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Ansichten eines Außenseiters (X):
Wenn das Prophetische abhanden kommt...
Oktober 2007
Wenn in einer Religion oder Kirche das Prophetische abhanden kommt, dann
verdunstet der Glaube, es lauert der geistige Tod und ein Volk verwildert.
Dagegen sind Propheten Menschen, die mit Wort und Tat zur Rettung der
Gemeinschaft, zur Rettung einer Situation entscheidend eingreifen. Auch zur
Rettung einer Religion. Oft werden sie "Eingeweihten" und "Etablierten"
lästig. Man versucht sie zum Schweigen zu bringen, statt den prophetischen
Ruf zu verstärken, unüberhörbar zu machen. Das wäre auch die Aufgabe einer
Religion, statt sich auf wohlformulierte "Wahrheiten" zu verlassen.
Mit solchen Gedanken beschäftigt sich mein Festvortrag, den ich am 13. Okt.
2007 in Münster gehalten habe. Anlass war das 10-jährige Jubiläum SOLWODI
NRW. Das Thema lautete: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Meine sehr verehrten Damen und Herren.
Heute feiern wir ein Jubiläum: 10 Jahre SOLWODI Nordrhein-Westfalen. Zu
einem Jubiläum müsste ich eigentlich als erstes Blumen überreichen, statt
Worte zu machen. Was müssten das für Blumen sein? Rosen ohne Dornen? Rosen
mit Dornen? Blumen in einer Vase verblühen sehr schnell. Ich schlage also
vor: Wir lassen sie im Garten weiter wachsen und blühen. Statt sie zu
pflücken, möchte ich die Blumen stehen lassen und ein wenig Rückschau halten
auf das, was da in 10 oder 20 Jahren gewachsen ist. Wenn wir uns darauf
einlassen, das dankbar zu sehen, was da ist, dann ist damit zugleich der
Geburtstagswunsch verbunden, dass auch in den nächsten 10 und 20 Jahren der
Tatendrang von SOLWODI nicht nachlassen möge.
Was ist seit 10 oder 20 Jahren passiert? Ein gesellschaftliches und
menschliches Problem von internationalen Ausmaßen wurde aus der Dunkelheit
des Vergessens oder geflissentlichen Wegschauens buchstäblich an die
Öffentlichkeit gezerrt. Es wurde erkannt, aufgegriffen, öffentlich gemacht,
dass Menschenhandel und Kindersklaverei dabei sind bedrohliche Ausmaße
anzunehmen. Dass Verbrechen an Menschen begangen werden, die den Händlern
und Nutznießern jährlich Milliarden Gewinne einbringen. Also ein neuer
Wirtschaftszweig! Welche Unwissenheit und Unkenntnis gäbe es heute immer
noch, hätte es nicht die SOLWODI-Leute gegeben, die dies rechtzeitig
erkannten und öffentlich anprangerten. So haben Journalistinnen und
Journalisten, Politiker und Diplomaten, Kirchenleute auf kurz oder lang
keine Chance mehr, einfach wegzuschauen und sich diplomatisch geschickt auf
Sonntagsreden zu beschränken.
SOLWODI schafft ein Gegengewicht zu Verbrechen, die man im 20. und 21.
Jahrhundert kaum für möglich gehalten hätte, zumal sie meistens im
Untergrund, im Verborgenen begangen werden. Es lebt in der Hoffnung, dass
immer mehr Gutgesonnene und Gutgewillte dieses Gegengewicht verstärken.
Viele tun es bereits. Sie rekrutieren sich aus allen Schichten: Junge und
Alte, Katholiken und Protestanten, Betriebsmanager und Atheisten. Es melden
sich Hunderte, Tausende und hoffentlich immer mehr Menschen "guten Willens",
die im Blick auf viel Unrecht eine Aufgabe und persönliche Verantwortung
erkennen. Weltanschauung und Religion spielen keine Rolle. Hautsache, es
geschieht etwas zum Wohle von Armen und Entrechteten, zu mehr Gerechtigkeit
und Frieden in der Welt.
Eine Bemerkung nebenbei: Vielleicht ist auf diese Weise ein neues
Verständnis von "Ökumene" im Entstehen. "Ökumene" wird nicht dadurch
erreicht, dass jahrelang auf hohem Niveau an theologischen Konsenspapieren
gebastelt wird, die anschließend niemand liest. "Ökumene" ist vielmehr der
Zusammenschluss von Christen und Nichtchristen, die gemeinsam am Frieden in
der Welt arbeiten; die sich zu mehr Gerechtigkeit, Toleranz und Gleichheit
aller Menschen bekennen. Und die in dieser Richtung gemeinsam etwas tun!
