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Synoden - Foren - Pastoralgespräche
undatiert
1. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Wenn heute von der Situation der Kirche und ihre
Zukunftsaussichten die Rede ist, kann man sich die Spannweite
der Diagnosen, Prognosen und Meinungen nicht groß genug
vorstellen. Entsprechend sieht es natürlich mit den Konsequenzen
aus, die Kirchenleute für zu ziehen notwendig halten oder die zu
ziehen sie sich ener-gisch weigern.
So wurde noch vor kurzer Zeit in der renommierten Zeitschrift
"Stimmen der Zeit" (Nr.6/97,387-398) das Bild Karl Rahners vom
"Winter in der Kirche" aufgegriffen und die Meinung vertreten,
daß der Winter weiterhin andauert. Wenn nicht alles täusche, sei
mit einer weiteren Frostverschärfung zu rechnen. Man solle sich
darauf einrichten und Vorsorge treffen, um die "letzten
Ressourcen" zu schonen und die Leitungen vor dem Einfrieren zu
bewahren. Stimme eine "Pessimisten"?
Dem gegenüber war, einen Monat vorher, von "Frühlingsgefühlen"
in der Kirche die Rede (Nr.5/97,331-345). Anlaß ist das
"Pastoralgespräch", welches im Augenblick in der Erzdiözese
Bamberg stattfindet. Von hoffnungsvollen Signalen ist da die
Rede: von einem "geistlichen Geschehen", einem "offenen
Gesprächsklima", von der "Wertschätzung verschiedener
Meinungen", von einem neuen "Miteinander" und "gemeinsamer
Verantwortung".
Beim Lesen solcher Schilderungen kommen spezielle Erinnerungen
hoch über die Synoden, Foren und Pastoralgespräche, die es seit
dem Konzil und Würzburg in vielen Kirchen und Diözesen der Welt
- sogar bei den Orden - gegeben hat und gibt. Da waren es auch
immer wieder die Schwalben, die einen neuen Frühling
anzukündigen schienen. Denn dem Ruf zu solchen diözesanen
Zusammenkünften wurde gewöhnlich mit großer Bereitschaft und
Erwartung, um nicht zu sagen Begeisterung, Folge geleistet
("Pessimisten" hatten keine Chance). Es gab oder schien bei der
Themenwahl keine Tabus bzw. "Maulkörbe" zu geben. Alles durfte
behandelt und erörtert werden, und jede Scheu, alles Bedrängende
und unter den Nägeln Brennende zur Sprache bringen zu dürfen,
schien unangebracht.
Der Verlauf der Ereignisse zeigte jedoch immer sehr eindeutig,
daß die Dämpfer rechtzeitig kamen, bis am Ende nicht mehr allzu
viel übrig blieb außer das geschriebene Papier, das bis heute
auf den Schreibtischen liegt oder sogar in den Papierkörben
landete. Das "Alte" und "Bewährte" hatten sich als sehr
konstante Größen erwiesen und durchgesetzt. Schließlich auch der
Eindruck, daß die Kirche als "societas perfecta" letztlich gar
nicht solcher Gespräche bedarf, erst recht keiner "modischen"
und "unausgereiften" Beschlußfassungen durch wenn auch noch so
erwachsene und mündige Christen. Bei allem Aufeinander-Hören und
MiteinanderSprechen sind Beschlüsse zudem konstitutionell nicht
vorgesehen, sogar gefürchtet, weshalb solche Zusammenkünfte in
den letzten Jahren dauernde Namens-Umbenennungen erfuhren, wie
man Straßen umbenennt, um unangenehme Assoziationen vergessen zu
machen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. So auch hier.
Was am Anfang "Synode" hieß und die gefährliche Erwartung auf
die synodale Verfaßheit der Kirche mit dem Recht auf
Beschlußfassungen wecken konnte, wurde daraufhin
sicherheitshalber zu "Foren" unbenannt. Heute ist in der
Hauptsache von "Pastoralgesprächen" die Rede, was soviel
bedeutet wie: reden und diskutieren "ja", aber mit möglichst
großer Unverbindlichkeit, damit das herkömmliche Kompetenz-,
Ämter- und Hierarchieverständnis keinerlei Störung erfährt.
