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Kirchen-Volksbegehren.: Zu Ratzinger
in FAZ vom 22.Dez. 2000, Nr. 298, S.46
08.01.2001
Wenn ich mir bei den vielen Kontakten die eine oder andere
"lebendige Gemeinde" anschaue, die es gelegentlich gibt, dann
liegt das nicht einfach an der Tüchtigkeit des Pfarrers oder
einiger "aktiver" Christen, sondern an der Verifizierbarkeit
dessen, was in ihnen geschieht bzw. verkündet wird. Werte wie
Liebe, Gerechtigkeit, Freude, gegenseitiges Wohlwollen,
Akzeptanz und Toleranz... unterliegen nun einmal der handfesten
Realitätskontrolle. Wenn sie sogar noch gelebt werden bzw. im
Zusammenhang stehen mit den erlösenden Worten und heilsamen
Taten Jesu, mit dem "Schon-Jetzt" seiner Reich-Gottes-Predigt,
dann wird in der gelebten "Communio" sichtbar, was christliche
Spiritualität und "Nachfolge Christi" konkret bedeutet. Auch
biblisch gesprochen muß ja "anbrechende Gottesherrschaft" an
ihren Früchten zu erkennen sein (Mt. 7,16), an der Art und
Weise, wie Christen miteinander leben und umgehen. Wer hier von
"Schwärmerei" redet, weiß nicht, wovon er spricht. Es wäre zudem
zu fragen, ob die "große Gottesidee" Ratzingers mit dem
menschennahen und situationsbezogenen Heilshandeln Jesu und
anderer in seiner Nachfolge sehr viel gemeinsam hat? Ob der von
ihm zitierte zentrale Satz aus 1.Joh. 1,3 bedenkenlos auf
heutige Amtsträger angewandt werden kann, so als hätten diese
den Garantieschein des heiligen Geistes im Marschgepäck?
Wenn man sich jahrzehntelang offizielle kirchliche Dokumente
anschaut, so hat man allzu oft den Eindruck, daß da theologische
Spekulanten auf zwar hohem akademischem Niveau, aber mit wenig
Realitätssinn am Werk sind. Jedenfalls vermöchten sie nicht zu
sagen, wie von ihrem Denkansatz her "Communio" in ihrem
vieldimensional beschriebenen und postulierten Sinn konkret
Gestalt annehmen könnte? - Wie das Christentum mit der
Menschwerdung begann, so kann es wohl auch nur durch
geschichtliche Konkretheit Zeiten und Krisen überdauern. Was
sollen also die von "normalen Christen" nicht nachvollziehbaren
Spekulationen? Wem dienen sie eigentlich? Den heutigen Menschen
in ihren faktischen Lebensverhältnissen wohl kaum! Vielleicht
den noch-lebendigen Rest-Gemeinden?
Allzu viel in der Kirche hartnäckig Vertretenes erweckt den
Verdacht, daß es am meisten den "Amtsträgern" und ihren
Eitelkeiten dienlich ist, ihrem Kompetenzgerangel, ihrem "Von-oben-nach-unten-Denken",
so als wollten sie alles retten, was sie seit Jahrhunderten
kirchenrechtlich und dogmatisch zurechtgebastelt haben. An der "Amtslehre"
- vertreten durch Weihegrade und "göttliche Vollmacht" - sollen
sich alle orientieren. Auch Gott kann da nicht mehr anders.... -
Wie klug und blitzgescheit die Ausführungen Ratzingers in der
FAZ auch immer sein mögen - oft habe ich mich während der
Lektüre gefragt, wann wohl der Satz kommt, den Thomas von Aquin
am Ende seines langen theologischen Schaffens geschrieben hat:
"Alles, was ich geschrieben habe, ist Stroh"(?). Stattdessen
aber kommt der kritische Hinweis auf "Theologen, die auf sich
halten" und für die es geradezu zu einer Pflicht geworden ist,
Dokumente aus Rom negativ zu bewerten... Von seinem Denkansatz
und Weihegrad her kommt er wohl gar nicht auf die Idee, daß er
selbst zu dieser Kategorie von Theologen gehören könnte (obwohl
er sehr viel oder alles von dem zu halten scheint, was von ihm
selbst kommt).
Religionssoziologische Untersuchungen weisen schon lange darauf
hin, daß die herkömmliche Theologie, inklusive die Roms, an ihr
Ende gekommen ist. Sie wird auf weitesten Strecken als
"lebensfern gedroschenes Stroh" entlarvt und verstanden.
Religiös suchende Massen gehen auf Abstinenz und Distanz zur
"Amtskirche"- nicht nur wegen der "Theologen, die auf sich
halten". Sicher auch nicht nur wegen des verheerenden "römischen
Zentralismus", der übrigens nur von dem noch engagierten
Rest-Volk Gottes als beleidigend und infantilisierend empfunden
wird. Man könnte weit darüber hinaus den Kern des Problems und
der Krise überhaupt auf die Formel bringen: "Der wahren und
unfehlbaren Lehren sind genug verkündet. Jesu Aufforderung zum
wahren Leben - zur Einübung und Praxis jener Lebenswerte, wie
das Evangelium sie vorgibt". Oder anders ausgedrückt:
Christentum als Schule des gemeinsamen Leben- und Liebenlernens
- statt Zankapfel über theologische Begriffe und Definitionen,
die mit "Glauben" nicht allzu viel zu tun haben.
