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Ansichten eines Außenseiters (I):
Vaticanum II vor 40 Jahren.
November 2005
1. Außenseiter als "Ketzer".
Außenseiter werden oft in einer Gesellschaft oder kirchlichen
Verfassung als Grenzgänger, Querdenker, Störenfriede oder "Ketzer"
abgestempelt. Oft sind sie es auch. Ich selbst bin nicht als "Außenseiter"
geboren. Von Kindheit an in einem sehr katholischen Milieu aufgewachsen, war
ich immer ein "Insider". Aber das Leben hat mich dazu gezwungen, bisher
Erlebtes und Erfahrenes auch immer wieder "von außen", aus der Distanz
heraus zu betrachten - sozusagen eine Außenansicht anzunehmen, die mir
ursprünglich fremd war und wohl auch immer fremd geblieben wäre. Denn
"Insidern" ist es eigen, ihre gewohnten Standpunkte nur ungern zu
korrigieren. Letztlich bleibt das Erlernte allein gültig im Sinne von: "Roma
locuta, causa finita". Solche Entgültigkeit steckt mehr oder weniger in
jedem.
Drei Jahre vor meinem Abitur wechselte ich in ein für damalige Verhältnisse
recht "liberales und freidenkerisches Gymnasium". Von einigen Lehrern habe
ich gelernt, wie relativ und einseitig unser Denken ist und bleibt. Und wie
einseitig es ist, wenn man allzu gerne im Guten erstarrt, unflexibel
und unrealistisch dabei wird. Kritische Selbstkontrolle sei deshalb stets nötig.
- Während einiger Jahre Theologiestudium wurde ich jedoch ganz wieder "in".
Ich lernte als "Insider", zum Leben und Überleben, brav und angepasst zu
sein. Das gelang meistens nur kurz und teilweise. Ich exponierte mich immer
wieder als kritischer Fragesteller und Hinterfrager, sozusagen aus der Ferne
und inneren Distanz - was von anderen vielfach als störend angeprangert, als
geradezu unerträglich und dümmlich klassifiziert wurde.
Die zwei Studienjahre in Frankreich und Belgien, danach mein Einsatz in
Afrika haben gegenüber deutschem Denken enorme Vorbehalte aufkommen lassen.
Diese übertrugen sich schnell auf das "christliche Abendland", auf seine
Festlegungen, unverrückbaren Überzeugungen und für mich unbegreiflichen
Selbstsicherheiten. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Vorbehalten
großen Vorschub geleistet: alles in der Welt ist in Bewegung. Nichts Genaues
und Endgültiges weiß man. Nichts ist absolut sicher und unfehlbar. Immer
geht es darum, neu anzufangen, ohne das Alte zu verleugnen...
2. Das Zweite Vatikanische Konzil - 40 verlorene und versäumte Jahre danach?
Vor dem Konzil war die "Ära" Pius XII. Von ihr war ich bis in die letzen
Fasern meiner Existenz geprägt. So erlebte ich das Zweite Vatikanische
Konzil in den Jahren 1962-65 wie ein Erdbeben. Ich war damals Student in
Paris, Lyon und Brüssel. In Frankreich, der "ältesten Tochter der Kirche",
konnte ich tagtäglich erleben, wie säkularistisch, "unchristlich",
kirchenfern und nahezu kirchenfeindlich ein ganzes Volk geworden war.
Dann kamen die Nachrichten aus Rom. Jede Zeitung berichtete darüber. Papst
Johannes XXIII. war plötzlich in aller Munde. Sein Bild war überall
gegenwärtig. Ich denke noch an manche Schlagzeilen, die sogar in
kommunistischen Zeitungen zu lesen waren: "Endlich ein Papst, der die Welt
versteht". "Die Kirche fängt an zu begreifen, dass sie bisher an den
Realitäten vorbei gelebt hat". "Sie geht auf die Menschen zu". "Sie nimmt die
Menschen ernst in ihren Zweifeln, Konflikten, Sehnsüchten und Hoffnungen".
