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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Ansichten eines Außenseiters (VII):
Wie die Dynamik des Konzils kirchenamtlich verspielt wurde.

Oktober 2006

Christen, die sich ein "historisches Gedächtnis" bewahrt haben, fragen sich oft, wie es geschehen konnte, dass nach der Dynamik des Konzils – 40 Jahre danach – die Kirchen und Gemeinden von einer tödlichen Lähmung befallen sind. Diese Frage stellt sich auch im Blick auf Papst Benedikt XVI. Dieser hat als "fortschrittlicher Theologe" beim Konzil mitgewirkt; ist später – in den 1968er Jahren – auf die sog. "konservative Linie" umgeschwenkt. Als Papst tritt er heute mit einer großen Offenheit zur "Ökumene" auf, zum "Dialog mit den Religionen", zur "Erneuerung des Glaubenslebens" usw. Auffallend ist, dass es stets an konkreten Schritten und Maßnahmen fehlt. Hilflosigkeit – bei aller persönlichen Integrität? Einfaches Abschalten gegenüber "progressiven Forderungen", wie sie mit wachsender Langweiligkeit immer wieder gestellt werden: gemeinsames Abendmahl; Frauendiakonat und -priestertum; Aufhebung des Zölibates; positive Einstellung zu neuen "eheähnlichen Gemeinschaften" usw. Der Papst – mit dem Blick auf andere Konfessionen – weiß, dass mit dem Sich-Einlassen auf solche Forderungen nichts oder kaum etwas gewonnen wäre. Die "Dynamik des Konzils" bliebe weiterhin verspielt. Aber wie und warum wurden die Chancen von damals, sogar "kirchenamtlich", vertan? Was müsste geschehen, um die "Lage" wieder in den Griff zu bekommen?

1. Die Unfähigkeit, "pastoral" zu denken und zu handeln.

Man kann gar nicht genug daran erinnern, dass das Konzil ein pastorales Konzil sein wollte. Kurzschlüssig haben viele daraus den Schluss gezogen, dass es nicht um die Formulierung neuer Dogmen gehen sollte, nicht um ein neues Beharren auf alten Glaubenssätzen. Das hat den Unmut der "Konservativen" heraufbeschworen – damals eine Minderheit, der es im Laufe der Jahre immer mehr gelang, die vatikanischen Schlüsselpositionen zu besetzen, um die Beschlüsse der Mehrheit gezielt in Vergessenheit geraten zu lassen. Dabei schienen sie sogar im Recht. Denn Jahrhunderte lang war das Geschehen in der Kirche vom dogmatischen Denken bestimmt worden. Dogmatik: die "Krone der Theologie"! Durch sie konnte jedermann erfahren, was die "Lehre der Kirche" ist; was "Glaube" bedeutet: nämlich das Festhalten und Für-wahr-halten alles dessen, was kirchenamtlich als verbindliche Lehre verkündet wird. Solches Denken hatte sich bewährt. Wer davon abließ, konnte nur am Prozess der Zersetzung des Christentums beteiligt sein. So erschien auch das Konzil wie ein "Unfall in der Geschichte"; wie ein Verlassen des Bewährten. Es wurde und wird streckenweise hingestellt als Ursache für den Niedergang der Kirche. Deshalb der Ruf nach Restauration. In der Erneuerung der Liturgie (z.B. des "Tridentinischen Messritus") soll sie ihren Ausdruck finden....

Die auf solche oder ähnliche Weise heute die "Neue Sehnsucht nach dem alten Ritus" kirchenamtlich schüren, begreifen nicht, dass sie vom Konzil nichts begriffen haben. Sie begreifen auch nicht, was das Konzil seismographisch genau begriffen hatte: eine neue Zeit hat begonnen; sie ist längst dabei, das Christentum in das Abseits der Geschichte zu verbannen! Deshalb kann man nicht versuchen, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen (Mt 9.17). Anders ausgedrückt: auf die Herausforderungen der Zeit kann man nicht mit alten Antworten reagieren. Die Menschen denken und fühlen heute anders als in früheren Zeiten. Mit dogmatischen Sätzen – so wahr sie sein mögen – ist den Gegebenheiten nicht mehr beizukommen. Je mehr es dennoch versucht wird, desto aussichtsloser wird die Verkündigung der Kirche. Das Christentum verliert immer mehr an Boden; die Menschen laufen immer mehr davon. Sie mögen "materialistisch" oder auch "egoistisch" sein – hinzukommend steht ihnen eine Kirche gegenüber, die unwichtig geworden ist. Hat sie die "Zeichen der Zeit" nicht zu deuten vermocht, von denen das Konzil immer wieder gesprochen hatte?