Bei allem, was heute von verschiedensten Menschen und Weltanschauungsgruppen
an Gutem getan und unterstützt wird, möchte ich dennoch nicht versäumen zu
betonen, dass die Hauptinitiatorinnen bei SOLWODI von Anfang an bis heute
katholische bzw. christlich orientierte Schwestern gewesen sind. Das hat
nichts mit Selbstbespiegelung oder Bauchnabelschau zu tun. Es hängt mit
einer fundamentalen Wende des christlichen Selbstverständnisses in der Welt
von heute zusammen. Herkömmlich wurde viel über die Welt nachgedacht. Man
sprach von der christlichen Interpretation der Welt. Die Fragen stellten
sich: Was ist wahr? Was ist richtig? Die verschiedenen Religionen und
Konfessionen haben sich den Rang bei der Beantwortung der Frage nach der
Wahrheit abgelaufen, manchmal miteinander, oft gegeneinander, sich in
heftige Streitgespräche und Auseinandersetzungen verlierend. Karl Marx und
andere haben die Schwachstellen solchen Philosophierens und Theologisierens
beim Namen genannt: "Es geht nicht darum, die Welt zu interpretieren,
sondern sie zu verändern."
Damit sind wir beim Thema meines Vortrages angelangt. Erich Kästner nennt es
so: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Allerdings waren und sind die
Hauptmotoren des SOLWODI-Engagements weder Karl Marx noch Erich Kästner.
Vielmehr geht die Wende des christlichen Selbstverständnisses von Evangelium
aus. Darum sind die Fragen von nicht besonders großer Bedeutung: Was ist
wahr? Was ist objektiv richtig? Sondern die Fragen: Was ist wichtig? Was ist
hier und jetzt in dieser konkreten Situation, gegenüber diesem oder jenem
mir begegnenden Menschen wichtig? Wo erleben wir, dass die Liebe verletzt,
die Würde einer Frau oder eines Kindes mit Füßen getreten wird? Wer sind die
Verbrecher oder die psychisch Kranken einer krankmachenden Gesellschaft,
denen es nicht mehr um Recht und Menschenwürde geht, sondern um Geld, Macht
und Herrschaftsansprüche über andere? Solche Fragen stellen sich im Umfeld
einer gutsituierten bürgerlichen Gesellschaft, in der für die meisten das
Wegschauen angemessener erscheint, als das Sich-Einmischen und Anpacken.
In dieser Situation ist SOLWODI so etwas wie eine prophetische Stimme
geworden, die den Finger auf die Wunden der Gegenwart legt. In allen Zeiten
hat es solche Stimmen gegeben. Denken Sie an Mutter Theresa, Helder Camara,
Martin Luther King, Adalbert Schweitzer und viele andere. Sie alle können
sich mit Recht in eine große jüdisch-christliche Geschichte einordnen.
Denken Sie daran, dass das Auftreten der Propheten immer schon eine
unverzichtbare Rolle gespielt hat. Die Propheten des Alten Testamentes
wurden Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung bereits die großen
Mahner und Erzieher zur Treue im Glauben an Jahwe und seine Anweisungen.
Ihnen ging es nicht nur um den Glauben an den einen Jahwe, nicht einfach um
gläubige Festlichkeiten. Der Prophet Micha z.B. (740-700 v. Ch.) klagt mit
Schärfe und Beharrlichkeit die Achtung der Menschenwürde und das Einhalten
der Menschenrechte ein. Sie sind für ihn Grundlage und Maßstab der Verehrung
Gottes. Er besteht auf der Rechtsordnung Gottes und beklagt das Versagen der
politischen Amtsträger, die nur die Interessen des Staates und der Reichen
im Blickfeld haben. Ein messianischer Neuanfang wird gefordert; ebenso eine
neue ethische Ernsthaftigkeit des Anspruchs, "auserwähltes Volk Gottes" zu
sein. Denn "es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist" (Micha 6.8). – Micha
kämpft:
- Gegen die habgierigen Reichen (Kap. 2.1-5)
- Gegen die Führer, die das Volk unterdrücken (Kap. 3.1-4)
- Gegen die käuflichen Propheten (Kap.3.5-8)
An die Verantwortlichen und Treulosen richtet er die Ankündigung von
Zions Untergang (Kap.3.9-12) und droht mit dem Gericht über Samaria
(Kap.1.1-7).
Andererseits gibt es auch die Verheißung der zukünftigen Herrschaft Jahwes
auf dem Zion (Kap.4.1-8).