"Die Menschen werden nicht mehr einfach als ´Objekte´ behandelt; sie sollen
auch in Freiheit mitreden, mitentscheiden und mitgestalten dürfen". "Die
Kirche besinnt sich auf ihren eigenen Ursprung". "Sie versucht, Menschen die
Quellen zu erschließen" - "Sie geht auf kritische Distanz zu vielen
Traditionen und Gewohnheiten, die das Ursprüngliche eher verdeckt als
erschlossen haben"...-
Anschließend arbeitete ich sieben Jahre lang in einem der "katholischsten
Landstriche Afrikas" (Kamerun). Dort traf ich eine ähnliche
Konzils-Situation an. Ich hatte das Glück, mit einem afrikanischen
Erzbischof zusammen arbeiten zu können. Dieser war ein begeisterter Anhänger
des Konzils. Er berichtete nicht nur selbst über Ereignisse und
Entwicklungen in Rom, sondern ließ regelmäßig renommierte Theologen aus
Frankreich kommen, die zunächst die "Hauptamtlichen" über die Vorgänge
informierten. Mich selbst setzte er als "Multiplikator" und "Informator" für
die große Zahl seiner Lehrer, Katecheten und Gemeindeleiter seiner Diözese
ein.
Natürlich standen schon bald typisch afrikanische Themen auf der
Tagesordnung. Z.B.: Wie können Priester, die bereits als Kinder in eine "Naturehe"
eingebunden wurden, zölibatär leben? Warum dürfen sie nicht ehrlich zu der
Familie stehen, die sie ohnehin bereits haben?
Warum läßt man sie in aller Heimlichkeit als "Priester 2. Klasse" gelten?
Wie ist es mit den afrikanischen Traditionen und Kulturen? Warum weitgehend
die römische Liturgie und die scholastisch-abendländische Philosophie, die
hinderlich sind für eigene Gedanken und symbolische Ausdrucksweisen? Warum
keine eigene Theologie, die das Evangelium mit der eigenen gewachsenen
Philosophie und Ethik in Zusammenhang bringt? Heißt "Inkulturation" nicht
zugleich "Multikulturation", die auf die Dezentralisierung der Kirche
hinausläuft und doch die Grundlagen der biblischen Botschaft nicht verrät?
3. Kirchenpolitisches Erdbeben - kaum zu verkraften.
Fragen über Fragen stellten sich. Es herrschte ein Durcheinander in der
Meinungsvielfalt und Experimentierfreundlichkeit. Wo so viele engagiert
mitredeten, schien die herkömmliche Ordnung der Kirche in Turbulenzen zu
geraten, der "Glaube" erschüttert. Wohin würde die Reise gehen: in
Deutschland nach der Würzburger Synode, in Afrika mit seinen
multikulturellen Ambitionen, in Lateinamerika mit seiner
"Befreiungstheologie", in Asien mit seiner irrationalen Mystik?
Schon während des Konzils meldeten sich lautstark Gegenstimmen. Worauf lief
das alles hinaus: auf das Nicht-mehr-wichtig-nehmen großer Teile der
dogmatischen Lehre der Kirche? Auf das Infragestellen der kirchenrechtlichen
Verfassung, die über die Rolle des Klerus und abgrenzend der Laien
unantastbare Auskünfte erteilt? Auf die Neuinterpretation der Sakramente,
vor allem auch der Eucharistie als Feier der Gemeinschaft? Auf das
"allgemeine Priestertum"? Auf die "Protestantisierung" der
römisch-katholischen Kirche? Auf die Begrenzung der Macht- und Einflussfülle
des Papstes und der Bischöfe?
Man kann voller Ängste gegenüber solchen Entwicklungen sein. Und
unterschiedlichste Reaktionen und Interpretationen in die Welt setzen. Eine
Möglichkeit wird meistens gar nicht in Erwägung gezogen: Menschen könnten
heute eine Lebenseinstellung gewonnen haben, für die Vieles nicht mehr als
wichtig angesehen wird, ohne dass es aufhört, wahr zu sein. - Der
Unterschied zwischen "wahr" und "wichtig" könnte ein neuralgischer Punkt
heutiger Auseinandersetzungen sein. Das Konzil hat die gewaltige Spannung
zwischen Kirche und moderner Kultur zutage gefördert und zugelassen. Die
Spannung hält bis heute an. Man kann sogar froh darüber sein, wenn sie
anhält. Schlimm ist es, wenn immer weniger die Spannung aushalten. Die
bedrohliche Emigration aus der Kirche ist dann wohl kaum noch zu stoppen.
