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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Ansichten eines Außenseiters (III). Das zweifache Gesicht des Christentums.

Januar 2006

1. "Dialogkultur" im Jahr 2006.

Wenn ich gefragt würde, welchem Wort des Jahres ich für 2006 den Vorzug geben würde, hieße es: Dialogkultur. Es muß nicht wiederum "Bundeskanzlerin" heißen. Als im Dezember 2005 der römische Kurienkardinal Walter Kasper, zuständig für die "Ökumene", Deutschland bereiste, hat er von der "neuen Dialogkultur" gesprochen, die in Rom mit dem Deutschen Josef Ratzinger etabliert worden sei. Ausgerechnet mit Josef Ratzinger, der bisher nicht gerade in dem Ruf stand, bei seiner harten kirchenpolitischen Linie dialogfreudig zu sein. Von dem neuen Zustand zeuge schließlich sein Gespräch mit seinem alten Freund aus Tübingen, dem Kirchenkritiker Hans Küng.

Neue Dialogkultur? Wenn es wirklich so gesagt wurde, wie es die Medien berichtet haben, so ist das Neue daran eigentlich nicht neu. Dem Vorgänger von Ratzinger hat man auch nie die Dialogfreudigkeit abgesprochen. Das Wort Dialog ist zudem heute in aller Munde. In der Politik geht nichts mehr ohne "Dialog". Kein Fußballverein kann erfolgreich sein ohne eine gemeinsame Übereinkunft und dialogische Verständigung zwischen Spielern und Trainer. Keine Schulunterrichtsstunde ist heute nur eine einzige Einbahnstraße vom Lehrer zu den Schülern. Das Gespräch, die gemeinsame Klärung von Fragen und Handlungsmodellen ist das A und das O aller Lebensbereiche geworden.

Was ist also neu? Im kirchlichen Geschehen ist nicht Benedikt XVI. der erste, der den Dialog postuliert und praktiziert. Mindestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben seine Vorgänger den Kontakt und das Gespräch mit anderen Religionen und Weltanschauungen gesucht und durch Reisen untermauert. Viel neues Verständnis füreinander, viele freundschaftliche Beziehungen sind entstanden. Es wurden große Schritte gewagt, um mehr Versöhnung und Friedensbereitschaft zu erzwingen.

2. "Dialog" - doch die Hecken und Zäune bleiben.

Dennoch wächst im Maße des Voranschreitens in der Dialogkultur der Eindruck, dass Fremdheiten und Animositäten nicht geringer geworden sind. Je mehr der vertraute Umgang miteinander wächst, desto mehr wird das Trennende und Befremdliche sichtbar. Man könnte auch vom Willen zur Selbstbehauptung und zur Wahrung der jeweils eigenen "Identität" sprechen. In der Ökumene ist zur Zeit viel vom "Stillstand" die Rede, vom "Treten auf der Stelle".

Wenn man sich die Geschichte des religiösen "Dialogs" vor und nach dem Konzil näher anschaut, kommt einem das Bild von den vielen Schrebergärten in den Sinn. Diese sind im Laufe der Jahrhunderte entstanden: jeder Schrebergarten, umgeben von religiösen und theologischen Hecken und Zäunen. Allzu lange waren deren Besitzer und Betreiber feindliche Nachbarn. Man redete nicht miteinander, grüßte sich nicht, säte und erntete gegenseitiges Misstrauen, versuchte den anderen durch Intrigen und halbwahre bzw. falsche Behauptungen zu diskreditieren - immer mit dem Anspruch auf eigene Wahrheiten und höher stehende Moral.

Diese Situation, über andere zu reden statt mit ihnen, hat sich seit 40 Jahren entscheidend geändert. Heute grüßt man sich, reißt Löcher in die Hecken und Zäune, macht gegenseitige Besuche, klopft sich freundschaftlich auf die Schulter und schüttelt sich die Hände. Danach zieht man sich wieder in den eigenen Garten zurück. Niemand denkt daran, die Hecken und Zäune niederzureißen. Schließlich muß ja jede Gruppierung ihre eigene Identität, das eigene Gesicht wahren. Zudem gibt es die Wunden, die die Geschichte geschlagen hat; die jeweils eigenen Wege und Traditionen; den Selbstbehauptungswillen in den Wahrheiten und Erfahrungen, die sich angesammelt und die sich bewährt haben - die es auf keinen Fall in Zweifel zu ziehen gilt.