Daß durch die Wiederentdeckung der Person Jesu und seiner für
alle verstehbaren elementaren Botschaft ein gewaltiges Potential
an zukunftsfähiger Kraft vorhanden ist, wird auch von vielen
"Amtlichen" offensichtlich nicht verstanden oder vielleicht
sogar verhindert. Denn die jesuanische Kulturrevolution hätte
auch für die "Amtskirche" die folgenreiche Konsequenz einer
"Umwertung vieler kirchlich-traditioneller Werte". Man kann sie
hier nur ansatzweise vermuten: "Suchet zuerst das Reich Gottes
und alles andere wird euch hinzugegeben werden" (Mt.6,33), d.h.:
lebendige Formen von Communio und "Kirche", Amtsbeauftragungen
und Liturgien, sakramentale Feiern..., als Spiegelbilder
faktischer Glaubenswirklichkeit.
Solches "Suchen des Reiches Gottes" löst naturgemäß Ängste aus.
Denn wo es zu-erst um die Weitergabe des Evangeliums geht, um
die Fortsetzung der Worte und Taten Jesu, da stellen sich
Fragen, die vorher keine waren: wer darf in kirchliche Ämter
rücken - die mehr von der Lehre und kluger Gelehrsamkeit geprägt
sind oder mehr vom Leben? Die sich mehr durch bewährtes
Existieren erwiesen haben oder mehr durch philosophisches
Spekulieren? Die mehr von den Wegen Gottes in der
Lebensgeschichte von Menschen verstehen oder mehr vom
Interpretieren traditioneller Texte und Verordnungen?
Wer wie Ratzinger von der "wahren Lehre" ausgeht, wie sie in der
römisch-katholi-schen Kirche am unversehrtesten tradiert zu
werden scheint, dem geht der Blick verloren vor allem für zwei
geschichtliche Entwicklungen. Erstens , daß der von Rom so sehr
gescholtene L. Boff gerade dadurch wieder in die Nähe des
Evangeliums rückt, daß er deren Lebenswerte wieder bewußt macht
und zugleich handfest "brauchbar" werden läßt für die
Bewältigung konkreter Lebensverhältnisse. Also: Leben aus dem
Evangelium statt Theologen- und Kompetenzgezänk mit all den
verheerenden Folgen, die das Christentum in die Welt gebracht
hat.
Spätestens seit Christus Dominus weiß man zweitens, ein welch
gebrochenes Verhältnis die "wahren Lehrer" zu den anderen
christlichen Konfessionen haben. Dabei wird offensichtlich nicht
die Möglichkeit erwogen, daß manche von ihnen in der Kraft und
unter Leitung des hl. Geistes die Nähe zum Evangelium mehr
suchen und finden als manche andere, die traditionsbewußt eine
sehr hohe Meinung von sich haben. Also das Entstehen einer
katholischen Kirche aus vielen Kirchen und Gotteswegen! Trotz
unterschiedlicher Denk- und Lebensweisen doch alle eins in
demselben Anliegen des Einübens in Lebensformen, die vom Geist
und Sinn der evangelischen Werte geprägt sind! Dabei eine
Vielzahl von "Theologien" und Liturgien, die sich - je nach
Menschen, Kulturen und Rassen - auf die Lebens- und
Handlungsweise Jesu konzentrieren, um vielfältig "Leben in
Fülle" zu ermöglichen! Die vielleicht heute brennendste Frage
lautet: hat der hl. Geist nicht schon längst angefangen,
"ökumenisch" ganz andere Verhältnisse zu schaffen, als sie nach
römisch-katholischem Kirchenrecht vorgesehen sind? (z.B. bei der
Zulassung von Frauen in Ämter; in der Frage eucharistischer
Gemeinsamkeit; in den Anliegen des KiVo-Begehrens usw.).
Es wäre also die höchste Zeit für die Kirche, die sich für die
gottgewollteste hält, angesichts des geschichtsmächtigen Wirkens
Gottes in der Gesamt-Christenheit jedes Stroh als Stroh zu
begreifen und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens im Blick auf
das faktische Leben heutiger Menschen mit ihren Hoffnungen,
Sehnsüchten, transzendentalen Sinnerfahrungen trotz oder sogar
wegen der allgemein herrschenden geistigen "Haus- und
Wurzellosigkeit" (Buber).- Zweitens im Blick auf die
Unaussprechlichkeit Gottes, der von uns keine "unfehlbaren
Wahrheiten" erwartet, höchstens vorläufige, damit verantwortetes
Leben und Lebensmeisterung im Sinne dessen gelingen kann, der
uns als "Sohn Gottes" authentisch ein Beispiel gegeben hat. Es
geht um die glaubhafte Verkündigung eines lebendigen Gottes
durch lebendige Menschen. Kirchen und Konfessionen müssen ihren
je eigenen Auftrag wiederfinden, wo es darum geht: einmütig im
Tempel das Brot zu brechen; es in Freude und Einfalt des Herzens
miteinander zu teilen; sich als von Gott berufene und begnadete
Menschen zu verstehen und ein Zeugnis in und für die Welt zu
sein (vgl.Apg.2,44.46; 4,32.33).
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