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Pater Fritz Köster
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56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Ansichten eines Außenseiters (IV). Die Enzyklika Benedikt's XVI: "Deus caritas est".

Februar 2006

1. Die « Regierungserklärung » des deutschen Papstes.

Die erste Enzyklika des neuen Papstes hat weltweit große Überraschung ausgelöst und eine breite Akzeptanz erfahren. Tatsächlich zeigt sich hier der Papst nicht als "Moralprediger", der gegen die Homosexualität wettert oder gegen die außereheliche Sexualität. Er will auch dem Vorwurf Nietzsches, das Christentum sei leib- und lebensfeindlich, keinerlei Argumente liefern. Sein Verständnis der Liebe geht sogar von Platons "erotischer Liebe" aus. Sie dürfe nach den Worten des Papstes allerdings nicht zu "bloßem Sex" verkommen. Diese sei so etwas wie eine innere Kraft und Dynamik, die den Menschen über sich selbst hinauswachsen lassen müsse, begehrend, suchend, erkennend und wohlwollend. Auf diese Weise "gereinigt", wird sie zur christlichen Liebe, zur Caritas, die sich in der Ehe und im konkreten Dienst am Nächsten aktualisiert und vollendet. Die Caritas wird in der Welt immer notwendig bleiben; "denn es wird auch in der gerechtesten Welt immer materielle und menschliche Not geben".

2. Der Blick auf den Kern, das Wesen des Christentums.

In der "Regierungserklärung" des Papstes geht es als um die Frage nach dem Wesentlichen im Christentum. "Gott ist die Liebe". Aus dieser Liebe heraus kann es allein eine gerechtere und erlöstere Welt geben. Darin sieht auch "die Kirche" ihren entscheidenden Auftrag. Neben Wortverkündigung und Sakramentenspendung hat sie "die Pflicht, Vernunft und ethische Richtlinien einzubringen, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden".

Was meint aber der Papst, wenn er von "Kirche" spricht? Offensichtlich zunächst und an erster Stelle die lehrende und belehrende Kirche, die durch ethische Richtlinien Wegweisung gibt. Gemeint sind in erster Linie die Theologen, die Kleriker, das Lehramt... Auf der ausführenden Seite sind dann die "Dienstleistungen der Laien", ihre caritativen Einrichtungen. Sind sie mit ihren Erfahrungen und wegweisenden Initiativen bei caritativem Handeln auch "Kirche"? Wo werden ihre Kompetenzen wirklich ernst genommen in einer Kirche, die die Laien seit einigen Jahrzehnten - unter Mitwirkung Josef Ratzingers - immer mehr an den Rand der Ereignisse und kirchlicher Entscheidungsprozesse drängt? Wenn der Papst ihre Aufgabe darin sieht, "sich unmittelbar zu engagieren" - wo wird da ihre Stimme gehört bei wichtigen ethischen, juridischen, sozialen und personalpolitischen Entscheidungen? Müssten nicht der Erfahrungsschatz und die Kompetenz der Laien integrierender Bestandteil des Lehramtes werden, ebenso bei Bischofsernennungen, bei der Papstwahl...?

Bisher jedenfalls wurde das bestehende Dilemma des Lehramtes nicht annähernd aus der Welt geschafft. Es findet seinen Ausdruck in dem Sprichwort: "Der Theoretiker weiß, wie es geht; aber es geht nicht. Der Praktiker weiß nicht, wie es geht; aber es geht". - Das Drama um die Entstehung und erfolgreiche Entwicklung von donum vitae ist u.a. ein klassisches Beispiel dafür, dass die Diskrepanz zwischen ethischen Ansprüchen und faktischen Notwendigkeiten massiv fortbesteht.

Wenn der Papst "die Liebe und Nächstenliebe" als Einheit in den Blick nimmt und zu Recht zu sozialem Engagement auffordert, müsste diese Liebe innerkirchlich zuerst zum Tragen kommen - der Glaubwürdigkeit wegen. Die Kluft müsste überbrückt werden zwischen (theoretisch) lehrender Kirche und belehrter Kirche; zwischen klerikaler Kompetenz und laienhafter Inkompetenz. Denn die Gefahr besteht, wie bei vielen kirchlichen Dokumenten, dass die Enzyklika "Deus caritas est" wie ein bloßes, wenn auch kluges und intelligentes Papier ohne Auswirkungen bleibt: das heißt ohne dass sich die große Mehrheit der Laien davon angesprochen und kirchlich motiviert sieht. Was viele Christen und Nichtchristen schon immer an Nächstenliebe und Caritas praktiziert haben und in ihrer konkreten Lebenslage tun - sie machen es weiterhin, auch ohne ein solches Papier.