2. Pastorales Denken ist "anti-autoritär".

Dogmatisches Denken ist im Grundansatz ein autoritäres Denken. Es ist vergleichbar mit dem staatlich gelenkten Denken autoritärer Systeme, in denen der Monarch, der Diktator oder die Parteidoktrin alles Leben bestimmen. Es hat den Vorteil gegenüber Demokratien, dass es "Einheit" und "Geschlossenheit" ermöglicht, vor allem dann, wenn ein Gemeinwesen in die Vielzahl von Einzelinteressen und Gruppenegoismen auseinander zu fallen droht. Weil es Demokratien wegen der Mehrheitsverhältnisse oft nicht gelingt, Probleme einfach zu lösen, gibt es immer wieder Minderheiten, die nach dem "starken Mann" rufen. In Diktaturen und "Orwell- Staaten" ist er allgegenwärtig...

Was in früheren Monarchien selbstverständlich war – nämlich die Leitung eines Staatswesens unter einer straffen Führung - , ist in der mittelalterlichen Kirche nicht nur übernommen worden, sondern hält sich auch bis in die heutige Zeit. Es ist allgegenwärtig, wenn von Glaube, Weitergabe des Glaubens, Ökumene usw. die Rede ist. Eine einzige Leitung mit einer einheitlichen Doktrin (fälschlich mit "Glaube" gleichgesetzt) war in früheren Zeiten die Stärke der Kirche. Heute löst sich diese Stärke auf, wird zur tödlichen Falle. Dabei mag der Papst als attraktive Symbolfigur für Hoffnungen und Sehnsüchte noch eine Rolle spielen; aber dessen dogmatisches Denken wird kaum zur Kenntnis genommen. Als "autoritäres Denken" ist es von abstrakten Begriffen wie "Wahrheit", "Objektivität", "Unfehlbarkeit"... bestimmt. Seine normativ verbindlichen Aussagen sind darauf angelegt, das vielfältige Denken von Menschen zu vereinheitlichen und die Vielfalt des Lebens zu zerstören. Die Verarmung und Verkümmerung des Glaubens werden so kirchenamtlich vorangetrieben.

Dagegen stehen Menschen in demokratischen Gesellschaften, die darauf angelegt sind, das jeweils Einmalige, Konkrete und Besondere ihres Lebens ernst zu nehmen. Die Vielfältigkeit macht ihr Leben bunt und reich, aber auch anstrengend und gefährlich. In der Vielfalt heutiger Stimmen und Meinungen ist jeder darauf angewiesen, sich seine eigene, ihm allein gehörende Wirklichkeit und Lebenswelt zu schaffen. Aus ihr heraus denkt, urteilt, handelt er. Mit ihr fühlt er sich zunächst immer in Einklang. Mit ihr kann er Freunde und Gleichgesinnte gewinnen; aber auch Feinde und Gegner, wenn letztere mit uneinsichtigen Phantasien, Einbildungen, fixen Ideen, objektiven Wahrheiten und allgemein gültigen Erkenntnissen zu beeindrucken versuchen. Diese werden als Zerstörung der eigenen Wirklichkeit empfunden, als Bedrohung der mühsam erkämpften persönlichen Lebenseinstellung.

