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Ansichten eines Außenseiters (II):
Weihnachten. Was der Welt zum Frieden dient.
Dezember 2005
1. Die Frage nach Gott, die im Dunkeln liegt.
Es gibt Kirchenleute, die behaupten, man müsse wieder vermehrt über Gott
reden. Sonst werde die Welt auf eine bedrohliche Weise immer mehr
religiös-gleichgültig und "atheistisch". Wenn Letzteres auch stimmt, ist es
dennoch sehr zweifelhaft, ob das Mehrreden über Gott den Trend zum Säkularen
aufzuhalten vermag. Man kann im Gegenteil behaupten, dass in der
Vergangenheit und Gegenwart sehr viel, vielleicht sogar zu viel über Gott
geredet wurde und wird - sehr viel Widersprüchliches, einfach Vermutetes und
Liebgewordenes, Gewünschtes und phantasievoll Herbeigeredetes. In
Wirklichkeit ist die Frage nach Gott nie entgültig beantwortet worden. Weil
sie keine befriedigende Antwort zuließ, ist sie nie zur Ruhe gekommen, ist
in der Geschichte der Menschheit immer wieder aufgebrochen.
Aus mancherlei Gründen stoßen sich viele Zeitgenossen heute an dem Wort
"Gott". Martin Buber nennt es "das beladenste aller Menschenworte.
Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden". Viele würden, so meint er, das
Wort "Gott" verpönen, "weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug derer
auflehnen, die sich gern auf die Ermächtigung durch ‚Gott’ berufen". Zu
viele hätten den Namen Gottes gebraucht, um ihn für kommerzielle,
militärische, kirchliche bzw. konfessionspolitische Zwecke zu
missbrauchen...
Solche und ähnliche Erfahrungen haben zum sog. "Atheismus" beigetragen. Bei
näherem Zusehen stellt sich jedoch heraus, dass viele angebliche und
erklärte "Atheisten" Gott nicht unbedingt ablehnen, wohl aber Karikaturen
von Gott, Gottesbilder und Gottesvorstellungen. Denn in ihnen vermag kein
einigermaßen Gebildeter weder Gott zu erahnen noch sich selbst
wiederzuerkennen. Weil sich bei aller Ablehnung die Frage nach Gott und
"Transzendenz" doch immer wieder stellt, suchen viele nach einem anderen
Namen. Sie sprechen nicht von "Gott", sondern von der Gottheit, von
überirdischen Wesen, von einer kosmischen Kraft, vom
geheimnisvoll wirkenden dynamischen Lebens- und Evolutionsprinzip,
vom absoluten Nichts, von Nirvana und Leere, vom Urgrund
und Urziel aller Wirklichkeit.
Auch im biblischen Denken wird die Frage nach Gott nicht entscheidend
erhellt. Im AT ist es streng verboten, sich ein Bild und eine Vorstellung
von Gott zu machen. Wenn Jesus vom "Vater im Himmel" spricht, so nimmt er
diesen Namen aus der menschlichen Erfahrungswelt. Dadurch wird er aber auch
mehrdeutig und belastet. Denn das Gott-Vater-Verhältnis wird weitgehend von
dem eigenen Vater bestimmt, den ein Mensch erlebt hat. Manche haben gar
keinen Vater; andere verbinden mit ihrem Vater positive Erinnerungen der
Treue, Zuverlässigkeit, der natürlichen Autorität... Andere negative
Erfahrungen des Zornes, der Gewaltbereitschaft, der Launenhaftigkeit, der
Ungerechtigkeit, der Unberechenbarkeit... Viele wollen von ihrem Vater
nichts wissen.
In einer "vaterlosen Gesellschaft" (Mitscherlich) wird auch Gott als "Vater"
belanglos, nicht beachtenswert. Je mehr man von ihm spricht, desto schneller
wachsen in vielen Ländern der Welt "gottfreie Zonen". Bei großer
Wortgewandtheit werden Kirchen und Gottesvertreter sprach- und wirkungslos.