Dieses ist zudem theologisch und kirchenrechtlich verbindlich
geregelt und abgesichert. Dahinter wird unbewußt, aber doch
auffällig, ein bestimmtes Gottesbild vertreten: das der
Unfähigkeit Gottes. Denn noch nicht einmal Gott könnte, selbst
wenn er es wollte, im versammelten Volk Gottes etwas wirken, was
er traditionell, theologisch und kirchenrechtlich nicht wirken
darf. Jedenfalls ist dieses Phänomen mit seiner verheerenden
Wirkungsgeschichte bisher noch kaum unter die Lupe genommen
worden. Wo es mit "christlich-katholischen Nasen" gespürt oder
"gerochen" wird, werden, wo nicht Ärger hochkommt oder die
Abstimmung mit den Füßen passiert, Witz und Gelächter des Volkes
letzte Waffen.
2. Großartige Inszenierung afrikanischer Dorfpalaver.
Wer seit Jahren die kirchliche Entwicklung verfolgt, kommt
unwillkürlich zu der Schlußfolgerung, daß es sich bei den in
Szene gesetzten "pastoralen Gesprächen" (und päpstlichen
Pastoralreisen?) weitgehend um die Struktur afrikanischer
Dorfpalaver handelt. Afrika ist ja berühmt dafür. Wer sie kennt,
weiß, daß sie in den afrikanschen Gesellschaften die Funktion
haben, so etwas wie einen sozialen seelischen Stuhlgang zu
ermöglichen. Palaver dauern Stunden, Tage, Monate. Jede und
jeder reden mit. Alle können über die anstehenden Fragen ihre
Meinung sagen, sich kämpferisch einsetzen und sich streitend mit
anderen auseinandersetzen. Vor allem wer in den afrikanschen
Gesellschaften am Rande steht, sozial kaum oder gar keine Rolle
spielt, bekommt hier seine Chance. Er nutzt sie in dem
Bewußtsein, anerkannt und ernst genommen zu werden. Dazu zählen
die Stammesangehörigen, die von ihrer Psyche her besonders auf
Prestige und Anerkennung angewiesen sind und die es auf Solches
anlegen. Sie kommen hier voll auf ihre Kosten.
Wenn dann eines Tages der Dorfälteste bzw. Häuptling der
Diskussion ein Ende setzt, um seine Entscheidungen zu treffen,
die übrigens immer im Geiste der Ahnen und des traditionell
Herkömmlichen und wenig im Sinne der Anwesenden gefällt werden,
kommt es bei diesen gar nicht mehr darauf an, ob sich der
Einzelne in solchen Beschlüssen wiederfindet. Ob er am Ende
Berücksichtigung findet oder nicht, ist dann nicht mehr wichtig.
Die Hauptsache ist, daß der soziale seelische Stuhlgang gelungen
ist, indem alle sich haben aussprechen können.
Das Ergebnis also ist, daß sich die afrikanischen Dorfpalaver
seit Jahrhunderten für deren Gesellschaften als außerordentlich
produktiv und heilsam erwiesen haben. In Zeiten der Unsicherheit
haben sie immer wieder die alte Stabilität erreicht, wie sie
beständigen und nicht auf Veränderung angelegten Gesellschaften
eigen ist. Zudem steht das Funktionieren solcher Palaver stets
im religiös-magischen Zusammenspiel mit guten und bösen Mächten
und Gewalten. Die bösen Geister sind es immer, die Unruhe
stiften, die auf Veränderung aus sind. Weil der Älteste in deren
Sinne genau das nicht tut, was sie beabsichtigen, kommt seine
Entscheidung stets der Wiederherstellung einer heiligen Ordnung
gleich, die zu wahren und zu hüten ab sofort allen aufgetragen
ist. Insofern geht jeder mit dem neuen/alten Glaubensbekenntnis
nach Hause, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, obwohl es
viele vorher als möglich und machbar erachtet und erhofft
hatten.