Peinlich wird die ökumenische Situation in dem Augenblick, in dem man sich nicht mehr zu verständigen vermag bei Fakten, die nicht von Menschen geschaffen worden sind im Gegensatz zu den menschengemachten Theologien und Traditionen. Da findet sich Elementares, was von Jesus selbst kommt. Deshalb können viele sich stellende Fragen und Antworten zweifellos nicht (mehr) auf "Kirchliches", auch nicht auf rein "römisch-katholisches Verständnis" reduziert werden, z.B. die Frage des Priesteramtes, der Eucharistie- und Sakramentengemeinschaft, der Kirche usw. Was bei den Katholiken als unaufgebbares Lehr- und Glaubensgut gewachsen ist, bezweifeln andere. So schreibt ein evangelischer Theologe: "Hätte Jesus erst ein ‚richtiges’ Sakramentenverständnis im Sinne römisch-katholischer Dogmatik verlangt, dann hätte er sein letztes Mal alleine einnehmen müssen. Dann könnte es, jedenfalls nach menschlich-innerweltlicher Logik, kein Abendmahl und keine heilige Messe geben". -

Der hier angesprochene Konflikt zwischen biblischen Befunden und menschengemachten Lehrgebäuden wird vielfach mit einer seltsam schizophrenen Erklärung zu glätten versucht: theologische Standpunkte und damit Differenzen könnten nicht aufgegeben werden; Gott allein bestimme den Tag und die Stunde, wann die Einheit kommt. Konkret bedeutet das: während die Menschen alles tun, um die Hecken und Zäune zu erhalten und zu stabilisieren, soll die Einheit doch ein Werk Gottes sein. Aber wie soll Gott das machen? Soll und kann er etwas bewirken, was seine Stellvertreter und Verwalter - aus guten Gründen - um alles in der Welt zu verhindern suchen?

3. Das Volk spricht immer mehr seine eigene theologische Sprache.

Zweifellos: die Mehrheit der Christen versteht nichts von dem theologischen Gezänk, wurde noch nie daran beteiligt. Es reagiert auf die Argumente der Klugen und Gescheiten vermehrt mit innerer Gelassenheit, mit Desinteresse und Unverständnis. Man frage praktizierende Katholiken nach ihrem "katholischen" Amts- und Eucharistieverständnis; nach der Zölibats- und Kirchenregelung - Pisa würde ernüchternde Triumphe feiern. Vielleicht würde auch eine heilsame Denkpause einsetzen. Denn was ist von der Theologie der Theologen und von der Lehre der Kirche vom normalen Bürger wirklich rezipiert worden; was ist "hängen" geblieben - trotz staatlich garantierten Religionsunterrichts, trotz dauernden Belehrens und Predigens in den Gottesdiensten?

Zudem stellt sich die Frage: was würde Jesus, der einfache Männer und Frauen in seiner Gefolgschaft hatte, von all den klugen Theologien halten? Welche Lehre würde er annehmen und welche verwerfen? Der Verdacht liegt nahe, dass er sie alle über den Haufen werden würde, vom Tisch fegen, so wie er die Scheine von den Tischen der Tempelhändler gefegt hat. Was würde er statt dessen tun? Wahrscheinlich würde er das kleine theologische Einmaleins wieder zum Zuge kommen lassen, wie er es vor 2000 Jahren schon einmal getan hat - im Widerspruch zu den Schriftgelehrten und Pharisäern. Er würde eine "Theologie" vertreten, die jedermann versteht und zu der jedermann Stellung beziehen könnte; ein Ja oder Nein sagen könnte zu der neuen Lebensform im Namen Gottes.

Die Theologie, die jedermann damals verstand, lautete: jede Tat der Liebe, der Versöhnung, der Gerechtigkeit unter den Menschen ist ein Tat, für Gott getan. "Was ihr einem der geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Ich war hungrig, ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, ihr habt mich aufgenommen..."(vgl.Mt.25.35-40).- Solche getane Wahrheit hat heilsgeschichtliche Bedeutung, ist wie ein Samenkorn - ist "Sauerteig" für das Werden und Wachsen des Reiches Gottes mitten in der unerlösten und heillos verrannten Welt.

4. Zwei Zweige aus ein und derselben Wurzel.

Wenn man die Geschichte ein wenig zurückverfolgt, sind zwei Zweige gewachsen, haben sich zwei Arten des Christentums entwickelt: das der Pracht und der Herrlichkeit und das der einfachen Nachfolge Christi. Die erste ist in seinen Ausdrucksformen dem mittelalterlich-höfischen Zeremoniell abgeschaut. Dazu gehören feierliche Liturgien, großartige Kathedralen und Paläste, königliche Gebärden und Insignien.