Es geht darum, die Krise nicht weiterhin zu ignorieren; sie durch
Kirchentage und Papstfestivals nicht zu übertünchen. Was an kaum zu
ertragenden Spannungen zu einem Massenphänomen geworden ist, fand in den
Dokumenten des Konzils schon ihren Niederschlag. In ihnen sind Zitate und
Passagen zu finden, auf die sich alle berufen können: Konservative und
Progressive, Traditionalisten und Fortschrittliche, Fundamentalisten und
Reformer... - eine Situation, die dazu geführt hat, dass manche
Verantwortliche das Konzil immer wieder in Erinnerung rufen, um es
gleichzeitig am liebsten in Vergessenheit geraten zu lassen. Natürlich wird
dies nicht ehrlich zugegeben; aber Maßnahmen der "Kirchenpolitik" und
Personalentscheidungen laufen seit Jahren eindeutig darauf hinaus. Bei
vielen Entscheidungen wird zudem peinlichst versucht zu verhindern, dass man
in die Nähe einer anderen biblisch orientierten Konfession abdriftet. Es
würde bedeuten, das "katholische Gesicht" (Josef Ratzinger) zu verlieren.
Bei allem Hin und Her, bei Argumenten und Gegenargumenten stelle ich als
Beobachter der Szene oft die Frage, ob nicht die Grundausrichtung des
Konzils und seines Initiators, Papst Johannes´ XXIII, schon sehr früh auf
eine bisher kaum wahrgenommene Weise verlassen worden ist? Das Konzil sollte
nach dem Willen des Papstes ein pastorales Konzil werden. Bald stellte sich
jedoch heraus, dass Dogmatiker und Kirchenrechtler das Heft in die Hand
bekamen. Sie bestimmten des Fortgang des Geschehens und "einigten" sich
schließlich auf Schriftstücke, die typisch sind für deren Art des Denkens:
klar und eindeutig, aber auch Widersprüche hervorrufend, kontrovers,
rechthaberisch auf allen Seiten, bei aller "Dialogbereitschaft" für
pastorales Arbeiten kontraproduktiv. Die "Früchte des Konzils" sind deshalb
nur spärlich gewachsen. Positionen und Gegenpositionen sind vorherrschend
geblieben; der fortgesetzte Niedergang der Kirche immer augenfälliger.
4. Das Ende des Glaubens an unfehlbare Lehrsätze und Autoritäten.
Indem das dogmatische und kirchenrechtliche Denken sehr wissenschaftlich,
objektiv und begrifflich eindeutig zu sein vorgeben, hat sich gezeigt, dass
es nicht geeignet und fähig war und ist, die Mehrheit des Volkes zu
erreichen. Das hat weitgehend zu ihrem "Unglauben" geführt. Die Kluft
zwischen "oben" und "unten" ist immer größer geworden; die Entfremdung von
kirchlicher Lehre und Indoktrination immer eindeutiger. "Kirche" erscheint
wie eine Expertokratie von Fachleuten, die sich in eine
Spezialistentheologie eingemauert haben. Alle Katechismus-Versuche, dem Volk
die Lehre und Anliegen "der Kirche" nahe zu bringen, können trotz
vielfältiger Anstrengungen als gescheitert angesehen werden.
Das Anliegen des Konzils war dagegen von einem pastoralen Anliegen her
bestimmt. Pastorales Denken - in der Kirche extrem vernachlässigt - hat eine
völlig veränderte Sichtweise und Ausrichtung. Es versucht nicht, kluge
Gescheitheit und Wissenschaftlichkeit der wenigen Fachleute in Sachen
"Glaube und Kirche" unter die Leute zu bringen, sondern es fragt direkt und
unmittelbar nach der Lebenssituation der Menschen selbst: ihren Zweifeln,
Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten. Es fragt nicht nur danach, sondern
versucht ihnen vor allem dadurch auf die Spur zu kommen, dass Menschen
ermutigt und entschlossen angeleitet werden, selbst zur Sprache zu bringen,
was an Fähigkeiten und Grenzen in ihnen steckt. Dabei werden
Sprachermächtigung und Gesprächsfähigkeit die Gebote der Stunde. Der
Grundgedanke dieser "Theologie" lautet: bevor "Kirche" anfängt, verkündend
tätig zu sein, hat Gott selbst längst seine Spuren im Menschen und in der
Welt hinterlassen (vgl.Apg 17, 22ff). Wer daran vorbeidoziert, sitzt
todsicher auf einem falschen Dampfer...
Das Anliegen kann also nicht zuerst darin bestehen weiterzugeben, was
"Experten" über Gott und die Welt zu wissen vorgeben, sondern den Menschen
in ihren jeweiligen Lebenslagen den Zugang zu dem "ganz Anderen" zu
eröffnen. "Der Zugang... nach oben ist verrannt", hat Goethe bereits
verkündet. Der pastorale Ansatz will deshalb säkularisierten Menschen den
Zugang neu eröffnen, ohne von vornherein zu "wissen", wie er zu finden ist..