Wo uneingestandene und frustrierende Erfahrungen gemacht werden, da wächst
bei Religionsvertretern die Versuchung, die stets ernst zu nehmende Frage
von Menschen nach Gott mit religiösen Mega-Happenings zu beantworten.
Während das Alltägliche des Lebens dabei ausgeblendet wird - was bei
Jugendlichen besonders gut ankommt - , tragen sie dazu bei, dass Gott in der
Welt "unerkannt spazieren geht" (A. Einstein).
Religiöse Mega-Happenings, die Präsentation des Christentums als ein
Erlebnis- und Sternstunden-Christentum machen es unmöglich, dass die
Gottesfinsternis überwunden wird. Diese könnte sogar als Chance
erkannt werden, wenn man es fertig brächte, den Mund theologisch nicht zu
voll zu nehmen und stattdessen zu Paulus zurückzukehren. Dieser
spricht von nur "rätselhaften Umrissen", in denen Gott erkannt werden kann:
"Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann
aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen,
dann aber werde ich vollkommen erkennen" (1 Kor 13.12). - Im Evangelium wird
von einem "König der Könige" gesprochen, von einem "Herrn der Herren, der
allein die Unsterblichkeit besitzt, der in unzugänglichem Licht wohnt, den
kein Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag" (1 Tim 6.15-16).
2. Menschlich über Gott denken und reden.
Erst durch Weihnachten ist Licht in die Frage nach Gott gekommen. Da ist ein
Kind geboren. Gott wir Mensch - sagt der Glaube der Christen. Im Menschsein
Gottes wird deutlich gemacht, wer Gott ist und wie er handelt. In der
Gestalt eines hilflosen und hilfsbedürftigen Kindes wird den Menschen ein
Spiegel vorgehalten, ihre "Gottesbilder" korrigiert. Im allgemeinen stellen
sie sich Gott vor in Bildern eigener Ambitionen: groß, gewaltig, mächtig, in
Königsgewändern auftretend und in einem Palast wohnend...
Menschengemachte Ambitionen erleben an Weihnachten keine Bestätigung.
. Menschen lassen sich im allgemeinen von ehrgeizigen Plänen leiten. Durch
Macht- und Obrigkeitsgelüste machen sie sich einen Namen. Der ehrgeizige
Wille herrscht, andere zu bevormunden und zu beherrschen. Durch Geld und
äußeres Auftreten wollen sie groß und bedeutend erscheinen und Ansehen
genießen... So anspornend solche und viele ähnliche Ambitionen für den
Einzelnen sein mögen - wenn es viele gibt, die so denken und handeln, dient
das Zusammenleben nicht dem Frieden und dem Wohlsein untereinander und
miteinander. Menschliche Triebkräfte einer Ellenbogengesellschaft können
sich leicht auf ganze Völker übertragen. Kanonendonner und Kriegsgetümmel
sind dann nur noch eine Frage der Zeit. Sie feiern blutige,
völkermörderische Triumphe...
Es gibt viel Menschengemachtes, welches nicht dem Frieden dient. Die
Geschichte der Menschheit ist voll von Grausamkeiten, gegenseitigen
Zerwürfnissen und gemeinen Unterwerfungen. Sie können sogar mit dem Anspruch
der "Ausbreitung der Wahrheit" auftreten, die "Ausrottung" widergöttlicher
Kräfte zum Ziel haben, die Bekehrung von Heiden und Andersgläubigen. Denn
letztere weiß man "in Finsternis und Todesschatten", während die anderen im
Licht zu wohnen vorgeben. Sie behaupten, die Wahrheit (schwarz auf weiß) zu
besitzen und agieren aus der blinden Selbstverpflichtung heraus, den Weizen
vom Unkraut trennen zu müssen. -
Weihnachten geht einen konträren Weg: "Wenn Ihr nicht werdet wie die
Kinder..."(Mt 18.3). - Dem Kind sind die Machenschaften noch fremd, die
offensichtlich erst im Laufe des Erwachsenenwerdens tragend und
ausschlaggebend werden. Dem Kind Jesus von Nazaret ist Vieles in der Welt
(bewusst) fremd geblieben. Es hat sich mit den Mächtigen der Gesellschaft
und der jüdischen Religion nie solidarisiert. Sein Leben fing schlicht und
einfach an. Jesus hat nie eine Schule besucht. Im Laufe seiner Entwicklung
hat er einfach an den Tätigkeiten seiner Eltern und Nachbarn teilgenommen.
