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Nicht an den Leuten vorbei - Müssen Seelsorger
unterschiedliche Milieus unterschiedlich ansprechen?
Streitgespräch zwischen den Theologen Matthais Sellmann und
Fritz Köster über Sinn und Unsinn der Sinusstudie.
veröffentlicht in Publik Forum Nr. 1, 16.Januar 2009,
S18ff
Publik-Forum: Warum sollte die Kirche die Sinus-Milieus in
ihrer Arbeit unbedingt berücksichtigen, Herr Sellmann?
Matthias Sellmann: Die Kirche hat die Aufgabe, den Menschen das
Evangelium zu verkünden, also die Liebe Gottes zu den Menschen
zu bezeugen und weiter zu sagen. Die Kirche muss diese Botschaft
aber so sagen, dass sie von den Menschen auch verstanden werden
kann. Also müssen wir wissen, wie Menschen überhaupt etwas
verstehen. Dafür stehen uns heute verschiedene
empirisch-soziologische Instrumente zur Verfügung, unter anderem
auch die Sinus-Milieu-Studie.
Publik-Forum: Und was ist die wesentliche Botschaft dieser
Studie?
Sellmann: Eine zentrale Botschaft ist: Es gibt keine universale
Sprache, die alle in gleicher Weise verstehen, sondern alles,
was ich sage, wird von den potenziellen Zuhörern ihrer eigenen
Logik folgend gedeutet, verarbeitet, kommuniziert und bewertet.
Der entscheidende Schritt, zu dem die Sinus-Studie auffordert,
ist: sich hinein zu begeben in die jeweils eigenen
Verstehensmuster unterschiedlicher Adressatengruppen. Und an
diesem Punkt unterscheiden sich die Geister in der Kirche: Wer
die Sinus-Milieus ignoriert, macht eine andere pastorale Arbeit
als jene, die für eine milieusensible Pastoral eintreten.
Publik-Forum: Heißt das, dass Sie die kirchliche Seelsorge mehr
von der Empirie her entwickeln wollen und nicht so sehr von der
hohen Theologie?
Sellmann: Das heißt es nicht. Ich gehe aus von den Inhalten der
Offenbarung, von den Grundaussagen des Glaubens. Die kirchliche
Pastoral muss jedoch die Botschaft des Mannes aus Nazareth so
darstellen, dass die Menschen sie verstehen können. Es ist ja
gerade eine der großen Errungenschaften des Zweiten
Vatikanischen Konzils, erklärt zu haben, dass man die
Offenbarung nicht mehr einfach andemonstrieren, sondern nur
zusammen mit dem Leben der Menschen, das ganz unterschiedlich
ist, entdecken und entfalten kann.
Publik-Forum: Herr Köster, Sie stehen den Sinus-Milieus eher
kritisch gegenüber. Warum?
Fritz Köster: Mich stört das Wort "Milieu". Es regt zum
"Schachteldenken" an. Zudem gibt es keine Milieus mehr.
Unter Milieu verstand man früher einen festen Lebensrahmen, in
den nichts von außen eindrang. Früher sprach man zum Beispiel
von einem katholischen Milieu. Heute weiß man, dass sich dieses
Milieu aufgelöst hat: Früher wählten die Katholiken nur die
C-Parteien, heute wählen sie alle Parteien. Im Blick auf die
Sinus-Milieus würde ich sagen: Es gibt doch kaum jemanden, der
sich einem dieser Milieus hundertprozentig zuordnen würde.
Publik-Forum: Was halten Sie dem Milieudenken dann entgegen?
Köster: Wir leben heute in einem Zeitalter des Individualismus.
Die Menschen haben durchaus bestimmte und auch unterschiedliche
Lebenseinstellungen, die sich aber doch sehr stark vermischen.
Man sucht sich Werte, Normen und Ästhetiken aus den
verschiedensten Bereichen, lebt also eine Bastelidentität – im
Religiösen sprechen wir von einer Patchwork-Religiosität.
Deshalb glaube ich nicht an diese Sinus-Milieus.