3. Die göttliche Liebe, die Sonne und Sterne bewegt.

Im Vorfeld seiner Enzyklika hat der Papst in einer Rede Dantes "Göttliche Komödie" zitiert - die Vision eines Dichters von der göttlichen Liebe, die Sonne und Sterne bewegt. Nur Sonne und Sterne? Was würde geschehen, wenn er auch die Kirche bewegte? Die Männer und Frauen, die ja auch Teile des Heilshandelns Gottes sind? Was würde aus einer dogmatisch und kirchenrechtlich eingemauerten Kirche, wenn sie aus der theologischen Höhenlage herabsteigen müsste, weil die göttliche Liebe sie bewegt?

Es würde eine peinliche Situation eintreten. Wahrscheinlich ist sie bereits eingetreten. Aber der Kirche fehlen Mut und Glaube an die Wege Gottes. Jedenfalls erscheint es nicht nachvollziehbar, dass die "bewegende Liebe Gottes" auch sie bewegt...

In meinem Buch "Religiös und frei. Glauben ohne Kirche?" (Frankfurt 1997, S. 100-102) habe ich mich darüber gewundert, dass das im 4. Jahrhundert entstandene Glaubensbekenntnis, welches bis auf den heutigen Tag gebetet wird, anfängt mit dem Satz: "Ich glaube an Gott den allmächtigen Vater". Die Zeit damals brauchte vor allem die Allmacht Gottes. Das Christentum war dabei, mit Macht und Allmacht in Europa missionarisch tätig zu werden - was allzu oft in die gewalttätige und blutige Auseinandersetzung mit dem Heidentum und anderen Religionen führte.

Die Konsequenzen des "allmächtigen Gottes" wurden im Regelfall Überlegenheitsdünkel, Machtansprüche, Unterdrückung anderer Meinungen und Optionen, Wahrheitsfanatismus, Exkommunikationen und Ketzerverbrennungen. Hätte man damals schon die zentrale Aussage der Bibel Gott ist die Liebe als ersten Satz im Glaubensbekenntnis formuliert - es hätte keine oder weniger Hexenprozesse gegeben, keine Verwüstungen in Afrika und Lateinamerika, keine blutigen Religionskriege mit Millionen von Toten, keine konfessionellen Aufspaltungen auf dem Boden theologischer Haarspaltereien, von denen jede Seite für sich behauptet, "die Wahrheit" zu besitzen, statt nach den Ansprüchen zu fragen, die die Liebe stellt. Bis in die heutige Zeit hinein müsste man fragen: was hätte Ratzinger mit L. Boff und der "Theologie der Befreiung" gemacht, hätte die Liebe die Oberhand behalten? Was die Kirche mit "Rebellen" wie Küng, Drewermann, Hasenhüttl...?

In meinem erwähnten Buch habe ich den Vorschlag gemacht, das Glaubensbekenntnis mit dem Satz zu beginnen: "Ich glaube an Gott, der die Liebe ist". Da ist davon die Rede, dass dieser Gott der Liebe das Entstehen und Werden der Welt vom Anfang bis zum Ende schöpferisch begleitet; der Menschen zu seinen Mitarbeitern macht; der Jesus Christus auf die Erde sandte, "um uns Menschen ein Beispiel gelebter Liebe zu geben; um uns exemplarisch zu zeigen, wie sich als Menschen gottgewollt leben läßt..."

In diesem Glaubensbekenntnis sind Impulse und Anregungen gegeben:

  • für das Verständnis des Wirkens des heiligen Geistes in der Schöpfung
  • für eine neue Evolutionstheologie
  • für eine christliche Anthropologie: Menschen als Freunde und Mitarbeiter Gottes
  • für Versöhnungs- und Konfliktbereitschaft mit Feinden und Andersdenkenden
  • für Verständnis gegenüber "Sündern", Dirnen, Ausgestoßenen...
  • zum Verstehen des Opfertodes Christi, der seinem gottgewollten Auftrag bis zum Äußersten seiner Lebenshingabe treu blieb
  • für das Entstehen des "Reiches Gottes", zu dessen Werden und Wachsen jeder Mensch seinen Beitrag zu leisten vermag (nicht nur der "Klerus"). Solche "Beiträge" heißen: Taten der Liebe und Gerechtigkeit, die wie "Samenkörner" ihre Kraft entfalten, bis sie im "Reich Gottes" ihre Vollendung finden. Solche "Taten" als "Horizontalismus" und "reinen Humanismus" zu relativieren, ist deshalb absurd, weil sie eingebettet sind in einen großen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Und damit auch jeder Mensch, der sie tut. In der "Immanenz" von Zeit und Geschichte eröffnet sich auch ein Weg zur Transzendenz Gottes. So vermögen Menschen "im Heilsplan Gottes" zu sein, obwohl sie außerhalb der Kirche sind; viele sind außerhalb des Heilsplanes Gottes, obwohl sie in der Kirche sind...
  • für den Auszug der Kirche aus lebensfernen Traditionen und Ritualen, aus unverständlichen Satzwahrheiten und belastenden Moralvorschriften, aus theologisch (wenn auch noch so klugen) Denksystemen und missionarischen Ideologien
  • für das Preisgeben rechthaberischer Ansprüche, die die Menschheit trennt und in feindliche Lager spaltet - verbunden mit einem gesunden Misstrauen gegenüber Verwaltungsapparaten, die wie Papierfabriken arbeiten, theoretische Konzepte und theologische Leerformeln produzieren ohne nachhaltige Wirkung.