Er hat mittun dürfen bei dem, was sie getan haben. Er hat an den Festen und
Zeremonien der Gemeinschaft teilgenommen, an den Gottesdiensten in der
Synagoge, an der Auslegung der heiligen Schriften... Im Maße des Möglichen
wurde schon in jungen Jahren Verantwortung übernommen: im Haus, bei der
Berufarbeit des Vaters, in der Öffentlichkeit...
Im klugen Sprachgebrauch von heute müsste man sagen: wer so aufwächst,
leidet unter einem erschreckenden Theoriedefizit. Mit den Erwachsenen
zusammen hat er einfach Lebenssituationen erlebt und zu bestehen
gelernt. So machte er es auch mit seinen Jüngern. Er versammelte sie für
kurze Zeit um sich. In seinen Reden und Gleichnissen erzählte und erklärte
er ihnen, worum es ihm ging: um das Werden und Wachsen des Reiches Gottes in
der Welt - was gleichbedeutend ist mit der Art und Weise, wie Menschen
miteinander umzugehen und miteinander zu leben lernen. Durch Taten der Liebe
und einer "größeren Gerechtigkeit" sollten sie "Sauerteig" für das Kommende
werden, Licht der Welt und "Salz der Erde". Die Botschaft vom "Frieden in
der Welt" war keine Luftblase. Sie richtete sich existentiell und
folgenschwer an Menschen guten Willens...
Mit solch elementaren Einsichten ausgerüstet, schickte Jesus seine Jünger in
Ernstsituationen hinein - in die Dörfer und Städte. Sie nehmen keinen
Wanderstab mit, keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld, kein zweites
Hemd, keine sicheren Erkenntnisse, kein fundiertes Wissen, keinen
Bildungsdünkel...(Lk 9.1ff).- Man könnte die Art und Weise, wie Jesus selbst
gelernt hat und andere lehrte, ein handlungsorientiertes Lernen
nennen. Das jeweils Gelernte und Erfahrene wird gleich in die Praxis
umgesetzt. Sie sollen tun, was auch Gott tut: zu den Menschen reden und sie
heilen. Sie sollen "Nägel mit Köpfen" machen, "dübeln statt grübeln". Ohne
den Ballast vieler theoretischer Kenntnisse sollen sie durch rechtzeitiges
Mittun, durch Handeln, durch das Übernehmen von Verantwortung intensiv
selbst lernen und andere daran teilhaben lassen. Sie praktizieren
ganzheitliches Lernen, Handlungsorientierung und betreiben eine
Erziehung zur Selbstständigkeit.
So gehen sie in die Dörfer und Städte. Der Evangelist Lukas erzählt
ausdrücklich und mit großem Interesse, dass die Jünger zu Jesus
zurückkehrten und über ihre "Erfolge" berichteten: "sogar die Dämonen
gehorchen uns" (Lk 10.17). Zur Pädagogik Jesu und der dazu gehörenden
Erfolgskontrolle war auch entscheidend, dass Jesus nie Einzelne
aussendet, sondern immer zwei oder drei. Darin klingt an, was für den
Fortgang des Reiches Gottes von Bedeutung ist und bleibt: "Wo zwei oder drei
in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter euch" (Mt 18.20).