Wie makaber es auch immer sein mag, die pastoralen Gespräche in
ihrer Struktur mit afrikanischen Dorfpalavern zu vergleichen -
was bis in den Gebrauch eines gemeinsamen Vokabulars leicht
möglich wäre -, so spricht doch, wenn man sich deren Anlässe,
Intentionen und Ergebnisse vor Augen hält, Vieles dafür, daß sie
zunächst nichts anderes sind als Maßnahmen, um die noch willigen
Christen zufrieden zu stellen, um sie zu beruhigen, um sozusagen
dafür Sorge zu tragen, daß der innerkirchliche seelische
Stuhlgang nicht zu sehr an Verstopfung leidet. Beim intendierten
"geistlichen Geschehen" wird leicht der Eindruck hinterlassen,
als würden Probleme mit Offenheit und Wagemut in Angriff
genommen. Aber der Eindruck trügt - es sei denn, daß man sich
mit der Spiritualisierung und Mystifizierung der an sich
wichtigen und notwendigen Gespräche bereit ist zufrieden zu
geben. Die Erfahrung jedenfalls zeigt, daß der vorhandene
Problemstau bzw. das faktische Vor-sich- Herschieben der
ungelösten Fragen eine Zeitlang in Vergessenheit geraten oder
verdrängt werden können, zumal bei den meisten der Verlauf
solcher Zusammenkünfte als zufriedenstellend empfunden wird.
Bezeichnenderweise werden zum Schluß immer wieder die "gelöste
Stimmung", das brüderliche bzw. geschwisterliche Zusammensein,
die spannungsreichen Gespräche und die große Bandbreite der
behandelten Themen als wohltuend hervorgehoben. Was auf jeden
Fall erreicht wurde: man hatte das Gefühl, wenigstens eine
Zeitlang den Unbilden der Alltäglichkeit enthoben und "unter
sich" gewesen zu sein.
Während also die psychologische Struktur der pastoralen
Gespräche und der archaischen Palaver sehr ähnlich ist und
verläuft, so dürfen dennoch nicht die großen Unterschiede
vergessen werden, auf die es letztlich entscheidend ankommt. Was
sich in Afrika herkömmlich als außerordentlich stabilisierend
und produktiv erwiesen hat und erweist, zumal es gar nicht
darauf angelegt ist, sich veränderten Herausforderungen stellen
zu müssen, hat sich nach den bisherigen pastoralen Gesprächen
als ziemlich kontraproduktiv herausgestellt. Denn in Europa und
in anderen von der modernen Zivilisation geprägten Ländern
besteht nun einmal ein emanzipatorisches und soziales Umfeld,
das dem der afrikanischen Gesellschaften radikal unähnlich ist.
Wir leben hier in äußerst innovativen dynamischen
Gesellschaften, in denen man sich davor hüten sollte, Dialog und
Kreativität zu mystifizieren. Denn das Denken und Verhalten der
Menschen sind auf Effektivität und sichtbare Ergebnisse aus.
Zudem wächst im soziokulturellen Pluralismus auch der religiöse
Konkurrenzdruck auf die Gemeinden. Wer sich hier oder dort nicht
wiederzufinden vermag, geht eben zum Nachbarn nebenan oder in
die religiöse Individualisierung. An solchen Prozessen ändern
auch unfehlbare Lehrämter nichts.
Die Kontra-Produktivität der Pastoralgespräche zeigt sich seit
Jahren in ihrer Ergebnislosigkeit, verbunden mit dem Druck eines
wachsenden Problemstaus, der schwieriger auflösbar erscheint als
die Auto-Staus auf den Straßen. Was früher beabsichtigt war:
Evangelisierung und Neu-Evangelisierung, erweist sich als ein
ins Wasser geworfener Stein. Es kommen keine Neu-Evangelierten
hinzu, im Gegenteil: die bis dahin Evangelisierten ziehen sich
in wachsender Anzahl zurück mit den bekannten Phänomenen der
Resignation, des Ausblutens der Gemeinden oder des Rückzugs in
außerkirchliche Bereiche. Was im heutigen sozio-kulturellen
Kontext von vorneherein nicht gelingen kann, wird schon seit
langem besorgniserregend deutlich: man könnte es
"Gesinnungs-Reform" nennen statt "Zustände-Reform", "neuen Wein"
- aber um Gottes willen keine neuen Schläuche!
