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Ansichten eines Außenseiters (III). Das zweifache Gesicht des
Christentums.
Januar 2006
1. "Dialogkultur" im Jahr 2006.
Wenn ich gefragt würde, welchem Wort des Jahres ich für 2006 den Vorzug
geben würde, hieße es: Dialogkultur. Es muß nicht wiederum
"Bundeskanzlerin" heißen. Als im Dezember 2005 der römische Kurienkardinal
Walter Kasper, zuständig für die "Ökumene", Deutschland bereiste, hat er von
der "neuen Dialogkultur" gesprochen, die in Rom mit dem Deutschen
Josef Ratzinger etabliert worden sei. Ausgerechnet mit Josef Ratzinger, der
bisher nicht gerade in dem Ruf stand, bei seiner harten kirchenpolitischen
Linie dialogfreudig zu sein. Von dem neuen Zustand zeuge schließlich sein
Gespräch mit seinem alten Freund aus Tübingen, dem Kirchenkritiker Hans Küng.
Neue Dialogkultur? Wenn es wirklich so gesagt wurde, wie es die Medien
berichtet haben, so ist das Neue daran eigentlich nicht neu. Dem Vorgänger
von Ratzinger hat man auch nie die Dialogfreudigkeit abgesprochen. Das Wort
Dialog ist zudem heute in aller Munde. In der Politik geht nichts mehr ohne
"Dialog". Kein Fußballverein kann erfolgreich sein ohne eine gemeinsame
Übereinkunft und dialogische Verständigung zwischen Spielern und Trainer.
Keine Schulunterrichtsstunde ist heute nur eine einzige Einbahnstraße vom
Lehrer zu den Schülern. Das Gespräch, die gemeinsame Klärung von Fragen und
Handlungsmodellen ist das A und das O aller Lebensbereiche geworden.
Was ist also neu? Im kirchlichen Geschehen ist nicht Benedikt XVI. der
erste, der den Dialog postuliert und praktiziert. Mindestens seit dem
Zweiten Vatikanischen Konzil haben seine Vorgänger den Kontakt und das
Gespräch mit anderen Religionen und Weltanschauungen gesucht und durch
Reisen untermauert. Viel neues Verständnis füreinander, viele
freundschaftliche Beziehungen sind entstanden. Es wurden große Schritte
gewagt, um mehr Versöhnung und Friedensbereitschaft zu erzwingen.
2. "Dialog" - doch die Hecken und Zäune bleiben.
Dennoch wächst im Maße des Voranschreitens in der Dialogkultur der Eindruck,
dass Fremdheiten und Animositäten nicht geringer geworden sind. Je mehr der
vertraute Umgang miteinander wächst, desto mehr wird das Trennende und
Befremdliche sichtbar. Man könnte auch vom Willen zur Selbstbehauptung und
zur Wahrung der jeweils eigenen "Identität" sprechen. In der Ökumene ist zur
Zeit viel vom "Stillstand" die Rede, vom "Treten auf der Stelle".
Wenn man sich die Geschichte des religiösen "Dialogs" vor und nach dem
Konzil näher anschaut, kommt einem das Bild von den vielen Schrebergärten
in den Sinn. Diese sind im Laufe der Jahrhunderte entstanden: jeder
Schrebergarten, umgeben von religiösen und theologischen Hecken und Zäunen.
Allzu lange waren deren Besitzer und Betreiber feindliche Nachbarn. Man
redete nicht miteinander, grüßte sich nicht, säte und erntete gegenseitiges
Misstrauen, versuchte den anderen durch Intrigen und halbwahre bzw. falsche
Behauptungen zu diskreditieren - immer mit dem Anspruch auf eigene
Wahrheiten und höher stehende Moral.
Diese Situation, über andere zu reden statt mit ihnen, hat
sich seit 40 Jahren entscheidend geändert. Heute grüßt man sich, reißt
Löcher in die Hecken und Zäune, macht gegenseitige Besuche, klopft sich
freundschaftlich auf die Schulter und schüttelt sich die Hände. Danach zieht
man sich wieder in den eigenen Garten zurück. Niemand denkt daran, die
Hecken und Zäune niederzureißen. Schließlich muß ja jede Gruppierung ihre
eigene Identität, das eigene Gesicht wahren. Zudem gibt es die Wunden, die
die Geschichte geschlagen hat; die jeweils eigenen Wege und Traditionen; den
Selbstbehauptungswillen in den Wahrheiten und Erfahrungen, die sich
angesammelt und die sich bewährt haben - die es auf keinen Fall in Zweifel
zu ziehen gilt.