Wie Micha, so sprechen auch die anderen Propheten Israels in eine singuläre
und konkrete Situation hinein. Eindeutige Adressaten sind angesprochen und
gemeint. In ihrer jeweiligen geschichtlichen Konstellation treten sie auf
und – ihre Berufung als von Gott autorisiert verstehend – mahnen sie,
richten sie, verheißen sie Unheil und Strafgericht, lassen zugleich hoffen
auf Segen und Heilszusagen. Sie schärfen die Weisungen Gottes ein; sie sind
"sowohl Gegenwartskritiker als auch Zukunftsansager" (E. Zenger).
Der Prophet Jesaja (8.Jh. v. Chr.) greift die großen Themen des biblischen
Glaubens auf. Sie heißen Recht und Gerechtigkeit in Israel und unter den
Völkern. Denn der "Heilige Israels" ist derjenige, der rettet und Frevler
verwirft; der sich als Erlöser erweist und dabei auf das Anbrechen der
Herrschaft Gottes verweist … – Er spricht:
- Vom Gericht Jahwes: "Seht her! Der Herr verheert und verwüstet die
Erde; er verändert ihr Gesicht und zerstreut ihre Bewohner" (Kap.24.1-6)
- Vom "Lied über die zerstörte Stadt" und "die letzten Kämpfe" (Kap.
24.7-23)
- Vom "Vorübergang des Herrn": "Der Herr verlässt den Ort, wo er ist, um
die Erdenbewohner für ihre Schuld zu bestrafen" (Kap. 26.20-21).
Andererseits wird es eine Befreiung von allen Übeln geben: "Tröstet,
tröstet mein Volk, spricht euer Gott… Verkündet der Stadt, dass ihr
Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist" (Kap.40.1-31).
Was das um sein persönliches Schicksal ringenden Menschen betrifft, bleibt
das Buch Job (600-400 v. Chr.) beispielhaft. Job ist Dulder und Rebell,
Lästerer und Zweifler, Skeptiker und Provokateur zugleich. Er ist hin- und
hergerissen zwischen Protest, Aufbäumen, Widerstand und Ergebung, Annahme
und Vertrauen. Seine Frage nach dem Sinn des Leidens, besonders
Unschuldiger, gipfelt in dem Bekenntnis: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt"
(19.25). Die Hoffnung auf den Erlöser bleibt der tragende Grund für seine
Standfestigkeit im Glauben.
Jesus gehört in die Reihe der großen Propheten. Authentisch, als Messias und
Sohn Gottes, hat er menschennah und situationsgerecht deutlich gemacht, wie
Gott an den Menschen und an der Welt handelt; wie der Friede Gottes und die
"größere Gerechtigkeit" schon im Hier und Heute des Lebens ihren
glaubwürdigen Anfang nehmen können. Seine Botschaft lautet: Liebe, sogar
Feindesliebe, Barmherzigkeit den Armen und Bedürftigen gegenüber,
Hilfsbereitschaft und Verzeihen, Güte und Menschenfreundlichkeit.
Es gibt bis auf den heutigen Tag Dogmatiker und Kirchenrechtler in höchsten
kirchlichen Ämtern, die solche von den Propheten verkündeten und
praktizierten Werte als bloßen "Humanismus" und "Horizontalismus"
bezeichnen. Sie verweisen auf etwas "Höheres": auf das Leben nach dem Tod.
Den Propheten dagegen war und ist es eigen, auf das Leben vor dem Tod zu
verweisen, so als wollten sie sagen: Es gibt kein Leben nach dem Tod, wenn
das Leben vor dem Tod nicht sinnvoll und gottgemäß gestaltet wurde. Ihnen
geht es darum, die einmal durch den Sündenfall verkorkste Schöpfung, die
durch den Brudermord von Kain und Abel niedergetretene Menschenwürde zu
reparieren. Das Geschundene aufzurichten, das Niedrige zu erhöhen, das
Kranke zu heilen, das Einsame zu erlösen und alles Nackte zu bekleiden,
haben prophetische Figuren der Geschichte immer wieder mit Vehemenz als
Aufgabe erkannt.
Dies müssten auch die Aufgaben einer Religion sein, wenn sie mit Recht das
Prophetische für sich in Anspruch zu nehmen geneigt ist. Statt ein
geistreiches, selbstsicheres Lehr- und Wahrheitssystem zu etablieren und
Menschen dabei ins Schlepptau zu nehmen, müsste sie Antwort geben auf
Mängel. Ihr wäre es aufgegeben, das Entsetzen über den Zustand der Welt und
das unrechtmäßige Verhalten von Menschen laut kundzutun. Möge es SOLWODI
gelingen, Christen und Konfessionen verständlich zu machen, was es konkret
heißt: prophetisch zu sein.