Der Weg ist deshalb nicht "von oben nach unten", sondern "von unten nach
oben". Irgendwie müssten sich beide Richtungen adäquat ernst nehmen und zu
jenem "Dialog" fähig werden, der nicht aufs Dozieren hinausläuft, sondern
auf die Erhellung des Glaubens im Horizont menschlicher Fakten und
historischer Ereignisse.
In der unterschiedlichen Ausrichtung des Denkens liegt auch der eigentliche
Konflikt vieler Menschen mit der Kirche. Pastorales Denken ist nicht in
erster Linie auf (unverständliche) dogmatische Lehren bedacht, nicht auf
kirchenrechtliche Vorgaben. Es fragt zunächst - wenn es ernsthaft betrieben
wird - nach den Quellen, nach dem Ursprung des Christentums überhaupt,
nach der Person Jesu Christi. Damit verändert sich auch das
Glaubensverständnis. Der "dogmatische Glaube" tritt immer mehr als sekundär
in den Hintergrund; primär wird der Beziehungs-Glaube, der personale Glaube
an Jesus Christus und an das, was er heilsam und erlösend für die Welt
gesagt und getan hat.
Das, was er gesagt und getan hat, fand immer in einer konkreten Situation
statt, hatte immer einen unmittelbaren Anlaß, hatte stets einen Sitz im
Leben. Einen solchen Glauben können Menschen nicht nur verstehen; sie
vermögen auch eigene Lebenslagen mit denen Jesu in Verbindung zu bringen. So
können sie "Mitarbeiter Gottes" werden zum Heil und Segen für viele.
"Glaube" muß deshalb mitten im Leben gelernt werden, hat immer etwas mit
einer neuen Sichtweise zu tun, mit der Bewältigung des eigenen Lebens.
Letztlich geht es um das Gelingen des Lebens als Anfang für eine bessere
Welt. Der lebendige Mensch wird dabei glaubwürdig bei Gott und den Menschen.
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5. Wenn das Konzil konsequent weitergegangen wäre...
Man kann sich nach 40 Jahren zu Recht die Frage stellen, was geschehen wäre,
wenn das Konzil konsequent nicht nur verbal weitergegangen wäre? Die Synoden
in Würzburg, in Medellin und Puebla sowie in Afrika... haben einen Eindruck
darüber hinterlassen. Sie haben im Laufe der Zeit aber auch die Tabu-Themen,
die "im Namen Gottes" nicht erwünscht sind, deutlich hervortreten lassen.
Letztlich hat sich das dogmatische und kirchenrechtliche Denken wieder
durchgesetzt - in früheren Zeiten sehr bewährt, heute aber dabei, als
weltfremd und historisch-überholt angesehen zu werden.
Was also wäre geschehen? Zunächst wäre die Kirche nicht "protestantischer",
sondern biblischer geworden. Damit auch die Protestanten, von denen ja nicht
zu leugnen ist, dass sie sich schon zur Zeit Luthers auf theologische
Grabenkämpfe mit den Katholiken eingelassen haben und sich mit Fürsten
verbündeten. Das "sola scriptura" ist auf weiten Strecken durch trockene und
abstrakte Wissenschaftlichkeit abhanden gekommen. - Die Konsequenz hätte es
sein können und müssen, dass die kirchlichen Würdenträger und Fachleute aus
ihren Studierstuben, aus ihren Palais und von ihrem aufwendigen Lebensstil
Abschied nehmen - vor allem aber von ihrem theologischen Elfenbeinturm
hinuntersteigen, um "dem Volk aufs Maul zu schauen".
Ein klassisches Beispiel dafür ist das sog. Kirchenvolksbegehren, welches
vor 20 Jahren in einigen Ländern heraufbeschworen wurde und viele Christen
mobilisierte. Mein Appell an die Bischöfe und Priester damals war, auf die
Straße zu gehen und mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, auch keine harten
Dispute zu scheuen (was in einigen Ländern Afrikas und Lateinamerikas schon
lange selbstverständlich war). Es hätte zu einem aufschlussreichen,
lehrreichen und klärenden Prozess kommen können. Stattdessen: Abkapselung,
Verteufelung, Verurteilung, Ausgrenzung vor allem der "Hauptamtlichen", die
den Weg der Auseinandersetzung für richtig hielten. -
Pastorales Denken macht viel Lebenserfahrung notwendig und unabdingbar.
