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Ansichten eines Außenseiters (V):
Der Glaube – eine "positive Option"?
September 2006
In seinem vielbeachteten Fernsehinterview vom 13. August dieses Jahres
hat Papst Benedikt XVI. den Glauben eine "positive Option" für unsere
Lebensverhältnisse genannt. Tatsächlich hat er dieses "Positive" an
Beispielen aus der Lehre und Tradition der Kirche deutlich gemacht. Demnach
dürfte man kein Fragezeichen hinter diese seine Option setzen, wenn es heute
nicht zu viele Christen gäbe, die dies tun. Tatsächlich gibt es – bei
näherem Zusehen – eine Menge Fragezeichen, die es im Folgenden zu erläutern
gilt
1. "Positive Option" mit Fragezeichen?
Es ist zweifellos problematisch, hinter eine "positive Option" ein
Fragezeichen zu setzen. Denn der Glaube ist ein "positive Option". Der Papst
hat es in seinem Fernsehinterview vom 13. August diesen Jahres deutlich
betont. Er will diese Option demnächst auch in Bayern als die Wichtigste in
seinem Pontifikat hervorheben. Dass diese seine bereits bekannte Option
eigentlich nichts anderes bedeuten konnte als was bisher schon immer gesagt
und vertreten wurde, ist klar: die Kirche ist für das Leben und gegen den
Tod (z.B. Abtreibung); sie ist für positive Gestaltungsmöglichkeiten der
Frauen – ohne dass diese mit der "Priesterweihe" etwas zu tun haben könnten;
sie ist für die vielfältige Art an Bildung und Krankenpflege, wie sie vor
allem in Afrika betrieben wird – jedoch gegen Verhütungsmöglichkeiten und
gefährliches "Basischristentum", welches vom Volk, "von unten" ausgeht...
Die vier Fragesteller großer Fernsehanstalten, die sehr steif und
schulbubenartig wirkten, haben alles unterlassen, um konkrete
Lebensverhältnisse zur Sprache zu bringen. Sie haben alles getan, dass
der Papst zu vielen Themen über Kirche, Glaube und Gesellschaft kleine
ad-hoc-Vorlesungen halten konnte. Da war er als versierter Professor der
Theologie in seinem Element. Die Perspektiven, die er entwickelte, wirkten
wie ein Wasserfall. Sie waren von einer theologischen Brisanz und Schärfe,
denen der "normale Fernsehzuschauer" kaum noch folgen konnte. Selbst als
Fachmann konnte man in vielen Passagen kaum erkennen, wovon eigentlich die
Rede war: von Einzelinitiativen, die zum "Ganzen" zusammengefügt werden
müssen; von Entwicklungen, die es zu steuern gilt; von Gefahren, denen der
moderne Mensch ausgesetzt ist...
Man konnte sich nur darüber wundern, dass die Journalisten so taten oder so
tun mussten, als hätten sie verstanden. Aber schließlich waren ihre Fragen
ja vorher eingereicht worden. So konnten sie bei jeder Pause eine neue Frage
stellen, auf diese Weise jeden Leerlauf verhindern. Dennoch war das meiste
Leerlauf. Ewige Wiederholungen über Frauen, Laien, Kleriker, Kirche und
Konfessionen, Welt und Säkularisierung sagen nichts darüber aus, wohin die
Reise gehen könnte. Warum also Interviews über Altbekanntes, deren Ergebnis
heißen könnte: "Nichts Neues im Himmel und auf der Erde"? Nur einmal öffnete
sich die schwer durchschaubare Redekunst auf Zukunft hin. Es war davon die
Rede, dass in der heutigen Zeit die Botschaft von dem "einen Gott mit dem
menschlichen Antlitz Jesu" Vorrang haben müsse. Leider wirkte dieser
Satz wie ein Plakat auf einer Litfaßsäule. Alles übrige war wortreiche
Theologie und Berufung auf das Kirchenrecht. Vom "menschlichen Antlitz Jesu"
war in den langen Passagen nichts zu spüren – es sei denn im menschlichen
Sichgeben des Papstes selbst.
2. Das Problematische dieser "positiven Option".
Von Gabriel Marcel stammt das Wort: "Wo der Glaube aufhört, tätige
Liebe zu sein, flieht er in die objektive Gläubigkeit, in ein abstraktes
Gedankenspiel". – Man könnte diesen Satz auch umformulieren und sagen: Wo
das "Tun der Wahrheit" (Joh. 3.21) keinen absoluten Vorrang hat, da
geschieht Flucht in Kommissionen und Verwaltungsapparate, die sich leicht zu
theologischen Papierfabriken entwickeln ohne Effektivität und Bodenhaftung.