In unseren heutigen Gesellschaften des "alles ist machbar" gibt es
Bestrebungen genug, die den Anspruch erheben, den ursprünglich
paradiesischen Zustand der Welt wieder herzustellen. Es werden paradiesische
Oasen geschaffen und paradiesische Strände zur Erholung gesucht. In
Broschüren und Medien werden Utopien und Illusionen wie Leuchttürme
aufgestellt, die die Hoffnung auf eine heile und endgültig erlöste Welt
verstärken. "So renn` ich von Begierde zu Genuss. Und im Genuss verschmacht
ich nach Begierde" schreibt Goethe. Mit anderen Worten: In der Hast und Eile
auf dem Weg zu immer mehr Wohlstand, Glück und paradiesischen Verhältnissen
werden Menschen unersättlich. Irgendwann sind sie nicht mehr zufrieden zu
stellen.
Der prophetische Mensch, der sich um Entrechtete, um heillos Geschundene
kümmert, weiß: den ursprünglichen Zustand der Welt wieder herzustellen, das
gelingt ihm nicht. Dafür gibt es viel zu viele Stolpersteine, von Menschen
und ihren Unzulänglichkeiten gelegt, um stets zu befriedigenden Ergebnissen
zu kommen. Das macht auch die Arbeit bei SOLWODI zu einer Steinbrucharbeit.
Oft aber auch wird die Erfahrung gemacht, dass Frauen und Kinder in Not ihre
Chance als ihre eigene begreifen: nämlich zu einer neuen, nie gekannten
Würde zu finden, eine Lebensaufgabe für sich zu erkennen und hoffnungsvollen
Mutes für sich und andere da zu sein.
Hier liegt auch die zentrale Aufgabe der Beratungstätigkeit von SOLWODI. Die
hier arbeiten, haben es oft mit Menschen zu tun, die Traumatisches erlebt
haben. Der rumänische Schriftsteller Emil Michel Cioran hat sich sein Leben
lang mit Leid- und Todeserfahrungen beschäftigt. Er war sich der Tatsache
bewusst, dass Menschen in Krisenzeiten zerbrechen können. Seelische
Verletzungen, psychische Traumatisierungen, innere Zusammenbrüche,
Depressionen, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum und Suizidversuche sind die
verhängnisvollen Erscheinungsformen von nicht bewältigten
Lebenskatastrophen. Sigismund Freud hat deshalb von der Notwendigkeit einer
Trauerarbeit gesprochen. Cioran hat in seinen Schriften und Romanen immer
wieder geschildert, wie Menschen bei der Aufarbeitung ihrer traumatischen
Erlebnisse auch "zu einem Wissen gelangen können, das man nirgendwo sonst
erlernen kann". Denn Krisen fordern heraus, zwingen zu Veränderungen. Neue
Weichenstellungen werden nötig. Manchmal gelingt der Aufbruch zu neuen Ufern
und Lebenseinstellungen.
Von dem Religionsphilosophen Romano Guardini stammt das Wort "Die Annahme
seiner selbst… ist die vielleicht größte Herausforderung des Lebens." Das
gilt schon für "normale" Lebensbiographien. Wie viel mehr für Menschen,
denen es im Leben von Anfang an dreckig ging. Wenn ich mir die
Beratungstätigkeit der SOLWODI-Leute vor Augen führe, denke ich manchmal:
sie sind die Hebammen, die Geburtshelferinnen zu einem neuen Leben.
Wenn eine solche "Geburtshilfe" vielleicht auch nur bei Wenigen gelingt –
gemessen an der großen Zahl der Bedürftigen - , so ist sie doch exemplarisch
und vorbildlich in einer Welt, die mehr zum Reden als zum Handeln neigt.
Wenn ich am Anfang von Blumen gesprochen habe, die ich Ihnen eigentlich
überreichen müsste, so möchte ich Ihnen zum Schluss für die nächsten 10
Jahre Rosen wünschen. Allerdings werden es bei Ihrer Arbeit immer Rosen mit
Dornen sein. Reiben Sie sich nicht all zu sehr an den Dornen wund, sondern
riechen Sie immer wieder den Duft der Freude, der von Menschen ausgeht,
denen Sie geholfen haben. Und solidarisieren Sie sich mit der alten
Menschheitserfahrung: Wer anderen hilft, ist sich selbst der Nächste; wer
anderen zum Leben verhilft, macht selbst die Erfahrung eines reicheren
Lebens. Bei allem Auf und Ab ist uns allen die Aufgabe gestellt, ein Leben
lang zu lernen, was Leben heißt. Wahrscheinlich können wir es am besten bei
denen lernen, die vom Tod zum Leben gekommen sind; denen wir selbst zum
Leben verholfen haben.
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