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IV. Wie heute Christ sein?
Bayerischer Rundfunk: Januar 1999
Wie heute Christ sein? Unsere Überlegungen der letzten
Samstage kreisten um die Antwort: wir Christen müssen die
"Dynamik des Anfangs" wiederfinden. Diese bestand nicht darin,
daß Jesus oder die Urgemeinden Katechismen und dogmatische
Handbücher schrieben - zum Gedankenschmaus für Denker und als
Übungsfelder für ideologisch verbrämte Rechthaber, zweifelsfreie
Missionare und religiöse Eroberer, verbunden mit all den
brutalen Konsequenzen, die aus der Geschichte all- zu bekannt
sind: Hexenwahn, Inquisition, Religions- und Konfessionskriege,
Marginalisierung und Unterdrückung all derer, die sich schwer
taten mit unfehlbaren Behaupten über Gottes Wege und Weisungen.
Die Dynamik des Anfangs bestand in nichts anderem als in der
Tatsache, daß sich die Christen der ersten Zeit im Vertrauen auf
Gottes bleibende Anwesenheit in ihrer Mitte zusammentaten, um
sich - nach dem Schock des Karfreitags und nach der
un-glaublichen, aber doch frohen Kunde des Ostermorgens - in
seinem Geiste an all das mühsam zu erinnern, was Jesus gesagt
und getan hatte. Die Urkirche entfaltete sich in
unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften, die aber
auch die Nachfolge Christi zu leben versuchten, indem sie
in ihren Situationen das zu tun versuchten, was er getan hatte.
Christen und christliche Gemeinden sind getrieben oder müssen
getrieben sein von dem gemeinsamen Willen, daß durch sie die
Worte und Taten Jesu in der Konkretheit des Lebens weitergehen.
Nur dadurch, daß Christen sich einmischen lernen, indem sie das
menschennahe und situationsbezogene Denken und Handeln Jesu
praktizieren - über alles Theologisieren und kirchenrechtliche
Vorschreiben hinaus - , erweisen sie sich als "Licht der Welt"
und "Salz der Erde". Wie Jesu Worte und Taten unmittelbar für
Zeitgenossen heilsam und erlösend waren, so muß sich die
Existenz christlicher Kirchen und Gottesdienste für Menschen als
heilsam und erlösend erweisen. Da gelten nicht nur das
Sich-Ver-sammeln und Nachdenken in seinem Auftrag; auch nicht
nur Mediation und eingebildete Gotteserfahrung, sondern der Mut
des Sich-Einmischens in konkrete Welt- und Lebensverhältnisse -
also das "Tun der Wahrheit" in seinem Namen. Maßstab für den
Gottesdienst ist nicht das Einhalten von Gesetzen und
Moralvorschriften, sondern der konkrete Dienst am Nächsten als
gewissenhaftes und personal-verantwortetes Erfüllen des Gesetzes
in der Liebe.
Von daher wird sich auf Zukunft hin viel akademisches
Theologengeplänkel über Rechtfertigung, Eucharistie- und
Ämterverständnis als überflüssig erweisen. Viele theoretische
"Verständnisfragen" wurden lange genug als "frohe Botschaft"
verkündet - von großen Teilen des Kirchenvolkes Gott-sei-Dank
heute nicht mehr als solche rezipiert. Entscheidend wird sein,
daß die Menschen in ihren Lebenslagen das Werden und Wachsen im
Glauben und Hoffen lernen und bei allen Zweifeln und
Anfeindungen das Tun der Wahrheit nicht vergessen. Dazu brauchen
sie nicht so sehr Lehr-Ämter oder Lehr-Meister als vielmehr
Lebens-Ämter oder Lebe-Meister - also Vorbilder in dem, worauf
es wirklich ankommt.
