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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Betr.: Tagebuch Fritz Köster
Spitze Zunge

Das Leben ist ein Abenteuer, Ungewißheit, Wagnis und Vieles mehr.

Einführung

Auf den Titel "Spitze Zunge" hat mich Elias Canetti gebracht. In der Geschichte seiner Jugend "Die gerettete Zunge" (Fischer 1985, S.11) steht der Satz: "Ich habe den besten Teil meines Lebens damit zugebracht, dem Menschen, wie er in den historischen Zivilisationen erscheint, auf seine Schliche zu kommen. Ich habe die Macht so erbarmungslos untersucht und zerlegt wie meine Mutter die Prozesse
in ihrer Familie. Es gibt wenig Schlechtes, was ich vom Menschen wie der Menschheit nicht zu sagen hätte. Und doch ist mein Stolz auf sie noch immer so groß, daß ich nur eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod."

Als ich den Satz vor ein paar Jahren las, hat er mich buchstäblich vom Stuhl gerissen. Es war mir, als wäre meine eigene Lebensgeschichte, als wären meine eigentlichen Lebenskräfte und Überlebensstrategien seit meiner Jugend zur Sprache gekommen. Vielleicht haben diese auch dazu geführt, daß ich allmählich eine spitze Zunge bekam - nicht von Anfang an und automatisch, aber doch unter dem Einfluß unübersehbarer und unvergeßlicher Lebenseinflüsse. Jedenfalls habe ich, wenn auch erst sehr spät, bei mir selbst entdeckt und begriffen, daß ich den Großteil meines Lebens damit verbracht habe, anderen auf die Schliche zu kommen - oft hinter den Fassaden ihrer Wohlanständigkeit und christlich-bürgerlichen Selbstdarstellungskunst. Mir ging es dabei ein Leben lang wie Canetti: "Ich kann Menschen mit Kastenstolz irgendwelcher Art nicht ernst nehmen; ich betrachte sie wie exotische, aber auch lächerliche Tiere. Ich ertappe mich bei den umgekehrten Vorurteilen gegen Menschen, die sich auf ihre hohe Herkunft etwas zugute halten. Den wenigen Aristokraten, mit denen ich befreundet war, mußte ich erst nachsehen, daß sie davon sprachen, und hätten sie geahnt, welche Mühe mich das kostete, sie hätten auf meine Freundschaft verzichtet."

Manche haben im Laufe der Zeit auf meine Freundschaft verzichtet. Dabei handelte es sich zumeist nicht um solche, die sich ihre hohe Herkunft zugute halten konnten, sondern um solche, denen es ein ganzes Leben lang anscheinend darum ging, eine hohe Herkunft vorzutäuschen oder auf Biegen und Brechen alles zu unternehmen, um in höhere, hochwürdigste Kreise hineinzukommen - offensichtlich alles mit dem Ziel und Zweck, mehr Einfluß und Ansehen zu erwerben, nicht selten mit der anscheinend unbewußten Absicht, auf diese Weise zu mehr Ichbewußtsein zu gelangen.

In der profanen Gesellschaft nennt man solche Ambitionen berufliches Fortkommen, Karriere, Zuwachs an Macht und Einfluß, Durchsetzungsvermögen...; im religiös-kirchlichen Bereich sind dieselben Lebensstrategien und ehrgeizigen Ellebogenmethoden zumeist eingekleidet in eine mysteriös-kultische Sprache und Symbolik und deshalb schwerer zu entlarven. Man spricht in ihm von Amt und Berufung "von oben", von Vollmacht zum Regieren und Leiten, von Apostelnachfolge und besonderer Beauftragung durch göttliche Weisheit und Vorsehung, von Sendung für die Welt und zum Heil der Menschheit.

Im Laufe meines Menschenlebens habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was einen im Leben am nachhaltigsten prägt? Das Elternhaus? Die Schulausbildung? Die religiös-kirchliche Erziehung? Die Gesellschaft mit ihren vielfältigen und vielfach zerreißenden Formen der Beeinflussung, Entfremdung und Vermassung? Alle diese Faktoren spielen so oder so eine große Rolle. Dennoch könnte die sie übergreifende Antwort lauten: eigene Erfahrungen prägen am meisten!

So habe ich ein Leben lang auf einem Horch- und Beobachtungsposten gesessen, um das Spiel zu betrachten, welches die Menschen allein und miteinander spielen. Ich habe mir sozusagen Adleraugen zugelegt und ein waches Ohr geschult, um die vielen Eindrücke und Tonarten zu verstehen, um sie bisweilen mit viel Mühe und Einsamkeit in ein Ganzes einordnen zu können. Manchmal habe ich mich mit den geringen Mitteln und Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, in gesellschaftliche und kirchliche Prozesse eingemischt. Danach habe ich wieder auf meinem Horchposten gesessen, um die Wirkungen und Reaktionen auf meine gesprochenen und geschriebenen, zum Teil provokativen, Einmischungen abzuwarten und zu registrieren.