Peinlich wird die ökumenische Situation in dem Augenblick, in dem man sich
nicht mehr zu verständigen vermag bei Fakten, die nicht von Menschen
geschaffen worden sind im Gegensatz zu den menschengemachten
Theologien und Traditionen. Da findet sich Elementares, was von Jesus selbst
kommt. Deshalb können viele sich stellende Fragen und Antworten zweifellos
nicht (mehr) auf "Kirchliches", auch nicht auf rein "römisch-katholisches
Verständnis" reduziert werden, z.B. die Frage des Priesteramtes, der
Eucharistie- und Sakramentengemeinschaft, der Kirche usw. Was bei den
Katholiken als unaufgebbares Lehr- und Glaubensgut gewachsen ist, bezweifeln
andere. So schreibt ein evangelischer Theologe: "Hätte Jesus erst ein
‚richtiges’ Sakramentenverständnis im Sinne römisch-katholischer Dogmatik
verlangt, dann hätte er sein letztes Mal alleine einnehmen müssen. Dann
könnte es, jedenfalls nach menschlich-innerweltlicher Logik, kein Abendmahl
und keine heilige Messe geben". -
Der hier angesprochene Konflikt zwischen biblischen Befunden und
menschengemachten Lehrgebäuden wird vielfach mit einer seltsam schizophrenen
Erklärung zu glätten versucht: theologische Standpunkte und damit
Differenzen könnten nicht aufgegeben werden; Gott allein bestimme den Tag
und die Stunde, wann die Einheit kommt. Konkret bedeutet das: während die
Menschen alles tun, um die Hecken und Zäune zu erhalten und zu
stabilisieren, soll die Einheit doch ein Werk Gottes sein. Aber wie soll
Gott das machen? Soll und kann er etwas bewirken, was seine Stellvertreter
und Verwalter - aus guten Gründen - um alles in der Welt zu verhindern
suchen?
3. Das Volk spricht immer mehr seine eigene theologische Sprache.
Zweifellos: die Mehrheit der Christen versteht nichts von dem theologischen
Gezänk, wurde noch nie daran beteiligt. Es reagiert auf die Argumente der
Klugen und Gescheiten vermehrt mit innerer Gelassenheit, mit Desinteresse
und Unverständnis. Man frage praktizierende Katholiken nach ihrem
"katholischen" Amts- und Eucharistieverständnis; nach der Zölibats- und
Kirchenregelung - Pisa würde ernüchternde Triumphe feiern. Vielleicht
würde auch eine heilsame Denkpause einsetzen. Denn was ist von der Theologie
der Theologen und von der Lehre der Kirche vom normalen Bürger wirklich
rezipiert worden; was ist "hängen" geblieben - trotz staatlich garantierten
Religionsunterrichts, trotz dauernden Belehrens und Predigens in den
Gottesdiensten?
Zudem stellt sich die Frage: was würde Jesus, der einfache Männer und Frauen
in seiner Gefolgschaft hatte, von all den klugen Theologien halten? Welche
Lehre würde er annehmen und welche verwerfen? Der Verdacht liegt nahe, dass
er sie alle über den Haufen werden würde, vom Tisch fegen, so wie er die
Scheine von den Tischen der Tempelhändler gefegt hat. Was würde er statt
dessen tun? Wahrscheinlich würde er das kleine theologische Einmaleins
wieder zum Zuge kommen lassen, wie er es vor 2000 Jahren schon einmal getan
hat - im Widerspruch zu den Schriftgelehrten und Pharisäern. Er würde eine
"Theologie" vertreten, die jedermann versteht und zu der jedermann Stellung
beziehen könnte; ein Ja oder Nein sagen könnte zu der neuen Lebensform im
Namen Gottes.
Die Theologie, die jedermann damals verstand, lautete: jede Tat der Liebe,
der Versöhnung, der Gerechtigkeit unter den Menschen ist ein Tat, für Gott
getan. "Was ihr einem der geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan. Ich war hungrig, ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, ihr
habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, ihr habt mich
aufgenommen..."(vgl.Mt.25.35-40).- Solche getane Wahrheit hat
heilsgeschichtliche Bedeutung, ist wie ein Samenkorn - ist "Sauerteig"
für das Werden und Wachsen des Reiches Gottes mitten in der unerlösten und
heillos verrannten Welt.
4. Zwei Zweige aus ein und derselben Wurzel.
Wenn man die Geschichte ein wenig zurückverfolgt, sind zwei Zweige
gewachsen, haben sich zwei Arten des Christentums entwickelt: das der
Pracht und der Herrlichkeit und das der einfachen Nachfolge Christi. Die
erste ist in seinen Ausdrucksformen dem mittelalterlich-höfischen
Zeremoniell abgeschaut. Dazu gehören feierliche Liturgien, großartige
Kathedralen und Paläste, königliche Gebärden und Insignien.
