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Betr.: Tagebuch Fritz Köster
Spitze Zunge
Das Leben ist ein Abenteuer, Ungewißheit, Wagnis und Vieles
mehr.
Einführung
Auf den Titel "Spitze Zunge" hat mich Elias Canetti gebracht.
In der Geschichte seiner Jugend "Die gerettete Zunge" (Fischer
1985, S.11) steht der Satz: "Ich habe den besten Teil meines
Lebens damit zugebracht, dem Menschen, wie er in den
historischen Zivilisationen erscheint, auf seine Schliche zu
kommen. Ich habe die Macht so erbarmungslos untersucht und
zerlegt wie meine Mutter die Prozesse
in ihrer Familie. Es gibt wenig Schlechtes, was ich vom Menschen
wie der Menschheit nicht zu sagen hätte. Und doch ist mein Stolz
auf sie noch immer so groß, daß ich nur eines wirklich hasse:
ihren Feind, den Tod."
Als ich den Satz vor ein paar Jahren las, hat er mich
buchstäblich vom Stuhl gerissen. Es war mir, als wäre meine
eigene Lebensgeschichte, als wären meine eigentlichen
Lebenskräfte und Überlebensstrategien seit meiner Jugend zur
Sprache gekommen. Vielleicht haben diese auch dazu geführt, daß
ich allmählich eine spitze Zunge bekam - nicht von Anfang an und
automatisch, aber doch unter dem Einfluß unübersehbarer und
unvergeßlicher Lebenseinflüsse. Jedenfalls habe ich, wenn auch
erst sehr spät, bei mir selbst entdeckt und begriffen, daß ich
den Großteil meines Lebens damit verbracht habe, anderen auf die
Schliche zu kommen - oft hinter den Fassaden ihrer
Wohlanständigkeit und christlich-bürgerlichen
Selbstdarstellungskunst. Mir ging es dabei ein Leben lang wie
Canetti: "Ich kann Menschen mit Kastenstolz irgendwelcher Art
nicht ernst nehmen; ich betrachte sie wie exotische, aber auch
lächerliche Tiere. Ich ertappe mich bei den umgekehrten
Vorurteilen gegen Menschen, die sich auf ihre hohe Herkunft
etwas zugute halten. Den wenigen Aristokraten, mit denen ich
befreundet war, mußte ich erst nachsehen, daß sie davon
sprachen, und hätten sie geahnt, welche Mühe mich das kostete,
sie hätten auf meine Freundschaft verzichtet."
Manche haben im Laufe der Zeit auf meine Freundschaft
verzichtet. Dabei handelte es sich zumeist nicht um solche, die
sich ihre hohe Herkunft zugute halten konnten, sondern um
solche, denen es ein ganzes Leben lang anscheinend darum ging,
eine hohe Herkunft vorzutäuschen oder auf Biegen und Brechen
alles zu unternehmen, um in höhere, hochwürdigste Kreise
hineinzukommen - offensichtlich alles mit dem Ziel und Zweck,
mehr Einfluß und Ansehen zu erwerben, nicht selten mit der
anscheinend unbewußten Absicht, auf diese Weise zu mehr
Ichbewußtsein zu gelangen.
In der profanen Gesellschaft nennt man solche Ambitionen
berufliches Fortkommen, Karriere, Zuwachs an Macht und Einfluß,
Durchsetzungsvermögen...; im religiös-kirchlichen Bereich sind
dieselben Lebensstrategien und ehrgeizigen Ellebogenmethoden
zumeist eingekleidet in eine mysteriös-kultische Sprache und
Symbolik und deshalb schwerer zu entlarven. Man spricht in ihm
von Amt und Berufung "von oben", von Vollmacht zum Regieren und
Leiten, von Apostelnachfolge und besonderer Beauftragung durch
göttliche Weisheit und Vorsehung, von Sendung für die Welt und
zum Heil der Menschheit.
Im Laufe meines Menschenlebens habe ich mir immer wieder die
Frage gestellt, was einen im Leben am nachhaltigsten prägt? Das
Elternhaus? Die Schulausbildung? Die religiös-kirchliche
Erziehung? Die Gesellschaft mit ihren vielfältigen und vielfach
zerreißenden Formen der Beeinflussung, Entfremdung und
Vermassung? Alle diese Faktoren spielen so oder so eine große
Rolle. Dennoch könnte die sie übergreifende Antwort lauten:
eigene Erfahrungen prägen am meisten!
So habe ich ein Leben lang auf einem Horch- und
Beobachtungsposten gesessen, um das Spiel zu betrachten, welches
die Menschen allein und miteinander spielen. Ich habe mir
sozusagen Adleraugen zugelegt und ein waches Ohr geschult, um
die vielen Eindrücke und Tonarten zu verstehen, um sie bisweilen
mit viel Mühe und Einsamkeit in ein Ganzes einordnen zu können.
Manchmal habe ich mich mit den geringen Mitteln und
Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, in
gesellschaftliche und kirchliche Prozesse eingemischt. Danach
habe ich wieder auf meinem Horchposten gesessen, um die
Wirkungen und Reaktionen auf meine gesprochenen und
geschriebenen, zum Teil provokativen, Einmischungen abzuwarten
und zu registrieren.