Beim "gemeinen Volk" erweckt die Nähe zu einem majestätisch auftretenden Bischof oder die erhabene Großartigkeit der vatikanischen Paläste exotische Gefühle und nostalgische Erinnerungen an die "gute alte Zeit". Deren Repräsentanten tun bis auf den heutigen Tag alles, um der Öffentlichkeit einen Einblick hinter die hermetisch abgeschlossenen Mauern unmöglich zu machen. Es könnte ja Menschliches, sogar Sündhaftes an den Tag gebracht werden, welches hinter den Fassaden wohnt. Die Tatsache, dass es der Welt verborgen bleibt, weckt wiederum Neugierde und Faszination bei denen, die keine Tourismuskosten und -mühen scheuen, um jedenfalls gelegentlich dabei zu sein.

Die großen Massenveranstaltungen auf dem Petersplatz verführen leicht zu der trügerischen Illusion, dass hier "der Glaube" wieder lebendig wird. In Wirklichkeit haben die religiösen Medienereignisse der letzten Jahrzehnte, verbunden mit einem gigantischen Personenkult, deutlich gemacht, dass die religiösen Touristen nicht an der Religion und deren Inhalten interessiert sind, auch nicht an deren Verheißungen und Zumutungen, sondern sich mit einer anonymen Religiosität begnügen. Das heißt mit einer unbestimmten, aber wohltuenden und die profane Arbeitswelt bereichernden Erlebnisqualität. Es geht um ein Gefühl des Glaubens, irrtümlich "Spiritualität" genannt. Es geht um die "spirituelle Erweiterung der subjektiven Erfahrungsmöglichkeiten" - als Ergänzung zu anderen Erlebnisspektren wie Job, Hobby, Sport und Urlaub...

Die zweite Art des Christentums, die es im Verborgenen und ohne viel Aufsehens immer schon gegeben hat, geht über die vage religiöse Bedürfnisbefriedigung weit hinaus. Im Mittelpunkt des Interesses steht der Mann aus Nazareth, der Menschensohn, der sich um die Armen und Entrechteten kümmerte; der als Wanderprediger durch Galiläa jene entscheidende Lebenswirklichkeit praktizierte und postulierte, die allein dem Heil und Segen der Welt dienlich ist. Das heißt: es ging ihm um die Einübung in einen neuen Lebensstil, der die Praxis der Liebe, der neuen Gerechtigkeit und Wahrheit wörtlich nahm. "Nachfolge Christi" wird als Zumutung verstanden, als eine neue Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit zum Guten.

Solche Art Christen gehören nicht einer bestimmten Konfession oder Weltanschauung an. Zu ihnen zählt die Krankenschwester, die Altenpflegerin, die Nachbarschaftshilfe, der Handwerker und Fabrikarbeiter, der Richter und Jurist - sozusagen (nicht alle) nominellen Christen wie auch (nicht alle) Atheisten. Im Sinne von Mt 25.31-46 könnte man deren Lebenseinstellung auf den Nenner bringen: es kommt nicht so sehr auf das Gebetbuch an oder auf den Katechismus, den jemand gelernt hat, sondern auf die tatsächliche Lebensführung und die Früchte des Glaubens, die das Leben hervorbringt (Mt 7.16-23).

Während in der heutigen Zeit das kirchliche Christentum immer mehr an Boden verliert, scheint das außerkonfessionelle weltweit zu wachsen. Man denke nur beispielhaft an die "Jahrhundertflut" im indischen Ozean (2004). Über 200.000 Menschen wurden in den Tod gerissen. Sie richtete Verwüstungen in bisher kaum bekannten Ausmaßen an. Sie zerstörte ganze Existenzen. Sie mobilisierte in der ganzen Welt aber auch ein selten wahrnehmbares Bewusstsein der Hilfsbereitschaft, Solidarität und globalen Zusammengehörigkeit.

Solche gemeinsame Sorge im Kleinen wie im Großen feiert immer wieder und überall Triumphe - als Gegengewicht zu Brutalität, Fanatismus, Menschenverachtung und Terrorismus. Wird sich der weltweite Trend zur Durchsetzung der Menschenrechte und Menschenpflichten behaupten, auch in Ländern, in denen noch wenig davon zu spüren ist? Könnte man im Laufe der Geschehnisse von einer allmählichen strukturellen Verchristlichung der Welt sprechen, was nicht mit "Verkirchlichung" gleichzusetzen ist?

Wenn dem so wäre, würden die strukturell veranlagten Kirchen und Religionen nicht überflüssig. Aber sie müssten sich beizeiten überlegen, was sie mitnehmen sollen aus einer zerfallenden Lebensordnung, um für eine neue fähig zu werden. Denn das Alte ist vergangen, Neues ist im Werden. Das Christentum muß wieder zu dem zurückkehren, womit es seinen Anfang genommen hat: als Sauerteig, als Salz der Erde, als Licht der Welt (Mt 5.13-16).
 


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