Man könnte diesen Satz Jesu auch anders übersetzen: "Wo zwei oder drei im
Austausch miteinander sind, in einem Geist der Liebe und gegenseitigen
Akzeptanz handeln, da ist Gott selbst gegenwärtig: beobachtend, anregend,
helfend, korrigierend". -
3. Weihnachten könnte der sterbenden Kirche neue Impulse geben.
Wenn das kleine theologische Ein-mal-eins, wie Jesus das Reich Gottes
verkündete, wirklich ernst genommen würde, könnte Weihnachten der Kirche und
den Kirchen zu neuen Impulsen verhelfen. Auch Nicht-Experten würden wieder
eine Chance haben. Die Kirchen müssten bereit und fähig werden, sich von
ihren kirchenpolitischen Ambitionen und theologischen Korsetts zu befreien.
Denn durch die Akademisierung und Juridisierung des Glaubens ist
alles sehr kompliziert geworden: zwischen "oben" und "unten", Klerikern und
Laien, Berufenen und weniger Auserwählten, Gebildeten und Ungebildeten,
Geweihten und einfachen Gläubigen, Katholiken und Protestanten..."Wie wäre
es", wurde jüngst in der Katholischen Akademie in Bayern gefragt, "wenn nun
die Menschen sich aufmachten und die Sprache ihres entbehrten Glaubens
wieder entdeckten, sie neu füllten mit dem Glanz und der Würde ‚edler
Einfachheit’"?
Tatsächlich hat auch Jesus in seiner Zeit theologische Schallmauern
durchbrochen und juridische Kerkersituationen überwunden - um der "edlen
Einfachheit des Reiches Gottes willen". Mit ihm und den frühen Gemeinden
fing alles sehr einfach an. Da war eine Person, die durch ihr Denken und
Verhalten in konkreten Lebenssituationen vorexerzierte, wie Gott sich den
Menschen von Anfang an gedacht hat, und wie Gläubige schon jetzt das Reich
Gottes vorwegzunehmen vermögen - wenn auch noch so fragmentarisch und
unvollkommen. Die humanen Lebenswerte, die Jesus verkündete und
lebte, waren kein bloßer Humanismus oder weltimmanenter
Horizontalismus, sondern sie standen in einem großen
heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Vorhaben Gottes mit der Welt. Sie
waren nicht konfessionell gebunden, noch nicht einmal liturgisch-religiös.
Bei der Proklamation des Reiches Gottes ging es letztlich um die
Heimholung der ganzen Schöpfung in ein neues, von Gott gewolltes
Erlösungsgeschehen. Wo es um die Sache Gottes mit der Menschheit ging, da
galten nicht mehr herkömmliche Schranken zwischen Juden und Griechen,
Sklaven und Freien, Mann und Frau...(Gal 3.28).-
Ob die sterbenden Kirchen wieder den Weg der "edlen Einfachheit" zu gehen
fähig werden? Viele Zweifel sind angebracht. Kirchliche Ansprüche sind sehr
kompliziert geworden. Dennoch ist die Stunde gekommen zu begreifen: entweder
wird die Kirche wieder "jesuanisch" sein, um dadurch ihre
Existenzberechtigung zu beweisen, oder sie wird nicht mehr sein. Es gibt
heute schon allzu viele, die ihrem Sterben nicht nachtrauern. Die Zeit ist
längst angebrochen, in der sogar gläubige Nicht-Experten die Diagnose und
den Streit der professionellen Experten in Sachen Theologie und Glaube nur
noch mit Amüsement zur Kenntnis nehmen oder mit Desinteresse quittieren.
Theologische und konfessionell beladene Deutungsstreitigkeiten entwickeln
keine vitalisierenden Kräfte mehr. Weihnachten mit der Bereitschaft der
"kleinen Leute" könnte zu neuen Impulsen verhelfen...
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