Dabei stellen sich die Fragen nach "Zölibat" und "klerikalem Werdegang" ganz
anders. Jene, die als "Priesteramtskandidaten" in einem Seminar die
herkömmliche Theologie studieren, erweisen sich dadurch nicht schon als
geeignet für Menschenkenntnis, -führung und Gemeindeleitung. Notwendig
gewordene Zusammenarbeit mit mündigen Laien scheitert nicht an fehlender
theologischer Information, sondern an Fähigkeiten, die normalerweise nur im
Leben entdeckt, gelernt und ausgebildet werden können.
Für das christliche Gemeindeleben der Zukunft sind lebenstüchtige, bewährte
Männer und Frauen nötig. Sie müssen Menschen des Vertrauens sein. In Afrika
und Lateinamerika haben solche Leute das Leben der Gemeinden jahrzehntelang
geprägt und getragen. Allerdings waren sie oft von dem "Makel" befallen,
verheiratet zu sein. Das z.T. erfolgreiche Bemühen von Papst Johannes Paul
II., solche Gemeinden wieder mit dem herkömmlichen Priestertypus zu
klerikalisieren, hat vielfach nicht zu einem verstärkten Gemeinde- und
Christenbewußtsein geführt. Solange die Worte kirchliche Angebote und
Versorgung eine vorrangige Rolle behalten - wenn nötig durch
Blaulichtpriester - wird sich daran wohl auch nichts ändern. Die
"Lösungen" sind für keine Seite befriedigend. Die Symptome einer krankhaften
Gesamtlage sind weltweit zu Schlagzeilen geworden: die erschreckende
Pädophilie bei vielen Priestern, Alkoholismus, psychische Zusammenbrüche,
illegale Eheverhältnisse, Polygamie in Afrika usw....
Die Weihe und Bevollmächtigung bewährter Männer und Frauen ist das Gebot der
Stunde. Diese müssen aus den Gemeinden selbst herauswachsen und für sie
bestimmt sein. Sie können auch "nebenberuflich" tätig sein. Die Gemeinde
selbst muß sie vergüten. - Als ich vor ca. 20 Jahren einem deutschen Bischof
das Angebot machte, in diesem Sinne "aktiv" zu werden und in einigen
Gemeinden das "Experiment" voranzutreiben, lautete seine Antwort: "Solche
Maßnahmen sind nur gesamtkirchlich möglich", d.h. sie müssen in allen
Ländern der Welt gleichzeitig und "von oben" genehmigt werden.
Bei solchen Ängsten und Vorbehalten gegenüber neuen Erfahrungen und
Schritten wird jede Lebendigkeit zunichte gemacht. Stattdessen müssten sich
die Verantwortlichen mal wieder die Theorie und Praxis des Paulus - nicht
nur für Sonntagsreden - zu Gemüte führen. Er machte damals den Christen in
Korinth deutlich, was der Geist Gottes an verschiedenen Gaben und
Fähigkeiten zu wirken vermag. Es ist nicht die Kirche, die den Menschen ihre
Gaben und Aufgaben zuweist, sondern der Geist Gottes (1Kor 12.4-31). Wenn
kirchliche Strukturen und Maßnahmen diesem Wirken hinderlich sind, dürfen
sich Verantwortliche nicht darüber wundern, dass kirchliches Leben immer
toter, geistloser und langweiliger wird. Kirchen ohne die Kraft vieler
Fähigkeiten werden, längst bevor sie mangels Geld und Gläubigenzahl
veräußert werden, zu Museen. Museen sind zwar sehr beliebt. In der Freizeit
werden sie von vielen besucht - zum Zeitvertreib, zur geistigen Anregung,
zum Kunstgenuß. Mehr aber auch nicht.
In einer Zeit der Beliebigkeit und der Massenangebote läuft die Kirche
Gefahr, ein Event- und Erlebnischristentum zu produzieren. Die
Anpassung an solchen "Zeitgeist" hat S. Kierkegaard schon
angeprangert: "Man hat das Christentum viel zu sehr zu einem Trost
umgearbeitet, vergessen, dass es eine Forderung ist" .- Und was heutige
Strukturmaßnahmen im Vergleich zu den Impulsen von vor 40 Jahren
betrifft, kommen mir immer wieder Verse in den Sinn, die ich als Junge
einmal lernen musste: "Die groß geschaut und groß gebaut/ die ruhen in den
Särgen/ An ihren Gräbern stehen wir/ wie ein Geschlecht von Zwergen".
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