Gratis Info-Brief
Sie möchten regelmäßig über neue Beiträge auf meiner Webseite informiert werden?
Dann abonnieren Sie einfach meinen
Info-Brief...
|
|
II. Wie heute Christ sein?
Bayerischer Rundfunk: Januar 1999
Was glauben die Deutschen? Daß sie vielfach nicht mehr an das
glauben, was früher kirchenamtlich vorgegeben war, sagten wir
letzten Samstag. Dieser Tatbestand ist auch von höchster Brisanz
für die Ökumene, die Gemeinschaft der christlichen Kirchen. Ich
möchte es am Beispiel der Rechtfertigungsdiskussion deutlich
machen.
Im Juli 1998 schilderte der Chefredakteur eines renommierten
christlichen Wochenblattes den Stand und den Verlauf der
Diskussion in der Ökumenekommission der großen Kirchen. Anlaß
dazu war die Tatsache, daß nach zehnjähriger strenger Arbeit
evangelische und katholische Theologen ein Papier verfaßt
hatten, welche dem Streit seit Martin Luther endlich ein Ende
setzen wollte über die Fragen: "Wie finde ich einen gnädigen
Gott; durch die Gnade und den Glauben allein oder auch durch
Werke, durch kirchliche Ämter und Sakramente?"
Das Papier, genannt "gemeinsame Erklärung zwischen der
katholischen Kirche und
dem lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre", hatte
die größten Chancen, auch von den Kirchenleitungen akzeptiert zu
werden. Der Schlußstrich unter die gegenseitigen
Lehrverurteilungen seit dem 16. Jahrhundert sollte zudem den Weg
zur späteren Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft eröffnen. Aber
mitten in dieser anscheinend wiedergefundenen Einheit und
Harmonie meldeten sich 160 evangelische Theologen zu Wort, die
dem Wortlaut des Dokumentes heftigst widersprachen. Sie warnten
vor einem drohenden protestantischen Identitätsvelust bei zuviel
Annäherung ans Katholische. Auch Rom schaltete sich ein. Sie
forderten mehr begriffliche Klarheit, dogmatische Präzision,
ergänzende Bemerkungen und mehr Toleranz gegenüber den
verschiedenen konfessionellen Traditionen. Der jahrhundertealte
Lehrstreit drohte nicht nur erneut auszubrechen; er war bald
wieder in vollem Gange. Kritische Stellungnahmen schienen das
Erreichte nicht nur auszuhöhlen; es drohte auch ein neuer
"Konfessionalismus", der die ökumenische Gesamt -Atmosphäre
verpestete.
In dieser spannungsgeladenen Situation beklagte sich der
genannte Chefredakteur darüber, daß die große Öffentlichkeit,
das Fernsehen und die Tagespresse von den "aufregenden
Entwicklungen" kaum Notiz nahmen. Er beklagte sich darüber, daß
das Kirchenvolk von Anfang an aus den Überlegungen
ausgeschlossen worden war. Er forderte die Christen und
Gemeinden, kirchliche Jugendverbände und Bildungswerke, säkulare
Öffentlichkeit und Kirchenpresse auf, leidenschaftlich auf die
Straße zu gehen und die betroffenen Professoren und
Kirchenleitungen zu beschwören, dem brennenden Thema der Einheit
der Christen, das doch alle angehe, mutig nachzugehen. Ein Ruck,
eine offensive Bewegung müsse durch das ganze Kirchenvolk gehen.
Stattdessen schlafe es ; schaue wie gelähmt zu; schaue sogar
weg, als wenn es gar nicht davon berührt wäre...
Bei so viel Verwunderung eines renommierten Chefredakteurs kann
man sich eigentlich nur darüber wundern, daß er sich so wundert.
Denn wenn die religiöse Entwicklung in der säkularen Welt seit
Jahrzehnten nicht täuscht, sieht das Kirchenvolk in der Tat
keinen Anlaß, wegen solcher theologischer Erbstreitigkeiten auf
die Straße zu gehen. Im Gegenteil. Sein Schweigen ist ein
alarmierendes Indiz dafür, daß sich das Christentum seit
Jahrhunderten zu einer akademisch-universitären Theologen- und
Spezialistenreligion entwickelt hat, an der der Mann auf der
Straße keinen ihn innerlich berührenden Anteil hat bzw. haben
kann. Freilich konnte man in früheren Jahrhunderten das
Kirchenvolk zu Glaubensgehorsam verpflichten. Das äußere
Aufsagen von Glaubensbekenntnissen und Glaubenssätzen änderte
jedoch nichts daran, daß es innerlich unbeteiligt blieb. Auch
religiöse Folklore und Traditionspflege sind noch keine Indizien
für wirklichen Glauben und verantwortliche Lebensgestaltung aus
dem Glauben. Insofern ist die heute sich ausbreitende
Kirchendistanz nichts anderes als ein eklatantes äußeres
Zutagetreten der Tatsache, daß die Kirchenleitungen und
Kirchen-"eliten" über Jahrhunderte hinweg mit sich selbst
beschäftigt waren, d.h. mit ihren Theologien, mit ihrem
Amtsverständnis, mit ihren Lehr- und Kultfragen. Dabei sind die
Kirchen blind geworden für Lebensereignisse und Lebensfragen,
die die Menschen beschäftigen. Vor allem haben sie das
Allgemeine stets über das Besondere gestellt; sie haben sich mit
allen Menschen und der gesamten Menschheit "urbi et orbi"
beschäftigt, dabei aber den Einzelnen in seiner Einmaligkeit und
Freiheit nicht besonders ernst genommen. Indem ihnen die
Menschen als Masse wie zu betreuende und zu behandelnde
"Objekte" gegenüberstanden, haben sie "Lehrämter" geschaffen,
aber keine "Lebensämter", die durch Lebensbegleitung und
Lebensanteilnahme immer wieder den Zusammenhang hätten aufzeigen
müssen zwischen christlicher Glaubens-Substanz und wirklichem
Leben.
Das Elend und die Schande des Christentums bestehen heute darin,
daß es in fast allen seinen Vollzügen zu einer Religion von
"Profis" geworden ist. Konzil und Synoden haben seit 30 Jahren
in der katholischen Kirche weltweit deutlich gemacht, daß die
einfachen Leute ganz andere Fragen und Probleme haben als die
Theologen und Kirchenführer. Aber deren "Volksbegehren" wurden
weithin in den Wind geschlagen. Warum? Geht es mehr um
Machtansprüche als Wahrheitsansprüche? Oder um ein
dogmatisiertes Glaubensverständnis, welches wie ein Zementblock
anscheinend unerschütterlich ist und kein anderes Denken zuläßt?
Mein Eindruck ist, daß es heute viele Menschen gibt, die
durchaus religiös und christlich sein wollen. Auf der Suche nach
Gott und einem tragenden Lebensgrund glauben sie jedoch nicht,
dabei kirchenamtliche Hecken und Zäune überspringen zu müssen.
Amtlich-kluge Lehren und Weisungen wirken oft wie vereinnahmende
Stacheldrähte, die sich um die Seelen legen und hinderlich dabei
sind, in Freiheit und eigener Kompetenz eine Beziehung zu Gott
zu leben. Die Demontage herkömmlich kirchlicher Gottesbilder
kann sich dabei durchaus als Befreiungsschlag erweisen. Dem
Christentum muß es auf Gedeih und Verderb gelingen, eine
Religion freier Menschen zu werden. Die gegenwärtige Krise kann
eine wirkliche Chance sein, die Botschaft Jesu wieder neu
verstehen und buchstabieren zu lernen.
|