Die Kirche ist seit langem dabei, das überall gängige demokratische Denken und Empfinden zu ignorieren. Dadurch ist eine subtile Gegnerschaft entstanden zwischen Kirche und moderner Lebenswelt. Wären die demokratischen Lebenseinstellungen ernst genommen worden, hätte die Kirche Abstand nehmen müssen von ihren herkömmlich hohen Ansprüchen, zumal auch ihre Mitglieder von der Grundvoraussetzung heutiger Wissenschaft und Technik geprägt sind, nach denen es keine unfehlbaren objektiven Wahrheiten und Erkenntnisse gibt. Statt zu indoktrinieren, wäre eine ganz andere Aufgabe das Gebot der Stunde gewesen: Wege aufzuzeigen und kleine Schritte zu entwickeln, die zum Besseren an Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit... in der jeweiligen Lebenssituation führen.

3. Pastorales Denken ist "ökumenisch".

Man kann sich nicht genug die Hilflosigkeit vor Augen führen, wenn vom Dialog zwischen den Religionen und Konfessionen die Rede ist, obwohl das Wort inzwischen zu einem Modewort geworden ist. Konkret geht meistens nichts vorwärts. Warum? Weil jeder auf seinem "dogmatischen Standpunkt" besteht. Alle wollen die "Wahrheit" für sich gepachtet haben. Wenn es trotzdem gelegentlich gelingt, dass "Einigkeit" erzielt wird (z.B. in der Rechtfertigungslehre), dann bleibt das Papier ein totes Dokument. Was auf hohem theologischen Niveau erreicht wird, findet bei demokratisch denkenden Menschen keinen Widerhall...

Nicht umsonst gibt es heute in Gruppen und Gemeinden mehr Ökumene als in den Chefetagen der Kirchen. Da tun sich Menschen einfach zusammen. Sie lesen die Bibel, beten und singen, tauschen ihre Erfahrungen aus, tanzen, feiern gemeinsam Feste, Gottesdienste... Was sie vom Glauben und vom Christsein verstanden haben, ist nichts anderes, als was die Bibel sagt: es geht um die Praxis der Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit. Über allem scheint der Satz Gültigkeit zu haben: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es". Dabei wird nicht gefragt, welchen Katechismus, welches Gebetbuch jemand hat... Sondern man hält Ausschau nach Christen gleicher Gesinnung und Interessenlage, die etwas zu tun bereit sind, was Freude bereitet, was dem Frieden und Heil unter den Menschen dient.

Dass solches Denken und Tun bis in den "sakralen Raum" ihre Auswirkungen hat, wird immer mehr zum Dorn in den Augen der "Amtskirche" (die ihre Zügel aus den Händen gleiten sieht). Christen, die ihr Selbstverständnis wieder aus den Quellen des Biblischen entwickeln, haben keine Schwierigkeiten mit der eucharistischen Gastfreundschaft, mit der Berufung von bewährten Männern und Frauen in kirchliche Ämter, mit der Erneuerung der Liturgie unter menschennahen und lebensorientierten Voraussetzungen, mit einer Interpretation des Christlichen in nicht-theologischer, nicht-akademischer Sprache. Denn nicht die kluge Theologie, nicht ausgeklügelte Glaubensformeln machen das Christsein aus, sondern das, was herkömmlich "Nachfolge Christi" genannt wurde.

4. Die Zukunft hat "unten" schon begonnen.

Es wird heute vielfach vom Entstehen eines privaten Christentums gesprochen, welches Individuen dazu verhilft, die elementaren Erfahrungen der Kontingenz des Lebens sinnvoll zu verstehen und zu bestehen. Es hebt sich ab vom herkömmlich kirchlichen Christentum wie auch vom Kulturchristentum, welches die Öffentlichkeit beeinflusst. Im "privaten Christentum" wird das Religiöse als "etwas höchst Privates, Innerliches" verstanden. In ihm entwickelt sich der "subjektive Sinn" von Individuen - eine religiöse Individualität, Gewissensreligiosität und Frömmigkeit jenseits der Institutionen und ihrer theoretischen Ansprüche. Das Individuum, darauf angelegt, eine "subjektive Plausibilitätsstruktur" aufzubauen und sich eine "subjektive Gewissheit" zu verschaffen, entzieht sich jedem generalisierenden Zugriff durch eine höhere Instanz.