Beim "gemeinen Volk" erweckt die Nähe zu einem majestätisch auftretenden
Bischof oder die erhabene Großartigkeit der vatikanischen Paläste exotische
Gefühle und nostalgische Erinnerungen an die "gute alte Zeit". Deren
Repräsentanten tun bis auf den heutigen Tag alles, um der Öffentlichkeit
einen Einblick hinter die hermetisch abgeschlossenen Mauern unmöglich zu
machen. Es könnte ja Menschliches, sogar Sündhaftes an den Tag gebracht
werden, welches hinter den Fassaden wohnt. Die Tatsache, dass es der Welt
verborgen bleibt, weckt wiederum Neugierde und Faszination bei denen, die
keine Tourismuskosten und -mühen scheuen, um jedenfalls gelegentlich dabei
zu sein.
Die großen Massenveranstaltungen auf dem Petersplatz verführen leicht zu der
trügerischen Illusion, dass hier "der Glaube" wieder lebendig wird. In
Wirklichkeit haben die religiösen Medienereignisse der letzten Jahrzehnte,
verbunden mit einem gigantischen Personenkult, deutlich gemacht, dass die
religiösen Touristen nicht an der Religion und deren Inhalten interessiert
sind, auch nicht an deren Verheißungen und Zumutungen, sondern sich mit
einer anonymen Religiosität begnügen. Das heißt mit einer
unbestimmten, aber wohltuenden und die profane Arbeitswelt bereichernden
Erlebnisqualität. Es geht um ein Gefühl des Glaubens, irrtümlich
"Spiritualität" genannt. Es geht um die "spirituelle Erweiterung der
subjektiven Erfahrungsmöglichkeiten" - als Ergänzung zu anderen
Erlebnisspektren wie Job, Hobby, Sport und Urlaub...
Die zweite Art des Christentums, die es im Verborgenen und ohne viel
Aufsehens immer schon gegeben hat, geht über die vage religiöse
Bedürfnisbefriedigung weit hinaus. Im Mittelpunkt des Interesses steht der
Mann aus Nazareth, der Menschensohn, der sich um die Armen und
Entrechteten kümmerte; der als Wanderprediger durch Galiläa jene
entscheidende Lebenswirklichkeit praktizierte und postulierte, die allein
dem Heil und Segen der Welt dienlich ist. Das heißt: es ging ihm um die
Einübung in einen neuen Lebensstil, der die Praxis der Liebe, der neuen
Gerechtigkeit und Wahrheit wörtlich nahm. "Nachfolge Christi" wird als
Zumutung verstanden, als eine neue Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit zum
Guten.
Solche Art Christen gehören nicht einer bestimmten Konfession oder
Weltanschauung an. Zu ihnen zählt die Krankenschwester, die Altenpflegerin,
die Nachbarschaftshilfe, der Handwerker und Fabrikarbeiter, der Richter und
Jurist - sozusagen (nicht alle) nominellen Christen wie auch (nicht alle)
Atheisten. Im Sinne von Mt 25.31-46 könnte man deren Lebenseinstellung auf
den Nenner bringen: es kommt nicht so sehr auf das Gebetbuch an oder auf den
Katechismus, den jemand gelernt hat, sondern auf die tatsächliche
Lebensführung und die Früchte des Glaubens, die das Leben
hervorbringt (Mt 7.16-23).
Während in der heutigen Zeit das kirchliche Christentum immer mehr an
Boden verliert, scheint das außerkonfessionelle weltweit zu wachsen.
Man denke nur beispielhaft an die "Jahrhundertflut" im indischen Ozean
(2004). Über 200.000 Menschen wurden in den Tod gerissen. Sie richtete
Verwüstungen in bisher kaum bekannten Ausmaßen an. Sie zerstörte ganze
Existenzen. Sie mobilisierte in der ganzen Welt aber auch ein selten
wahrnehmbares Bewusstsein der Hilfsbereitschaft, Solidarität und globalen
Zusammengehörigkeit.
Solche gemeinsame Sorge im Kleinen wie im Großen feiert immer wieder und
überall Triumphe - als Gegengewicht zu Brutalität, Fanatismus,
Menschenverachtung und Terrorismus. Wird sich der weltweite Trend zur
Durchsetzung der Menschenrechte und Menschenpflichten behaupten, auch in
Ländern, in denen noch wenig davon zu spüren ist? Könnte man im Laufe der
Geschehnisse von einer allmählichen strukturellen Verchristlichung der
Welt sprechen, was nicht mit "Verkirchlichung" gleichzusetzen ist?
Wenn dem so wäre, würden die strukturell veranlagten Kirchen und Religionen
nicht überflüssig. Aber sie müssten sich beizeiten überlegen, was sie
mitnehmen sollen aus einer zerfallenden Lebensordnung, um für eine neue
fähig zu werden. Denn das Alte ist vergangen, Neues ist im Werden. Das
Christentum muß wieder zu dem zurückkehren, womit es seinen Anfang genommen
hat: als Sauerteig, als Salz der Erde, als Licht der Welt (Mt 5.13-16).
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