3. Es wird immer schwerer, über Glaube und Kirche zu
sprechen.
Das gravierendste Ereignis nach den bisher verlaufenen
pastoralen Gesprächen könnte man symbolisch als das Vertreiben
der Frühlings-Schwalben durch die nachfolgenden "Eisheiligen"
bezeichnen. Denn das Verschwinden der Schwalben ist
symptomatisch für eine Tatsache, die immer eklatanter
hervortritt: es wird immer schwerer, über Glaube und Kirche zu
sprechen. Wenn auch die Zahl derer, mit denen man darüber
sprechen kann, noch relativ groß ist, so ist es doch
unverkennbar, daß die Wüste wächst und die Zahl derer, mit denen
über Glaube und Religion zu sprechen nicht mehr möglich ist.
Oder ein anderes, besonders aufregendes Phänomen tritt in
Erscheinung: reden über Glaube und Religion "ja", aber ohne
Zusammenhang mit den Kirchen. Das heißt: der kirchliche Glaube
verliert an Boden, während das außerkirchliche religiöse
Bewußtsein - bei aller Säkularisierung - lebendig ist, wenn auch
noch so "individualistisch", "synkretistisch" und "beliebig".
Wie sollte es auch anders sein, da die Schläuche nicht vorhanden
sind, in die der Wein hineingegossen werden könnte?
An solchen Entwicklungen haben auch die Pastoralgespräche bisher
wenig zu ändern vermocht. Sie hinterlassen - unabhängig von der
Tatsache, daß da ein Teil der Herde unter sich verhandelt;
unabhängig von dem erwähnten Problemstau den nachhaltigen
Eindruck, als würden "da oben" Themen zur Sprache gebracht, die
für die Masse des Volkes nicht unmittelbar nachvollziehbar bzw.
aktuell sind und zudem darauf angelegt sind, Kirche in
Gesellschaft im Gespräch und in Erinnerung zu halten. So gut und
wichtig Themen wie Frieden, Erhaltung der Schöpfung, soziale
Gerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Dialog mit der Welt und anderen
Religionen... sind, so werden sie doch häufig in einer
fachmännischen Art und Weise behandelt (was die Medien viel
volksnäher können) und insofern "weit weg" von der Basis. Was
alle bedauern, nämlich daß die großen Themen der Podien die
Basis nicht erreichen, ist strukturell so angelegt, daß es die
Basis nicht erreichen kann. Was zudem der Basis fehlt, ist das
normale Brot des Lebens. Man könnte - aus
religionswissenschaftlicher Sicht - diesen Mangel in der Frage
zusammenfassen: ist der heutige Mensch theologie-, liturgie- und
damit kirchenunfähig oder sind Theologie und Liturgie unfähig,
dem menschlichen Suchen und Fragen gerecht zu werden? Solange
diese Frage nicht hinreichend behoben wird, läßt sich das
gläubige Volk wohl kaum noch für wenn auch noch so wichtige
Themen kirchlich erwärmen bzw. ins Schlepptau nehmen, zumal
solche Themen auch überall sonst, oft sogar einsichtiger, zu
"haben" sind.
4. Mangelnde Überzeugungsarbeit.
Wahrscheinlich ist es seit Konstantin bereits so, daß die Kirche
es nicht nötig hatte, besondere Überzeugungsarbeit zu leisten.
Für eine sich immer mehr verfestigende und strukturierende
Staatskirche bestanden "Evangelisierung" und "Missionierung" auf
weiten Strecken darin, daß die Bekehrung für die Bekehrten immer
auch soziale und berufliche Vorteile mit sich brachte - außer
natürlich bei denen, die mangels Glaubens-Einsicht an den Rand
oder aus dem Leben verdrängt wurden. Die dabei blieben, wurden
auf normale und natürliche Weise ins Leben von Kirche und
Gesellschaft - je nach Lebensalter - initiiert und sozialisiert.
Ein "praktizierender" Christ zu sein, gehörte zu den vielen
anderen gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten.Daß diese
"Normalität" nicht mehr vorhanden ist bzw. immer mehr schwindet
- neueste Beispiele sind Spanien und Polen - , zeigen die seit
Jahren auf hohem Niveau sich haltenden Abnabelungstendenzen von
Kirche und Gemeinden.