Die Reaktionen so oder so boten dann immer Anlässe genug, um
mein erworbenes Menschen- und Weltbild bestätigt zu finden oder
es zu korrigieren, zu vervollständigen oder es wenigstens in
Teilen für null und nichtig zu erklären. Bei den Theatern, die
die Menschen oft meisterhaft spielen, mit gekonnten Maskierungen
und bunter Kostümierung, habe ich fast nie den Eindruck
gewonnen, als müßte ich mir eine andere Zunge zulegen. Sie ist
im Laufe der Zeit eher spitzer geworden. Als Christ mußte ich
aufpassen, nicht ein unerbittlicher Spötter und Sarkast zu
werden. Meine Leidenschaft, mich mit den Menschen, ihren
Denkmustern und Redewendungen, ihren spontanen Äußerungen und
unkontrollierten Reaktionen auseinanderzusetzen und sie zu
überprüfen, hat immer wieder dazu geführt, dieses UNICUM im
Universum und in seiner konkreten Geschichte zu bewundern und
gleichzeitig nicht allzu ernst zu nehmen. Vor allem diejenigen
nicht, die sich auf ihre hohe Herkunft etwas zugute hielten oder
mit Erfolg, jedoch ohne Überzeugung, alles daran setzten, um in
eine hohe Herkunft hineinzugeraten als Boden unter den Füßen und
als Berechtigungsschein dafür, sich selbst als enorm wichtig
einzustufen.
Als Christ und Theologe, der ich mich mein Leben lang mit der
Bibel und den christlichen Zeitläufen seit 2ooo Jahren
beschäftigt habe, stellte sich dabei immer wieder die Frage: was
haben christlicher Glaube und Theologie dazu beigetragen,
Menschen zu verändern, zu "kultivieren", zu "evangelisieren" im
Sinne des Lebensbeispiels ihres Gründers, dem sie ihre Identität
und Zugehörigkeit verdanken? Im Blick auf viele Ereignisse und
Geschehnisse in der sog. christlichen Ära der abendländischen
Geschichte, die heute in allen Ländern und Kulturen ihre Rolle
spielt, habe ich auf weiten Strecken immer nur die Antwort
gefunden, die der niederländische Historiker Jan Romein 1946 in
seiner Besprechung des Tagebuches von Anne Frank
niedergeschrieben hat: "Daß dieses Kind überhaupt verschleppt
und ermordet werden konnte, ist für mich Beweis genug, daß wir
den Kampf gegen die Bestialität im Menschen verloren haben. Wir
haben ihn verloren, weil es uns nicht gelungen ist, etwas
Positives an deren Stelle zu setzen. Und deshalb werden wir auch
künftig unterliegen. Welche Gruben auch immer die Inhumanität zu
graben mag - wir werden ihr in die Falle gehen, solange wir
nicht imstande sind, die Inhumanität durch eine positive Kraft
zu ersetzen."
Dabei habe ich als Kind bereits von meinen sehr christlichen
Eltern die Vorstellung eingetrichtert bekommen, daß es diese
"positive Kraft" gibt und gegeben hat. Ich habe sie immer mehr
als eine dem Menschen nahe existenz- und realitätsbezogene Kraft
kennen und schätzen gelernt und mich immer geweigert, sie da
noch ernst zu nehmen, wo sie durch allgemeine Abstraktionen
ideologische Verbrämungen erfuhr. Weil die Bibel sich mit einem
Gott auseinandersetzt, der als Mensch in diese unsere Welt kam,
sind alle ihre Aussagen auf konkrete Menschen und Situationen
bezogen. Sie geben immer mit einer sehr großen Wahrhaftigkeit
und Offenheit Auskunft über sie. Die Bibel schildert die
Menschen, sogar die "heiligen" Apostel, in ihrem Glauben und
Hoffen, aber auch in ihren Ängsten und Zweifeln,
Wankelmütigkeiten und Unberechenbarkeiten. Diese grundtiefe
Ehrlichkeit hat mich nicht nur immer fasziniert, sondern auch
allergisch gemacht da, wo stinknormale Menschen mit
hochwürdigsten Titeln und Ehrenbezeichnungen hochstilisiert
wurden. Ich habe Etikettierungen ganz gleich welcher Art immer
als verlogen und volksverdummend empfunden und entsprechend
reagiert. Denn die Bibel bleibt mit allen ihren Äußerungen der
Wahrheit des Menschen in seiner konkreten Existenz, so wie sie
ist, auf der Spur und hat gerade deshalb auch immer
hoffnungsvolle und verändernde Kräfte entfaltet.
Das Christentum hat auf weiten Strecken seiner Geschichte diese
Kräfte verraten. Es hat, das ist meine persönliche Überzeugung
geworden, in dem Augenblick aufgehört, eine positive Kraft zu
sein, als gescheite Leute, Kluge und Weise wie auch kirchliche
Interessenvertreter eine intellektuelle Außenwelt aus ihm
machten - geeignet, die eigentlichen Dimensionen des konkreten
Menschseins aus den Augen zu verlieren. Im Maße die abstrakten
Allgemeinheiten die Oberhand gewannen, wurde alles ausgeblendet,
übertüncht oder manipulierend mißbraucht und zurechtgestutzt,
was Gott allen - wenn möglich mit Hilfe anderer - offenbaren
möchte, die bei allem Ränkespiel der religiös und politisch
Mächtigen klein und unmündig geblieben sind (vgl. Mt 11,25-3o).
Wenn also meine Zunge, auch als Christ und Theologe, spitz
geworden und geblieben ist, so weist dieser Tatbestand auch auf
seine biblische und christliche Komponente. Eine spitze Zunge
kann so zu einem Symbol werden für das Wort Gottes selbst,
welches in seiner ursprünglichen Verfaßtheit darauf angelegt war
und ist, den einen zum Fall und den anderen zur Auferstehung zu
dienen (vgl. Lk 2,34).
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