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2. Die Größe und Tragik religiöser Überzeugungen.
Deutsche Welle, 16. Sept. 1995.
Verehrte Hörerinnen und Hörer.
Neulich war in einer der großen deutschen Zeitungen die
Nachricht zu lesen, daß nichts so sehr die heutige Menschheit
zusammenzuführen imstande sei wie Tourismus und wirtschaftliche
Zusammenarbeit. Noch nie habe es durch solche "Märkte" in der
Menschheit so viele einigende Kräfte, Interessengemeinschaften
und Motive zur Verständigung gegeben wie heute. Dabei kann der
moderne Mensch in wenigen Stunden die Kontinente überfliegen; er
hat die Möglichkeit, sich schnell und sicher über die Sprache
und Kultur anderer Völker zu informieren. Bei allem macht er die
Erfahrung, wenn er offen dafür ist, daß Freundschaft und
gemeinsame Vorteile entschieden tragfähiger sind als völkische
Verschiedenheiten und rassische Vorurteile - trotz der
nationalen, weltanschaulichen und religiösen Schranken und
Barrieren, die das Leben früherer Jahrhunderte allzu sehr
bestimmten und oft in kriegerische Auseinandersetzungen ausarten
ließen.
Tourismus und Wirtschaft also als einigende Kräfte - mitten im
Spannungsfeld so vieler Faktoren, die die Menschheit spalten und
fast naturnotwendig Völker gegeneinander aufbringen! Zu den
Spaltpilzen, so wurde in der Zeitung wie selbstverständlich
festgehalten, gehörten die Religionen, die religiösen
Überzeugungen! Wo die Menschheit ohnehin schon dauernd bedroht
sei durch sprachliche, rassische und völkische Polarisierungen,
da würden angeblich die Religionen noch ihr Potential an
Gewaltbereitschaft entfalten. Religiöse Glaubenshaltungen also
eher Anlässe zum Streit als Motive zu Verständigung und
Versöhnung?
Es besteht kein Zweifel, daß die Religionen sehr oft in der
Geschichte ein solch verhängnisvolles Spiel gespielt haben. Es
hat blutige und grausame Religionskriege gegeben. Es gibt sie
heute noch - angeblich im Namen Gottes und der "gerechten
Sache". Meistens wurden sie vom Zaun gebrochen, wenn
machtbesessene Politiker und Militärs die religiösen Gefühle der
Menschen auszunutzen und auszubeuten verstanden zugunsten ihres
militärischen und eroberungssüchtigen Kalküls. Oft lagen und
liegen die Wurzeln zur Gewalt aber auch in den Religionen selbst
- vor allem in solchen Zeiten, in denen Gedankenakrobatiker sich
des religiösen Erbgutes bemächtigten und behaupteten, schwarz
auf weiß die Gedanken und Absichten Gottes begriffen zu haben.
Wo so oder anders geschulte religiöse Begriffshantierer den
Anspruch erheben, die Wahrheit Gottes in ihrer Fülle und
unfehlbaren Gewißheit für sich beanspruchen zu können, da
entstehen die vielen gegeneinander arbeitenden Kirchen, Sekten
und frommen Gruppierungen, die in der Tat die Menschheit noch
mehr spalten als sie es ohnehin schon ist.
Der chinesische Weise Laotse hat schon vor ca. 2300 Jahren die
religiösen Machthaber im Namen der Religion scharf kritisiert,
indem er gegen sie schreibt:
"Unsere Hoffnung liegt nicht bei euch Heiligen, euch Gelehrten.
Wir brauchen eure Wohltätigkeit nicht und nicht eure Moral. Was
wir brauchen, sind Gerechtigkeit und Liebe. Gewaltverbrecher und
Diebe werden von selbst verschwinden, wenn die großen Genies und
Kriegsgewinnler aussterben. Eure Tugenden sind wie Hülsen, wie
gleißende Außenansichten, deren Schein trügt. Sollen Begierde
und Selbst- sucht sterben, ist die Bedingung: vollkommene
Einfachheit und Ehrlichkeit".
Auch Jesus hat dazu aufgerufen, Haltungen einzunehmen und
einzuüben, die dem Frieden und der Gerechtigkeit entschieden
besser dienlich sind als feierliche Deklarationen und
Sonntagsreden: "Wenn du zu einem Festmahl eingeladen bist, setz
dich nicht auf den ersten, sondern auf den letzten Platz... Denn
wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden und wer sich
selbst erniedrigt, wird erhöht werden" (Lk 14,1.7-14).
Vielleicht besteht das Elend der Welt tatsächlich darin, daß es
zu viele gibt, die, von einem dunklen Drang getrieben, um jeden
Preis etwas WERDEN möchten, und daß sich in diesem Welttheater
zu wenige finden, die etwas TUN möchten, damit Frieden und
Gerechtigkeit wachsen. Wo alle die Größten sein wollen, da
entstehen Mord und Totschlag. Die wirkliche Würde des Menschen,
wenn die Welt vorankommen soll, liegt in der Kunst zu
Einfachheit und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und seinem
eigenen Gewissen. Nur wer sich mit seinen Gaben und Grenzen
realistisch einzuschätzen und einzusetzen vermag, dem ist es
vergönnt, für die Welt ein Segen zu sein.
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