Für die "Insider" ist es eigentlich erstaunlich und
unverständlich, daß die Frage, wozu Kirche und Gemeinden
eigentlich gut sind, bei vielen immer mehr zur Frage wird. Denn
Kirche und Gemeinden wollen eigentlich immer noch das, was sie
immer schon wollten: für das Heil, das Wohl der ihr anvertrauten
Menschen da sein! In den Gemeinden wird die Botschaft Jesu von
der anbrechenden Gottesherrschaft verkündet; die Frage nach der
Wahrheit über Gott und die Welt spielt eine große Rolle und
folglich die nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Zudem
versucht die Kirche bei einschneidenden Lebensereignissen und
-phasen präsent zu sein: bei Geburt und Taufe, bei
Erwachsenenwerden und Erstkommunion, bei Schuldbewußtsein und
Gewissensbildung, bei Hochzeit, Krankheit und Tod - sozusagen an
frohen und an trüben Tagen.
Weil es immer um die Botschaft Gottes und das Heil der Menschen
geht, müßte eigentlich allen klar sein, was immer weniger klar
zu sein scheint. Liegen der "Kirchenschwund" und das "Ausbluten
der Gemeinden" an der auch gesellschaftlich feststellbaren
"Umwertung aller Werte" in einer rapide sich verändernden Welt-
und Lebenseinstellung? Liegt es daran, daß in Zeiten
wirtschaftlichen Wohlbefindens Werte und Wahrheiten aufhören,
Werte und Wahrheiten zu sein? Worüber Eltern schon lange ein
Lied singen können, wird nun auch für die Kirche eine
einschneidende Erfahrung: daß bei ihren heranwachsenden Töchtern
und Söhnen plötzlich nicht mehr gilt, was in der Kindheit
prägend und tragend gewesen war. Sie ziehen aus dem
wohlbestallten Elternhaus einfach aus. Sie wollen ihre Freiheit
und Selbständigkeit. Oft scheinen sie einfach wegzuwerfen, was
ihnen Eltern und Kirche als unverzichtbar mitgegeben hatten. Und
die verängstigten Eltern und Kirchen wissen oft nicht, wo ihre
Kinder einmal landen werden: in einem geistigen Niemandsland, in
einer Orientierungs- und Bodenlosigkeit ohne festen Lebenshalt
unter den Füßen? Viele laufen allzu häufig irgendwelchen
Propheten nach, die mit simplen und eingängigen Floskeln zu
wissen vorgeben, was wichtig und tragend für modernes
aufgeklärtes Leben ist...
Insofern hat es die Kirche heute weltweil mit einer Generation
der für sie "verlorenen Töchter und Söhne" zu tun, die einfach
weggehen und wegbleiben und von denen sie - ganz im Sinne von Lk
15,11ff - nicht weiß, ob und in welchem Zustand sie einmal
zurückkehren werden? Ein Haupthindernis ihrer Wiederkehr oder
ihres Bleibens wurde bereits genannt. die Kirchen- und
Theologie-Unfähigeit der heutigen Menschen oder die
Menschen-Unfähigkeit heutiger Theologie und Kirche...
5. Eine Botschaft, in der sich Menschen wiedererkennen.
Was sollen Kirche und Gemeinde in solcher Bedrängnis tun, wie
reagieren? Wie schon gesagt: mit mystifizierten Dorfpalavern,
mit dem Reden über alle möglichen kirchlichen und
gesellschaftlichen Themen ist es genauso wenig getan wie mit
Wehrufen und Drohgebärden, oder gar mit naivem Zweckoptimismus
und Enthusiasmus. Vielleicht sollte die "alte Mutter-Kirche" das
tun, wozu ältere Menschen neigen, wenn sie Gegenwärtiges nicht
mehr verstehen und bewältigen: Sie schauen zurück in die
Vergangenheit, in die eigene Kindheit. Im "Zurück zu den
Quellen" hat dies das zweite Vatikanische Konzil auch schon
energisch gefordert. Dabei stellten sich auch für Nichtfachleute
die Fragen, wie, warum, unter welchen Umständen und zu welchem
Zweck die Kirche eigentlich entstanden sei? Mit dem früher
gängigen Hinweis, Jesus habe in einem feierlichen Akt die Kirche
gegründet und damit sei die Frage beantwortet, schien es nicht
mehr getan. Auch nicht mehr mit dem Hinweis, der Kirche seien,
so wie sie ist, bis ans Ende Dauer und Fortbestand verheißen,
mit allen ihren theologischen und rechtlichen Bestimmungen.