4. Josef Ratzinger, das Konzil und 40 Jahre danach.

In den deutschen Diözesen werden heute "Strukturveränderungen" großen Ausmaßes durchgeführt. Von "pastoralen (Groß)Räumen" ist die Rede. Sie werden geschaffen nach dem Prinzip: je weniger Priester, desto weniger pastorale Räume. Diese müssen notgedrungen groß sein. Dass sie unüberschaubarer, anonymer, unverbindlicher, gemeinschaftsverlorener werden...- darüber spricht man nicht. Alles ist auf den an Zahl immer magerer werdenden Klerus zugeschnitten. Und auf die Eucharistie. Wenn schon die Kirche nicht mehr im Dorf bleiben kann, sollen die Gläubigen gefälligst in eines der "Zentren" gehen, in denen noch das Heiligste und Wichtigste gefeiert wird: die Eucharistie.

Vor 40 Jahren fing alles ganz anders an. Es stellten sich bereits dieselben Probleme wie heute. Nach dem Vorbild afrikanischer und lateinamerikanischer Gemeindestrukturen richteten sich die damaligen Lösungsversuche in Richtung:

  • die Kirche auf jeden Fall im Dorf und seiner Gemeinschaft lassen
  • die Kompetenz der dort wohnenden Christen erweitern und stärken
  • "viri probati" und Diakoninnen zulassen und weihen
  • vielfältige Formen von Gottesdiensten einführen und erproben
  • Mut machen zu neuen Wegen, statt nur Herkömmliches zu erhalten und zu kultivieren
  • Pastoral und pädagogisch denken lernen statt nur dogmatisch und kirchenrechtlich...

Es ist bekannt, dass Josef Ratzinger, theologischer Konzilsbegleiter des Kölner Kardinals Frings, von diesem die Weisung bekam, an zukunftsfähigen Modellen von Kirche und Pastoral mitzuarbeiten. Es ist auch bekannt, dass J. Ratzinger in den 60-ger Revoltejahren einen "Knacks" bekam und eine Abkehr von seiner bisherigen Theologie vollzog - wegen der unsicheren und nicht genügend überschaubaren "Folgen des Konzils". In der Folgezeit hat er viele Ansätze des Konzils und der Würzburger Synode zunichte gemacht nach dem Motto: wer Karriere macht, der hat auch den heiligen Geist! Statt Reform also Restauration! Statt Vorwärts in die Zukunft Zurück in die Zukunft!

Da stehen wir heute. Aus der kirchlichen Reformbewegung ist eine Mangelverwaltung geworden. Wenn J. Ratzinger nun als Papst die Liebe als das Zentrale des Christentums ins Bewusstsein rückt, so ist - bei aller Ernsthaftigkeit dieses Themas - der Verdacht nicht aus der Welt zu schaffen, dass solche Art Reden und kirchliche Dokumente die amtliche Reformfähigkeit und -unwilligkeit verdecken (sollen). Appelle zur Liebe und caritativen Tätigkeit kommen in der Öffentlichkeit zwar gut an; sie machen aber vergessen, worum es bei der Reform der Kirche gehen sollte und müsste. Wahrscheinlich wird dieses Vergessen bald wieder vergessen sein. Die Probleme stellen sich geballt und ungelöst neu. Es wird ein böses Erwachen geben...

Der Papst wird dann wohl als ein Alibi-Papst in die Geschichte eingehen, weil er herrlich formulierte theologische Sätze als Alibi benutzte für eine effektive Politik und für handfeste Maßnahmen. Wenn Kardinal Lehmann resümiert: die Enzyklika sei "ein theologisch, spirituell, pastoral und sozial tief angelegter Impuls, mit dem der Papst uns für die Sendung in der heutigen Welt mehr Mut machen will", so muß man dieser Einsicht realistisch hinzufügen: ohne handfeste Maßnahmen wird dieser "Impuls" sehr bald vom Winde verweht sein. -
 
 


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