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III. Wie heute Christ sein?
Bayerischer Rundfunk: Januar 1999
Das Christentum muß sich immer mehr als eine Religion freier
Menschen erweisen. Das war unsere Antwort am letzten Samstag.
Und: die radikale Krise der Kirchen und ihrer theologischen
Lehrgebäude - unabhängig von den äußeren gesellschaftlichen
Faktoren - besteht in dem jahrhundertealten Mißverständnis oder
Unverständnis des Christentums als einem Lehr-, Begriffs- und
Definitionsgebäude. Ihm wird immer mehr der Boden entzogen, weil
immer weniger Menschen daran glauben. Denn sie verstehen es
nicht. Sie verstehen auch nicht, was die wenigen Fachleute und
Kirchenrepräsentanten in ihren Verlautbarungen verkünden. Deren
Verkündigung bleibt schon deshalb unverständlich, weil die
meisten Verkünder ihre Botschaft selbst nicht verstehen -
höchstens begrifflich, spekulativ-akademisch, aber nicht so, wie
sie allein und an erster Stelle verstanden werden müßte, nämlich
existentiell und durch das Tun konkreter Taten der Liebe, wie
sie jedem Menschen, je nach Charisma und Eigenart, spontan und
mit Gottes Hilfe möglich sind.
Denn von Jesus her fangen viele Menschen - auch außerhalb der
Kirchen - wieder neu an zu erahnen: im Existieren, nicht im
Spekulieren erweisen sich die Lebenskraft und der Lebenssaft
einer Botschaft. Wer sie staatspolitisch vereinnahmt und sie den
Händen unfehlbarer Hüter überläßt; wer aus der Religion eine
verwaltete Religion macht, sie arbeitsteilig genau organisiert
und reglementiert - je nach Klerus und Laien, je nach Männern
und Frauen - ; wer für jede Aufgabe Zuständigkeiten und
Dienststellen schafft - für den erweisen sich
Kirchenvolksbegehren und unvorhergesehene Laien-Anträge nicht
nur als Gefahren für die herkömmlichen In -stanzen und
Platz-Anweiser. Diese erweisen sich sogar und werden
bloßgestellt als Vernichter und Zerstörer dessen, was sie so
energisch für die Zukunft zu retten versuchen. Das
geschichtliche Paradox besteht dann darin, daß sich die
Verteidiger von Religion und Glaube als deren größte Hindernisse
und Zerstörer erweisen.
Carl Amery hat diesen tragischen Vorgang innerhalb des
Christentums mit einer Anekdote beschrieben. In seinem letzten
Buch "Hitler als Vorläufer - Auschwitz - der Beginn des 21.
Jahrhunderts" heißt es: "Ein ehemaliger polnischer Offizier
berichtet, daß er in den ersten Tagen nach der Eroberung seines
Landes ein Schloß aufsuchte, in dem eine bayerische
Gebirgsjägerdivision untergebracht war. Die biederen Landser
wohnten gerade einer Messe bei, die ein Militärgeistlicher
zelebrierte. Im Keller aber waren Juden und andere unerwünschte
`Elemente zusammengepfercht, deren Klagen durch den Parkettboden
zu hören war. Den Zelebranten wie die Soldaten störte das nicht
- dafür war eine andere Dienststelle zuständig!"
In die am letzten Samstag beschriebene Rechtfertigungsdiskussion
hat sich u.a. ein Mediziner und Arzt eingeschaltet. Er wirft den
Kirchen "Begriffs-Fetischismus" vor; ein "total steriles und
unbrauchbares Denken"; ein Fixiertsein auf völlig
rückwärtsgewandte Streitfragen inmitten einer Welt, "die ringsum
in Flammen steht".
Nun, selbst wenn die Welt nicht ringsum in Flammen stehen würde
- ich stelle mir vor: eines Tages würden die Kirchen und
Konfessionen eine einzige theologische Sprache sprechen; sie
würden sich über alle Streitfragen verständigen und gemeinsame
Lehr-Formeln ersinnen - wenn dies auf die traditionell-übliche
Weise geschähe im Sinne eines Glaubensverständnisses, welches
überkonfessionell Sätze "für-wahr-zu-halten" gedenkt - eine
solche "Ökumene" würde niemanden vom Stuhle reißen! Denn es
könnte sein, daß viele Fragen von früher nicht mehr die Fragen
heutiger Menschen sind. Auch die bedrängende Frage M. Luthers,
die heute die Diskussion der Theologen beherrscht: "Wie finde
ich einen gnädigen Gott?" dürfte für die wachsende Mehrheit der
Gläubigen heute keine bedrängende Frage mehr sein.
Wenn Umfragen und Untersuchungen nicht täuschen, stellen freie
und selbstbewußt gewordene Menschen andere Fragen: Wie finde und
gestalte ich eine gnädige Zukunft? Wie finde ich meine
Lebensrolle in einer Welt, die so unübersichtlich, in vielen
Bereichen so wurzellos, so heimatlos, so orientierungslos
geworden ist? Wie finde ich mich selbst, in meinem Werden und
Wachsen, mit meinen Gaben und der Akzeptanz meiner Grenzen? Wo
finde ich Menschen und Gemeinden, die mich so einschatzen und
behandeln wie ich bin? Wie lerne ich, andere vorurteilslos und
realistisch einzuschätzen, um sie verstehen, lieben und achten
zu lernen? Wie finde ich zu gelungenen und geglückten
Beziehungen: in Ehe und Familie, im Freundeskreis und am
Arbeitsplatz? Schließlich: wie kann ich in meinen Zweifeln und
Lebensängsten den Weg zu Gott oder zur Transzendenz finden? Wer
öffnet mir den verrannten Weg ins Jenseits, falls es überhaupt
eins gibt? Wer hilft mir die Grenzen meiner selbst überschreiten
- nicht durch kluge Worte und Sonntagsreden, sondern durch den
Mut eines Lebenszeugnisses, welches sich von der Kraft Christi
bestimmen läßt und von Menschen, die zu überzeugen vermögen?
Fragen und Bedrängnisse moderner Menschen können sich durchaus
als ungewohnte, aber überlebenswichtige Anfragen an das
konventionelle Christentum erweisen - an ein Christentum,
welches seine Hauptaufgabe wieder darin sehen muß, die Menschen
das Leben und Lieben zu lehren. Gefragt ist ein
Christentum, welches theoretisch-abstrakte Klarheiten und
angeblich absolute Wahrheiten an die zweite oder dritte Stelle
rückt; welches stattdessen dem Willen absolute Priorität
verleiht, in Gemeinschaft gottgewoltes und evangeliumsgemäßes
Leben zu üben; also nach dem Vorbild Jesu erlösendes und
heilendes Denken und Handeln zu praktizieren. Die Einübung in
ein vom Evangelium inspiriertes Denken und Handeln, welches den
Menschen in seinen konkreten Lebenslagen im Blickfeld hat, ist
das Gebot der Stunde. Wo es darum geht, daß die für Menschen
heilsamen Worte und Taten Jesu weitergehen, da gilt nicht mehr
Mann oder Frau, Jude oder Grieche, Sklave oder Freier,
katholisch oder alt-katholisch, evangelisch, orthodox oder
freikirchlich. In dieser Aufgabe sind alle "eins" in Christus
Jesus (vgl. Gal 3,28).
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