Die Reaktionen so oder so boten dann immer Anlässe genug, um mein erworbenes Menschen- und Weltbild bestätigt zu finden oder es zu korrigieren, zu vervollständigen oder es wenigstens in Teilen für null und nichtig zu erklären. Bei den Theatern, die die Menschen oft meisterhaft spielen, mit gekonnten Maskierungen und bunter Kostümierung, habe ich fast nie den Eindruck gewonnen, als müßte ich mir eine andere Zunge zulegen. Sie ist im Laufe der Zeit eher spitzer geworden. Als Christ mußte ich aufpassen, nicht ein unerbittlicher Spötter und Sarkast zu werden. Meine Leidenschaft, mich mit den Menschen, ihren Denkmustern und Redewendungen, ihren spontanen Äußerungen und unkontrollierten Reaktionen auseinanderzusetzen und sie zu überprüfen, hat immer wieder dazu geführt, dieses UNICUM im Universum und in seiner konkreten Geschichte zu bewundern und gleichzeitig nicht allzu ernst zu nehmen. Vor allem diejenigen nicht, die sich auf ihre hohe Herkunft etwas zugute hielten oder mit Erfolg, jedoch ohne Überzeugung, alles daran setzten, um in eine hohe Herkunft hineinzugeraten als Boden unter den Füßen und als Berechtigungsschein dafür, sich selbst als enorm wichtig einzustufen.

Als Christ und Theologe, der ich mich mein Leben lang mit der Bibel und den christlichen Zeitläufen seit 2ooo Jahren beschäftigt habe, stellte sich dabei immer wieder die Frage: was haben christlicher Glaube und Theologie dazu beigetragen, Menschen zu verändern, zu "kultivieren", zu "evangelisieren" im Sinne des Lebensbeispiels ihres Gründers, dem sie ihre Identität und Zugehörigkeit verdanken? Im Blick auf viele Ereignisse und Geschehnisse in der sog. christlichen Ära der abendländischen Geschichte, die heute in allen Ländern und Kulturen ihre Rolle spielt, habe ich auf weiten Strecken immer nur die Antwort gefunden, die der niederländische Historiker Jan Romein 1946 in seiner Besprechung des Tagebuches von Anne Frank niedergeschrieben hat: "Daß dieses Kind überhaupt verschleppt und ermordet werden konnte, ist für mich Beweis genug, daß wir den Kampf gegen die Bestialität im Menschen verloren haben. Wir haben ihn verloren, weil es uns nicht gelungen ist, etwas Positives an deren Stelle zu setzen. Und deshalb werden wir auch künftig unterliegen. Welche Gruben auch immer die Inhumanität zu graben mag - wir werden ihr in die Falle gehen, solange wir nicht imstande sind, die Inhumanität durch eine positive Kraft zu ersetzen."

Dabei habe ich als Kind bereits von meinen sehr christlichen Eltern die Vorstellung eingetrichtert bekommen, daß es diese "positive Kraft" gibt und gegeben hat. Ich habe sie immer mehr als eine dem Menschen nahe existenz- und realitätsbezogene Kraft kennen und schätzen gelernt und mich immer geweigert, sie da noch ernst zu nehmen, wo sie durch allgemeine Abstraktionen ideologische Verbrämungen erfuhr. Weil die Bibel sich mit einem Gott auseinandersetzt, der als Mensch in diese unsere Welt kam, sind alle ihre Aussagen auf konkrete Menschen und Situationen bezogen. Sie geben immer mit einer sehr großen Wahrhaftigkeit und Offenheit Auskunft über sie. Die Bibel schildert die Menschen, sogar die "heiligen" Apostel, in ihrem Glauben und Hoffen, aber auch in ihren Ängsten und Zweifeln, Wankelmütigkeiten und Unberechenbarkeiten. Diese grundtiefe Ehrlichkeit hat mich nicht nur immer fasziniert, sondern auch allergisch gemacht da, wo stinknormale Menschen mit hochwürdigsten Titeln und Ehrenbezeichnungen hochstilisiert wurden. Ich habe Etikettierungen ganz gleich welcher Art immer als verlogen und volksverdummend empfunden und entsprechend reagiert. Denn die Bibel bleibt mit allen ihren Äußerungen der Wahrheit des Menschen in seiner konkreten Existenz, so wie sie ist, auf der Spur und hat gerade deshalb auch immer hoffnungsvolle und verändernde Kräfte entfaltet.

Das Christentum hat auf weiten Strecken seiner Geschichte diese Kräfte verraten. Es hat, das ist meine persönliche Überzeugung geworden, in dem Augenblick aufgehört, eine positive Kraft zu sein, als gescheite Leute, Kluge und Weise wie auch kirchliche Interessenvertreter eine intellektuelle Außenwelt aus ihm machten - geeignet, die eigentlichen Dimensionen des konkreten Menschseins aus den Augen zu verlieren. Im Maße die abstrakten Allgemeinheiten die Oberhand gewannen, wurde alles ausgeblendet, übertüncht oder manipulierend mißbraucht und zurechtgestutzt, was Gott allen - wenn möglich mit Hilfe anderer - offenbaren möchte, die bei allem Ränkespiel der religiös und politisch Mächtigen klein und unmündig geblieben sind (vgl. Mt 11,25-3o).

Wenn also meine Zunge, auch als Christ und Theologe, spitz geworden und geblieben ist, so weist dieser Tatbestand auch auf seine biblische und christliche Komponente. Eine spitze Zunge kann so zu einem Symbol werden für das Wort Gottes selbst, welches in seiner ursprünglichen Verfaßtheit darauf angelegt war und ist, den einen zum Fall und den anderen zur Auferstehung zu dienen (vgl. Lk 2,34).


Letzte SeitenÄnderung: 08.03.2005.
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