Sellmann: Dem möchte ich widersprechen. Konfessionelle Milieus
gibt es nicht mehr, das ist richtig. Aber es gibt heute
Lebenswelt-Milieus, wie die Soziologen sagen. Sie fassen damit
Menschen zusammen, die ihr Leben in einer ganz bestimmten Weise
gestalten und anderen gegenüber ausdrücken: durch Kleidung,
Musikgeschmack, Wohnungseinrichtung. Die Sinus-Milieus sind ein
soziologisches Modell, ein Vorschlag, wie man sich Kultur und
Gesellschaft in Deutschland vorstellen kann. Es gibt
unterschiedliche soziokulturelle Muster des Verhaltens, und die
sind auch nicht dadurch widerlegt, dass sich nur wenige
dezidiert selbst als moderne Performer oder Hedonisten
bezeichnen würden. Ihre Individualisierungsthese, Herr Köster,
wird doch kaum noch von einem Soziologen in dieser Radikalität
vertreten.
Köster: Trotzdem bleibt wahr, dass der Mensch nicht das
Produkt einer Umwelt ist, die ihn zwar prägt, aber nicht
endgültig festlegt. Heute besteht jeder auf seiner eigenen
Meinung, seinen Einsichten und Erfahrungen, seiner persönlichen
Freiheit. Die Aufgabe der Kirche wäre es, die Personwerdung des
Menschen zu fördern und kritisch zu begleiten. Selbstbewusste
Christen vermögen dann auch ihre Umwelt zu beeinflussen.
Publik-Forum: Das ist aber genau der Punkt: Spricht die Kirche
unterschiedslos zu allen Menschen oder muss sie dabei nicht
differenzieren? Können Sie Ihr Anliegen vielleicht an einem
Beispiel deutlich machen, Herr Sellmann?
Sellmann: Wir haben zum Beispiel eindeutige Stile der
Kirchennutzung. Bestimmte Menschen gehen nur zu einem ganz
bestimmten Prediger, bevorzugen eine ganz bestimmte
Kirchenmusik, ja gehen nur zu einer bestimmten Zeit in den
Gottesdienst – je nach Lebenseinstellung. Und man kann als
Soziologe feststellen, dass diese Menschen auch sonst
Gemeinsamkeiten aufweisen: in der Art, wie sie ihre Wohnung
einrichten, welchen Musikstil sie pflegen, ja welche
Urlaubsziele sie bevorzugen. Diese Gemeinsamkeiten lassen den
Schluss zu, dass die Art und Weise, wie diese Menschen auf die
Kirche zugehen, eine Ausdruckweise ihres soziokulturellen
Lebensmusters ist, das ich von anderen Lebensmustern klar
unterscheiden kann. Deshalb ist es für die Kirche wichtig, diese
unterschiedlichen Milieus genauer in den Blick zu nehmen.
Publik-Forum: Die Sinus-Milieu-Studie zeigt, dass in den
Kirchengemeinden fast nur Menschen bestimmter Milieus in
Erscheinung treten: die Konservativen, die Bürgerlichen und ein
paar Postmaterielle. Deshalb spricht man von einer
Milieuverengung. Würden Sie diese bestreiten, Herr Köster?
Köster: Durchaus nicht. Vor allem traditionelle
Kirchengemeinden neigen zu einer Igelstellung Fremden und
Fremdartigem gegenüber. Aber diese Haltung bröckelt mehr und
mehr. Damit auch die Kirchenzugehörigkeit. Fremde kommen hinzu,
die - ob sie nun den Experimentalisten oder den Hedonisten
zugeordnet werden - mit der Kirche anlässlich von Beerdigungen
oder Hochzeiten zum Beispiel in Kontakt kommen. Als Pfarrer habe
ich dann Menschen verschiedenster Lebenseinstellung vor
mir, auch die so genannten "Kirchenfernen". Umgekehrt ist
bekannt, dass selbst viele Katholiken heute kirchenkritisch
eingestellt sind, so dass ich bei Beerdigungen oder Hochzeiten
eine bunte Vielfalt von Menschen vor mir sitzen habe, bei denen
Kirchennähe oder -ferne gar nicht der entscheidende Punkt ist.
Entscheidend sind bei bestimmten Anlässen Persönlichkeiten,
von denen Glaube und Glaubwürdigkeit ausgeht. Abstoßend kann
eine alle Menschen vereinnahmende Sprache sein, zu der die
Kirche neigt.