Solche oder ähnliche Gedanken können und dürfen nicht den Eindruck aufkommen
lassen, dass zu wenig an caritativer und sozialer Arbeit am Nächsten und für
den Nächsten getan wird. Aber die sie tun, haben nicht das Sagen. Sie
fungieren im Grunde als Aushängeschilder für diejenigen, denen es darum
geht, die Wahrheit möglichst abstrakt und systematisch zu denken. Ob
offizielle Anliegen solcher Art – allen gegenteiligen Behauptungen zum
Trotz – im Sinne des Johannes-Evangeliums zum Licht finden, ist sehr
zweifelhaft. Denn wer die Wahrheit tut, so heißt es, kommt zum Licht; nicht
wer sie, wenn auch noch so logisch und konsequent, denkt. Damit ist eine
Grundproblematik kirchlicher Verkündigung zum Ausdruck gebracht: Der
Glaube, ohne Werke und handfeste Konsequenzen verkündet, ist ein toter
Glaube (Jak. 2.17).
Damit beginnt auch das Problematische einer Option, deren offizielle
Vertreter sie für sich und für "die Welt von heute" als "positiv"
bezeichnen, was von einer wachsenden Mehrheit der Christen so nicht
wahrgenommen wird. Wenn es doch so wäre, würden viele ihre kirchliche
Einstellung revidieren. Folgende Fakten sind zu bedenken:
- Die herkömmliche theologische Interpretation des Glaubens ist für die
meisten Christen unverständlich und uninteressant geblieben. Trotz aller
Bemühungen in Katechese und Religionsunterricht ist der religiöse
Analphabetismus unübersehbar; das Desinteresse an herkömmlichen
theologischen Fragestellungen nimmt eher zu als dass Christen, besonders
junge Menschen, Geschmack daran finden. Hat es mit dem Faktischen der
konkreten Lebenswelt zu wenig zu tun? "Die Kirche gibt dauernd Antworten
auf Fragen, die niemand gestellt hat". – Diese Grundstimmung scheint
bezeichnend zu werden für ganze Generationen.
- Eine Schwachstelle dieser "positiven Option" besteht in der
irrtümlichen Annahme, dass Menschen, selbst wenn sie in theologischen
Fragen versiert sind und die "Lehre der Kirche" gut kennen, auch die
gläubigsten sind. Danach müssten die Theologen und geistlichen
Würdenträger die gläubigsten sein – eine Annahme, die denkende Menschen
immer mehr über Bord werfen. Zudem müsste ein erklärter Atheist
automatisch aufhören, Atheist zu sein, sobald er sich mit Fragen der
Theologie beschäftigt. – Solche und ähnliche Überlegungen machen es
unbedingt notwendig, die Frage nach dem Glauben neu zu stellen und zu
beantworten. Unglaubwürdig jedenfalls ist ein Glaubensverständnis,
welches heißt: "Glauben heißt das für wahr halten, was die Kirche zu
glauben lehrt". Denn Glaube ist etwas anderes als das Festhalten an einer
Lehre. Ein theologisch ungebildeter Mensch kann sehr gläubig sein.
- Eine weitere Schwachstelle besteht darin, dass das überall
favorisierte biblische Denken wenig mit "systematischer Theologie" und
"Kirchenrecht" gemein hat. Zwar leiten die Kirchen ihre Theologie daraus
ab und begründen sie – nicht ganz zu Unrecht. Dabei bleiben aber viele,
vielleicht sogar die entscheidenden, für das konkrete Leben impulsgebenden
Perspektiven außen vor. Zum Beispiel ist die Sprache der Bibel eine
Sprache alltäglicher Beispiele. Sie greift Fragen und Ereignisse aus dem
Leben von "einfach gestrickten Menschen" auf – mit "Sitz im Leben". Sie
versucht alles, was im Leben an Gutem und weniger Gutem geschieht, in
einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Damit wird
jedem Menschen eine aktive Rolle und Würde zugesprochen. Jeder Mensch wird
wichtig in dem, was Jesus das "Schon Jetzt" des Reiches Gottes nennt:
"Sauerteig der Welt"; "Licht auf dem Berge"; "Salz der Erde"... Die
Reich-Gottes-Vision Jesu, die alle Menschen einbezieht, hat durch die bald
einsetzende Kirchen-Konzeption mit ihren Ämtern und Hierarchien eine
erschreckende Verarmung und Verkümmerung erfahren.
- Das herkömmliche Wahrheits- und Glaubensverständnis war und ist der
Ursprung für konfessionelle Spaltungen, für Religionskriege und fanatische
Auseinandersetzungen, für Inquisitionen und Hexenverbrennungen, bis zu den
heutigen fundamentalistischen und terroristischen Ausuferungen. Wie sich
immer mehr herausstellt, ist dieses Verständnis auch unfähig zu einer
Ökumene, die mehr wäre als der Austausch gegenseitiger Freundlichkeiten.
Denn wenn jede Gruppierung auf ihrem Wahrheitsverständnis besteht – was
kann da an "Einheit" und Gemeinsamkeit herauskommen? Vielleicht gemeinsam
formulierte Glaubensdokumente auf hohem Niveau, die von einer breiteren
Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden...