Das eigentlich Jesuanische der biblischen Botschaft besteht ja
nicht darin, daß sich Hierarchien und Expertokratien bilden, die
vom Christentum leben und Sinn-Agenturen für die Menschheit
betreiben. Es geht vielmehr um die "Fleisch-" und
"Menschwerdung" der Liebe. Diese kann nicht einfach darin
bestehen, daß Ritualisierungen gepflegt und Mythenbildungen
genehmigt werden. Die vom Evangelium vorgegebene Praxis der
Liebe muß sich real-geschichtlich einmischen überall dort, wo
die Würde des Menschen durch welche Machenschaften auch immer
verletzt und mit Füßen getreten wird. Seit Jesus von Nazareth
sind nicht absolute Wahrheitsansprüche, sondern ist jede Form
von heilsamer Menschenliebe zum Maßstab für die Gottesliebe
geworden. Deshalb kann Gott zu jeder Zeit und an jedem Ort
angebetet werden, wo und wann auch immer etwas zum Wohl und Heil
lebendiger Menschen geschieht. Da ereignet sich auch immer
"Nachfolge Christi".
Christliche "Nachfolge-Gemeinschaften", in denen konkret etwas
Heilsames und Erlösendes geschieht, vermögen auch M a h l - und
Eucharistie-Gemeinschaften zu sein. Das eine gehört wesentlich
zum anderen. In der Mahlfeier findet das, was Christen sind und
zu sein haben, seinen kultischen Höhepunkt. Ohne die Erfüllung
des Auftrags Jesu, ohne die Fortsetzung seiner Taten in
gemeinsamer Verantwortung erweist sich dieser "Höhepunkt" als
ritualisiertes Scheingefecht am Sonntagmorgen. Es wird schon
dadurch Lügen gestraft, daß es viele leichtfertig und ohne
Gewissensbisse durch Sport- und Schwimmübungen zu ersetzen
vermögen. Jedenfalls muß ernsthaft über die Frage nachgedacht
werden, warum so viele Christen das Wichtigste versäumen, ohne
es zu missen...?
Denn dem Christentum ist es aufgegeben, Salz und Sauerteig zu
sein - weniger in Sakristei und Kirche als vielmehr mitten in
der Welt. Wenn das Salz der Erde selbst schal wird, kann
menschliches Leben durch nichts mehr sinnvoll gesalzen und
gesäuert werden. Ohne die Fleisch und Mensch gewordene Liebe
wird es auch bald keine Menschen mehr geben.
In vieler Hinsicht steht das Christentum also an einem
Wendepunkt. Es kann sich nur erneuern, wenn es die "Zeichen der
Zeit" als Sprache und Anrufe Gottes selbst wieder zu hören und
zu beantworten fähig wird. Wie sollte Gott denn sonst seinen
Willen kundtun? Sicher nicht durch eingebildete Erleuchtungen
und phantasiegeladene Verzückungen von Menschen mit
religiös-hysterischem Hang. Gott offenbart sich auch nicht in
den Amtsstuben von Amtsträgern und am Weiterbau liebgewordener
systematischer Gedankenbastionen, hermetisch abgeschlossen durch
konfessionelle Hecken und Zäune. Byzantinischer Triumphalismus
und aufwendiges Getöse bei religiösen Massenveranstaltungen
eignen sich nicht, um den Willen Gottes zu erforschen. Pompöser
Aufwand bei Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 2ooo geben eher
Aufschluß über die Fragen, wer davon am meisten profitiert und
wer sich dabei am besten in Szene zu setzen vermag - man rechne
nicht allzu sehr mit der Anwesenheit Christi, obwohl am meisten
über ihn geredet wird! Das Antworten auf die Zeichen und
Herausforderungen der Zeit kann allein Aufschluß geben über die
Frage, ob es den Christen mit ihrem Christsein wirklich ernst
ist? Machbare Schritte und Maßnahmen müssen es erweisen. So
heißt es schon bei Mathäus: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr!
Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den
Willen meines Vaters im Himmel erfüllt" (7,21).
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