Sellmann: Nehmen wir einen Pfarrer auf dem Dorf, der es
plötzlich in einem Neubaugebiet mit vielen Neubürgern zu tun
hat, mit jungen Familien, Singles; für den wäre es doch sehr
hilfreich, ein Instrument zu haben, mit dem er besser verstehen
kann, wie diese Menschen "ticken". Denn er will nicht nur für
die Kerngemeinde da sein, sondern für alle Menschen, die in
seinem Pfarrgebiet wohnen. Dabei ist es nicht die Sinus-Studie,
die einfach erklärt, dass bestimmte Milieus kirchenfern sind,
sondern das sagen die Befragten selbst von sich. Nehmen wir das
Beispiel einer Beerdigung eines verunglückten Motorradfahrers:
Wenn der Pfarrer weiß, wie die Mitglieder des Motorradclubs
ticken, dann kann er seine Ansprache doch viel zielgenauer auf
diese Leute ausrichten. Es geht nicht darum, Milieukirchen zu
fordern, sondern die Milieuverengung in den Gemeinden
aufzubrechen.
Köster: Dieses "Aufbrechen" geschieht aber nicht durch den
Pfarrer, sondern durch die Tatsache, dass die Motorradfahrer da
sind. Und auch andere verschiedenster Lebenseinstellung. Ein
erfahrener Pfarrer muß sich ständig auf das "Ticken" dieser
unterschiedlichen Leute einstellen – mit und ohne die Brille
einer Sinus-Studie.
Publik-Forum: Das wird ja oft gegen die Sinus-Studie
vorgebracht, Herr Sellmann: dass die Kirche bei Taufen,
Hochzeiten und Beerdigungen letztlich eben doch Menschen aller
Milieus erreiche.
Köster: … Ich erlebe genau das. Leider werden aber diese
Anlässe immer mehr vernachlässigt: angesichts des
Personalmangels und der Zusammenlegung der Pfarreien. Da wird
die Eucharistiefeier ein und alles. Der Pfarrer wird zu einem
"Blaulichtpriester", der nur noch das Notwendigste in Eile
erledigen kann. Eine fatale Situation.
Sellmann: Die Aussage, dass die Kirche alle Milieus erreiche,
stimmt einfach nicht. Die Statistiken belegen: Die Taufen sind
rückläufig, auch die Trauungen, nur die Zahl der Beerdigungen
ist gleich geblieben. Wenn die Kirche das alles so toll machen
würde, wie mancher behauptet – warum sind dann die Imagewerte
der Kirche so schlecht? Nur jeder zweite Deutsche vertraut der
katholischen Kirche! Das ist doch erschütternd! Da kann man doch
nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Also ziehe ich alles
heran, was helfen kann, dieses Vertrauen vielleicht wieder
zurück zu gewinnen. Die Milieu-Studie hilft der Kirche, die
Leute besser zu taufen, besser zu verheiraten, eine bessere
Jugendarbeit zu machen, die Menschen besser zu erreichen.
Köster: An der Sinus-Studie stört mich, dass hier die Kirche den
Milieus wie ein monolithischer Block gegenüber gestellt wird.
Von der Reich-Gottes-Theologie her, die mir sehr am Herzen
liegt, muss man demgegenüber sagen, dass viele Menschen, die von
außen betrachtet scheinbar der Kirche fern stehen, dem
Christlichen viel näher stehen, als manch offizielles
Kirchenmitglied. Ich kenne viele Menschen, die sich ganz im
Sinne der Bergpredigt Jesu engagieren, ohne einer der Kirchen
anzugehören. Ist unser theologisch-pastorales Denken nicht immer
noch viel zu kirchlich orientiert? Versuchen wir nicht immer
noch zu sehr, die Leute in die Kirche hinein zu holen – eben
auch mit Hilfe der Sinus-Studie? Die Kirche ist doch nur ein
Teil des Erlösungsgeschehens, das die gesamte Menschheit
umfasst.