Ein neu gewonnenes, aber altes Glaubensverständnis könnte auf Zukunft hin
weiterhelfen. Es lautet: Glaube ist das Festhalten an einer Person; an
dem, was diese Person gesagt und getan hat; ist die Fortsetzung der Worte
und Taten Jesu in der festen Überzeugung, dass darin das Heil des Menschen
und der Friede der Welt am meisten gesichert sind.
3. Glaube als wachsende Kraft des Vertrauens und der Zuversicht.
Es gibt also durchaus eine positive Option des Glaubens. Diese wurde neulich
einmal deutlich gemacht, als junge Leute darüber diskutierten, was für sie
"Glaube" und "Unglaube" bedeutet.
Im Laufe des Gespräches meldete sich eine 15-Jährige zu Wort, befreite das
Thema aus der rein religiösen Fragestellung und sagte: "Ich glaube am
meisten am meine Oma!" – "Auf sie kann ich mich immer verlassen,; sie hilft
mir und nimmt mich ernst; was sie aus ihrer Erfahrung sagt und tut, bringt
mich am meisten zum Nachdenken; ich imitiere sie nicht, aber ich orientiere
mich an ihrem Verhalten. Auf sie vertraue ich am meisten, weil sie
lebenserfahren und lebenstüchtig ist..."
Diese Jugendliche hat auf eine sehr einfache und für alle verständliche
Weise deutlich gemacht, was "Glaube" ist: Vertauen zu einem anderen, zu dem
man gehen kann, auf den man sich verlassen kann, der einem Hilfe und
Orientierung gibt zum Leben. Denn der Mensch braucht zum Leben und Überleben
nicht irgendetwas oder viel; was er braucht, ist jemand, zu dem er
gehen kann.
Schon für ein Neugeborenes ist Vertrauen, "Urvertrauen", eine ursprüngliche
Kraft. Es findet und entfaltet sie in der Begegnung mit der ersten
Bezugsperson, der Mutter. Oder auch nicht ! Ein solches Urvertrauen (oder
Misstrauen) bleibt entscheidend für das ganze Leben.. Wer ein Mensch des
Vertauens, des Zu-Trauens, ist und wem solche Fähigkeit zugewachsen ist –
der vermag diese Haltung auch auszuweiten auf andere Bezugspersonen: auf
Freunde, Mitarbeiter, Lehrer und Priester, schließlich auch auf Gott. Er
vermag "mit dem Herzen zu sehen". Für ihn gibt es jemanden, der dem Ganzen
des Weltgeschehens eine Sinnstruktur verleiht. Für ihn ist in innerer
Gewissheit evident, "was die Welt im Innersten zusammenhält" – eine
Einsicht, die Theologen und Wissenschaftler rational nicht zu begründen
vermögen.
Eltern ist es als erstes aufgegeben, bei einem Kind zu fördern und zum
Wachsen zu bringen, was wurzelhaft angelegt ist. Eltern können bei dieser
Aufgabe kläglich versagen. Die Kirchen haben es auf weiten Strecken auch
nicht verstanden, den im Menschen angelegten religiösen Sinn zu
entfalten, "empor zu bilden". Sie haben es versäumt, die religiöse
Antenne zu wecken für jene Macht (Gottes), die schon immer im Leben des
Menschen unaufdringlich wirksam ist (unabhängig von kirchlicher
Verkündigung, Liturgie, Sakramentenspendung...). Stattdessen haben sie
vorschnell die Menschen mit moralisierenden und theologischen Kenntnissen
überfrachtet. Das hat zu einer religiösen Überfütterung geführt mit
dem Ergebnis der religiösen Verarmung und Unterernährung in dem
Augenblick, in dem aufgeklärte Menschen sich vom Tropf der Kirchen frei
machten. "Ich bin ein gläubiger Mensch, aber mit der 'Amtskirche' will ich
nichts zu tun haben". Diese weit verbreitete Aussage ist bezeichnend für die
heutige Zeit. Die Kluft geht so weit, dass selbst suchende Menschen am
wenigsten Hilfe und Antwort von den Kirchen erwarten....
Die vorrangige Aufgabe der Kirchen müsste es auf Zukunft hin sein, Maßnahmen
zu ergreifen, die im menschlichen und religiös-sittlichen Bereich jenes
Vertrauenspotential schaffen, welches Eltern mit anderen Möglichkeiten
bei ihren Sprösslingen brauchen. Wo dieses Potential fehlt, werden die
Kirchen zum Hindernis des Glaubens. Erst wo die "religiöse Antenne" des
Vertrauens vorhanden ist, können Menschen, wenn sie wollen, sich mit
theologischen Fragen und Problemen auseinandersetzen und sich von
Katechismen inspirieren lassen. Die Frage: wie viel Theologie, Dogmatik,
"Lehre der Kirche" braucht der Mensch?, kann dann jeder für sich selbst
entscheiden. Lebensnotwendig ist all das nicht. Notwendig ist und bleibt,
allen Widerwärtigkeiten des Lebens zum Trotz, jenes Ur-Vertrauen, welches
dem Menschen eine innere Kraft, Gewissheit und Zuversicht gibt, auf
seinem Weg zu bleiben – jenseits aller Lehren und Ideologien.
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