Ohne "feierlichen Akt" versammelten sich de facto die ersten
Christen nach der Katastrophe des Karfreitags, nachdem alle ihre
Hoffnungen zunichte gemacht waren. Sie arbeiteten, verängstigt
und orientierungslos, noch einmal auf, was eigentlich geschehen
war. Ihre Zusammenkünfte gestalteten sich zu
Erinnerungs-Gemeinschaften. Denn sie erinnerten sich an all das,
was Jesus in konkreten Lebenssituationen gesagt und getan hatte.
Sie erinnerten sich sogar recht unterschiedlich, so daß es von
Anfang an verschiedene Gemeinde-Theologien gab, die in den
unterschiedlichen religiösen und strukturellen Verfassungen der
Patriarchatskirchen - über 1000 Jahre lang - ihren Niederschlag
und ihre Entwicklung fanden. Bei aller Unterschiedlichkeit in
Liturgie und theologischem Denken war doch die "Einheit"
insofern gewahrt, als die gemeinsame Ausrichtung und
Orientierung am Leben und Handeln Jesu die eigentliche
Richtschnur blieb - statt primär die Einheit in theologischen
Formeln zu suchen. Man könnte auch sagen: die Praxis der Liebe,
wenn auch noch so menschlich und fragmentarisch, erwies sich als
das eigentliche Band der Einheit und Markenzeichen des Glaubens.
Weil das Beispiel Jesu heilsam und erlösend für alle Beteiligten
gewesen war, versuchten sie, wie Er zu denken und zu handeln -
als Nachfolge-Gemeinschaften, die die "Praxis Jesu" auf konkrete
Weise auf den Punkt zu bringen versuchten. "Licht der Welt",
"Salz der Erde" sein. So verstanden sie ihren Auftrag. Dabei
glaubten alle gemeinsam - die "Communio" der Männer und Frauen,
der Jünger und Apostel - ,nur Ihm, dem einen Herrn und Meister
gegenüber, im Gehorsam verpflichtet zu sein. Als
Gehorsams-Gemeinschaften lernten sie, auf die Aufgaben und
Herausforderungen konkreter Situationen Antwort zu geben, indem
sie dabei entdeckten, was an Kraft, Begabung und Grenze in ihnen
und in anderen steckte. Letztlich ging es um die
"charismatische" Personwerdung jedes Einzelnen, im Namen Gottes,
nicht ohne die der anderen und nicht ohne die dauernde
Rückbesinnung auf das Lebensbeispiel Jesu, der ihnen
exemplarisch deutlich gemacht hatte, wie sich´s überzeugend und
gottgemäß leben läßt - sogar über den Tod hinaus. In dieser
Glaubens-Einstellung konnten sie auch Eucharistie- und Tisch-
wie auch Hoffnungs-Gemeinschaften sein, weil sie eine Zukunft
vor sich sahen, die im Jetzt der Reich-Gottes-Nähe beginnend
ohne Ende ist. Aber was noch wichtiger war: für solches "Leben
in Christus" und mit ihm bedurfte es keiner Akademiker- und
Spezialisten-Religion (wenn diese auch nicht abgeschafft werden
sollte). Wo es um die konkrete Lebensführung aus einer Botschaft
ging, konnten alle mitdenken, mitreden, mithandeln. Das Prinzip
der Communio war in der Praxis gewahrt. Ignatius von Antiochien
hat es auf die Formel gebracht: "Der Baum wird an seiner Frucht
erkannt; so werden auch die, die bekennen, daß sie zu Christus
gehören, an ihrem Tun erkannt. Denn jetzt kommt es nicht auf
Worte an... Besser ist es, zu schweigen und zu sein, als zu
reden und nicht zu sein" (vgl. Gotteslob Nr.787,2).