Sellmann: Diese Sicht ist mir sehr sympathisch. Bischof Joachim
Wanke hat einmal treffend formuliert: Die Kirche ist dazu da,
den Dank an Gott zu vervielfachen. Wenn ich jetzt aber
feststelle, dass Menschen ihren Dank auf sehr verschiedene Weise
zum Ausdruck bringen und dass sie auch unter Gott sehr
Verschiedenes verstehen, dann bin ich doch geradezu gezwungen,
das näher zu erfragen und mich darauf einzustellen. Nicht für
jeden Menschen ist die Geburt eines Kindes ein Grund zum Feiern,
für manche ist es die Katastrophe schlechthin, während es für
andere kein schöneres Erlebnis gibt, als einem Kind das Leben zu
schenken. Das muss man doch wahrnehmen! Und in der Kirche käme
es darauf an, diese Wahrnehmung professionell in der Pastoral
umzusetzen. Das ist jedenfalls mein Anliegen. Egal welche
Theologie ich vertrete – es gilt, die Lebenswirklichkeit der
Menschen besser zu verstehen. Sie waren doch selbst als
Missionar in Kamerun tätig, Herr Köster. Da haben Sie sich doch
auch auf die Menschen dort vorbereiten müssen, die Sprache
gelernt, sich auf die Bräuche der verschiedenen Volksstämme
vorbereitet. Um nichts anderes geht es auch bei der
Sinus-Studie. Sie bietet mir sozusagen die "Stämme" der
deutschen Gesellschaft. Und jetzt frage ich als Kirchenmann, wie
ich zum Beispiel im Milieu der Konsumorientierten den Dank an
Gott vervielfachen kann. Also stimme ich mich auf diese Menschen
ein, denn die schauen andere Fernsehsendungen als ich, sie hören
andere Musik, sie kleiden sich anders als ich. Als Missionar
müssten sie diesem Grundansatz doch eigentlich sehr nahe stehen.
Publik-Forum: Gibt es denn schon positive Beispiele, wie mit den
Sinus-Milieus konstruktiv gearbeitet werden kann?
Sellmann: Noch nicht so viele, weil wir uns damit gerade in der
Startphase befinden. Aber es gab zum Beispiel in der Diözese
Mainz einen Erstkommunionkurs für Kinder aus dem
konsummaterialistischen Milieu, der ganz anders gestaltet war,
als dies herkömmlich der Fall ist. Im Bistum Köln wird eine
Kirche unter milieuspezifischen Gesichtspunkten umgebaut: Man
will den Menschen nicht irgendein Gebäude vorsetzen, sondern die
Kirche soll mit dem Leben der Menschen am Ort in Verbindung
stehen; es soll ja "ihre" Kirche sein. Im Bistum Paderborn sind
alle 800 Priester mit den Sinus-Milieus vertraut gemacht worden,
wobei auch gefragt wurde, was das für die Teambildung und das
Priesterbild selbst bedeutet. Das sind bemerkenswerte
Anstrengungen, die zeigen, dass die Verantwortlichen die
Sinus-Studie als hilfreichen Schritt betrachten, gezielter auf
die Menschen zuzugehen.
Köster: Gegen all das habe ich nichts. Bin gespannt, was
am Ende dabei herauskommt. Für mich ist ein entscheidender
Punkt, dass die Kirche bei alldem nicht ein Kirchenbild
transportiert, welches ihre Botschaft verdunkelt. Mit einem
biblisch nicht abgedeckten Kirchenbild wird es immer mehr
Probleme geben. Selbst engagierte Christen machen da nicht mehr
mit – Sinus-Studie hin oder her. Mein theologisches Anliegen
ist, den Menschen zu sagen, dass sie Teil der Schöpfung sind und
dass sie eine ganz bestimmte Rolle in ihrem Leben einnehmen
müssen, die sie vor sich selbst, den anderen und vor Gott zu
verantworten haben. Man kann ein Heiliger werden oder ein
Verbrecher, überspitzt gesagt.
Publik-Forum: Sie gehen also vom Menschen ganz allgemein aus,
Herr Köster?
Köster: Ja. Das Christentum ist für mich zunächst eine ethische
Herausforderung für alle Menschen, ganz gleich, welche
Lebenseinstellung sie haben. Es geht um gelebte Werte,
die sich in den Herausforderungen des Lebens bewähren und
glaubwürdig werden.
Sellmann: Und ich glaube eben, dass Sie ihr Ziel mit der
Sinus-Studie präziser erreichen können als ohne sie. Denn auch
die Herausforderungen, die mit dem Leben verbunden sind, werden
in den einzelnen Milieus sehr unterschiedlich gesehen.
Allgemeine Antworten helfen da, denke ich, nicht weiter.
Matthias Sellmann, geboren ???, ist Junior-Professor für
Pastoraltheologie an der Universität Bochum. Der katholische
Theologe und Sozialwissenschaftler war lange Jahre Referent in
der Katholischen Sozialethischen Arbeitstelle der Deutschen
Bischofskonferenz in Hamm.
Fritz Köster, geboren 1934, ist Pallottinerpater. Er war
als Missionar in Kamerun tätig und nach verschiedenen
Lehrtätigkeiten in Deutschland zuletzt Honorarprofessor für
Pastoraltheologie an der Theologischen Hochschule Vallendar.
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