Während sich die religiösen Individuen jedem "höheren Zugriff" verweigern, bleiben sie dennoch beeinflusst vom Kirchen- und Kulturchristentum – gegenwärtig sehr stark präsent in Form einer Medienreligion, repräsentiert von einer papalen TV-Ikone. Man könnte von vier Berührungspunkten zwischen Individuen und Kirchenchristentum sprechen:

  1. durch den Kontakt mit der Lehre der Kirche. Obwohl hier in Predigt und Katechese die meisten Anstrengungen gemacht worden sind, scheint das Ergebnis minimal. Sind deren Fragestellungen zu theoretisch, zu akademisch-abstrakt? Trifft die Lehre der Kirche zu wenig die Interessenlage der Menschen, wie es jüngst die Sinus-Studie wieder deutlich gemacht hat? Trotz der großen Aufmerksamkeit für Benedikt XVI. herrscht ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kirche und ihren Inhalten...
     
  2. durch die Kenntnis der kirchlichen Moralvorstellungen über Ehe und Familie; Sexualität; Homosexualität; gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften; Zölibat; "donum vitae" usw. Es geht bei allen diesen Streitfragen nicht darum festzustellen, wer Recht oder Unrecht hat. Tatsache ist, dass die Betroffenen ihre eigenen Entscheidungen und Optionen treffen. In vielen der genannten Bereiche haben sich die Menschen schon längst von der Kirche verabschiedet.
     
  3. durch Riten, Symbole und Feiern der Liturgie. Diese werden bei verschiedensten Anlässen gerne in Anspruch genommen, vor allem, wenn sie "feierlich" und "ansprechend" sind. J. Ratzinger u.a. meint, dass durch die Liturgiereform des Konzils der Niedergang des Christentums eingeleitet wurde; dass durch die Rückkehr zu den "alten Riten" eine Erneuerung und Erstarkung des Glaubens wieder möglich würden... Solche Ansichten und entsprechende kirchenpolitische Maßnahmen dürften sich als Irrweg erweisen. Liturgien bedürfen immer der Einbettung ins Leben; müssen immer das faktische Leben zur Sprache bringen, wenn sie nicht ins Irrationale, Exotische, Nostalgische und damit Wirkungslose abgleiten sollen...
     
  4. durch das Kennenlernen wirklich gelebter (nicht nur feierlich postulierter) Werte. Was Christen, ob kirchlich gebunden oder auch nicht, leisten im Blick auf Kranke, Kinder, Waisen, Entrechtete, Obdachlose, Gescheiterte, Hilfsbedürftige – sowohl im gesellschaftlichen wie auch familiären Umfeld – würde sich lohnen, in allen Lebensbereichen aufzuspüren. Es hat viel mit der Bergpredigt Jesu (Mt 5.1- 12) und mit seiner Gerichtsrede (Mt 25.31-46) zu tun: Nackte bekleiden, Hungrige speisen, Kranke besuchen, Gefangene befreien, Verzweifelte trösten... Durch solches "Tun der Wahrheit" werden Menschen Mitgestalter am Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen, so wie es Jesus verkündet und praktiziert hat.

Hier böten sich entscheidende lebensbegleitende Aufgaben für Theologie, Liturgie, kirchenpolitische Maßnahmen – nicht nur, weil sie Menschen in ihrem Engagement ernst nehmen, sondern auch, weil eine innere Übereinstimmung mit den Anliegen des Evangeliums deutlich erkennbar wäre. Im Suchen dieser inneren Übereinstimmung hätte die Kirche ihren größten Chancen auf Zukunft hin. Bisher vermittelt sie jedoch den Eindruck, dass bei ihrer Selbstdarstellung, ihrer hierarchisch gestaffelten Ämter, das tatsächliche Engagement der Christen eine nur zweitrangige Aufmerksamkeit verdient – meistens bei Jubiläen und in Sonntagsreden. Ob in vielen Belangen der Kirche die Anliegen Jesu nicht ins Gegenteil verkehrt wurden? – Diesem ging es um das Werden und Wachsen des Reiches Gottes mitten in der Welt. Daraus ist der Selbsterhalt der Kirche und ihrer Ämter geworden. Je mehr dieses Hauptanliegen bestehen bleibt, desto sicherer gleicht es einem "begeisterten Selbstmord".

 


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