In die heutige Sprache gebracht, könnte man sagen: Ein
Lebe-Meister ist besser als tausend Lese-Meister. Für die Kirche
wird es eine Überlebensfrage, eine Vision "zu sein" statt
tausend Visionen zu haben.
6. Mut der Kirche zu (für sie selbst) "gefährlichen
Erinnerungen".
Die Kirche hat sich im Laufe ihres staatskirchlichen
Gottesgnadentums eine "heilige" Ordnung gegeben. Man kann sie
"Hierarchie" nennen oder "Männergesellschaft", Oligarchie oder
Monarchie, Klerikalismus oder geistig-überlegen-sein-wollende
Oben-Unten-Herrschaft. Das "Ergebnis" dieses lange gewordenen
Anspruchs zeigt sich heute in dessen Schlagseite, nämlich in der
wachsenden Erkenntnis, daß diese "gottgewollte" Ordnung gar
nicht so gottgewollt ist, wie sie manche Nutznießer gerne
zementiert haben möchten. Außerdem hat sich der "Geschmack" des
mündiger werdenden Gottesvolkes rapide geändert. Was früher die
Orden leisteten und in ihrer Angepaßtheit heute weithin nicht
mehr zu leisten vermögen, müssen im Blick auf das Morgen die
Gemeinden als ihre Aufgabe erkennen: Sie müssen eine
überzeugende Lebensform des Miteinanders finden und erproben,
die für möglichst viele heilsam ist, indem sie dem Schicksal der
einzelnen gerecht zu werden versuchen. Sie müssen die Praxis
Jesu und der frühen Gemeinden wieder exemplarisch ins Spiel zu
bringen imstande sein - nicht um die Kirchengesetze und
Verordnungen aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen (Mt 5,17).
Sie müssen Weisungen und Verhaltensweisen wieder in den Dienst
konkreter Menschen zu stellen fähig sein, statt umgekehrt die
Menschen zu Sklaven und Befolgern von Weisungen und Verordnungen
zu machen (Mt 12,1ff). Gemäß den vorhandenen Charismen geht es
bei den Gemeinden der Zukunft wieder um möglichst große
Lebensvielfalt - in der Einheit des Geistes, der die
Vielfältigkeit erlaubt.
Im Trubel der heutigen Zeitenwende werden die christlichen
Gemeinden in sehr lebensnaher Form wieder das werden müssen, was
sie einmal waren: Erinnerungs-, Nachfolge-, Gehorsams-,
Eucharistie- und Hoffnungsgemeinschaften. Entweder wird das
christliche Selbstverständnis wieder unter diesen elementaren
Erfordernissen im Volk Gottes verankert sein oder es wird nicht
mehr sein. Sollte es weiterhin sein, würden sich heute
anscheinend brennende Kommissions-Fragen über Ämterverständnis
und Ämterzulassung, über katholische und evangelische
Rechtfertigungs-Theorien, über Sakramentenverständnisse, über
männliche und frauliche Aufgaben und Kompetenzen... als
kirchenamtlich-langweiliges Stroh, als längst überholtes und
unwichtiges theologisches Geplänkel herausstellen (vgl. Gal
3,28). Die Christenheit als Ganze würde wieder begreifen, daß
sie sich selbst und "der Welt" gegenüber nur Eines schuldig ist:
das Zeugnis gemeinsamer und gegenseitiger Liebe (Röm 13,7f; 1Kor
13) - sozusagen als Vorgeschmack und Geschmachsanregung für das,
was Jesus die Vollendung des Reiches Gottes nennt.
In der heutigen Krisen- und Umbruchszeit sollten Synoden, Foren
und Pastoralgespräche sich davor hüten, ihre Zeit durch Palavern
zu vergeuden. Sie sollten sich den "gefährlichen Erinnerungen"
stellen, die sich aus der Lebensführung Jesu ergeben. Sie
sollten zuerst das Reich-Gottes-Nähe suchen und erproben im
Bewußtsein, daß nur dann alles andere hinzugegeben wird: auch
Formen von Kirche und Gemeinden, an denen die Welt etwas für sie
Wichtiges erkennen kann. |