. Vielleicht findet er dort auch jemanden, der
ihm ein paar warme Pellkartoffeln gibt."
Es muss hinzugefügt werden: meine Eltern waren einfache, aber
christlich überzeugte Leute. Was sie hier taten, hatte mit ihrem
christlichen Selbstverständnis zu tun. Ihre sehr konkreten
Verhaltensweisen haben mich schon sehr früh gelehrt: Christentum
besteht nicht aus großen Worten und aufwendigen Gesten, auch
nicht aus auswendig gelernten Glaubenssätzen und umfangreichen
Katechismen, sondern aus kleinen Schritten, die etwas mit den
konkreten Herausforderungen des Lebens zu tun haben. Man könnte
auch sagen: mit Werten, die es konkret zu verwirklichen gilt.
Meine Eltern verstanden nichts von Theologie und
"Glaubenslehren". Sie haben nie eine Universität besucht. Und
doch hatten sie besser verstanden, worauf es ankommt, als manche
mit Gelehrsamkeit und akademischer Klugheit Ausgestattete.
Damals war diese einfache und selbstverständliche Art, Christ zu
sein, noch fraglos eingebunden in herkömmliche Kirchlichkeit.
Heute wandern nicht nur "Ungläubige" aus der Kirche aus, sondern
auch diese Art der Christlichkeit meiner Eltern. Die Christ sein
wollen und es versuchen, werden unkirchlich. Ein breiter Graben
tut sich auf zwischen offizieller kirchlicher Gelehrsamkeit und
persönlicher, christlich geprägter Lebensweise, "zwischen
Evangelium und Kultur", wie Paul VI sagt. Wo ist der Glaube, wo
der Unglaube? Vielleicht gibt es zu viele Ungläubige in den
Kirchen und genug Gläubige außerhalb von ihnen. Niemand weiß zur
Zeit, wohin die Reise der Kirchen geht... Jedenfalls sind sie
zum großen Teil mit ihrer klugen Theologie am Ende. Sie müssen
sich anstrengen (bekehren!), wenn sie die Zukunft noch für sich
entscheiden wollen.
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