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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Unglaublich, was Christen glauben (X).

Juli 2004

HIn der Passions- und Osterzeit waren die Zeitungen voll von Gedanken über den Kreuzes- und Auferstehungsglauben der Christen. Die einen bezeichneten – voreilig – das Kreuz als Zeichen des Heils und der Auferstehung zu neuem Leben, was selbst Christen auf Anhieb nicht einsichtig ist. Andere ärgerten sich über die weinenden und klagenden Gestalten der Passion; ebenso wie über die Blut bespritzte Dornenkrone… Ihnen wären Menschen der Revolte und des Aufruhrs gegen Gott und alle Kreuze der Welt lieber gewesen – eine Haltung, die sich auch im Evangelium findet. Folgender Text knüpft an Mathäus 16.21-27 an. Er möge also bitte nur gelesen werden, wenn der Mathäustext hinzugenommen wird.

Solche Mentalitäten liebten das Magische, seien anti-aufklärerisch, anti-intellektuell. Vielfach unterstützt mit Geld und bedacht auf öffentliches Aufsehen, würden sie leicht zu einer drohenden Kirchen- und Christentumsspaltung, "ohne Knall, Konzil und Luther". Sie könnten sich schnell zu einer Kampfes-Religion entwickeln, dem militanten Islamismus sehr verwandt. - Und die großen Kirchen Europas und Nordamerikas? - Sie leiden an chronischer Glaubenssklerose...

Auf der einen Seite also Aufbruch, Neubeginn oder Modeerscheinung statt wirkliche Besinnung auf das Wesentliche? Auf der anderen Seite Niedergang, Resignation? - An solchen Fragen scheiden sich die Geister. Was Menschen sich als geistbeseelt einreden oder erfahren, kann leicht Selbsttäuschung sein, Massensuggestion - aufwendig betriebene Verdeckung, Verdrängung und Kompensation von Selbstzweifeln und persönlichen Krisen. Die Frage nach der wirklichen Glaubwürdigkeit einer Religion ist damit noch lange nicht berührt - auch durch aufwendige kultische Aufmärsche noch lange nicht beantwortet. Dennoch stellt sich in Umbruchszeiten die Frage auf radikale, unverzichtbare Weise.


X. ....in der wachsenden Erkenntnis der Grenzen einer Religion.

1. Die Unterscheidung zwischen "Glaube" und Ausdrucksformen des Glaubens.

Es ist erstaunlich, mit welch vitaler Kraft die religiöse Frage seit Menschengedenken gestellt wird. Sie hat dazu beigetragen, dass es die Religionen von Anfang an gibt und dass es sie wahrscheinlich auch bis zum Ende der Welt geben wird. Warum? Weil der Mensch unheilbar religiös ist? Weil er nie aufgehört hat und nie aufhören wird, nach dem zu fragen, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (wie Goethe es formuliert)? Weil der Mensch nie zufrieden ist mit Antworten auf die Frage nach seinem Woher und Wohin - Antworten, die immer nur als "vorläufig" und "vorübergehend zufriedenstellend" entlarvt werden?

Tatsache ist: der Glaube ist so alt wie die Menschheit selbst. Allerdings haben religiöse Vorstellungen schon immer sehr verschiedene Ausdrucksformen gekannt. Bei den Natur-Völkern war der Glaube an die göttlichen Kräfte der Natur vorherrschend. Für sie waren Blitz und Donner, Regen und Dürre, Wachstum und Fruchtbarkeit, Sonne, Mond und Sterne... nicht nur einfach "natürlich". Man vermutete in allem Geschehen das Wirken eines göttlichen Wesens. Sie wurden als gute und böse Geister, als Ahnen und Götter identifiziert. Zum Teil stieß solcher Viel-Götter-Glaube zum Ein-Gott-Glauben vor. Denn bei aller rivalisierenden Vielfalt am Götter- und Geisterhimmel wie in der Menschenwelt wurde auch "Einheit" entdeckt. Die Harmonie der Himmelskörper; der regelmäßige Auf- und Untergang der Sonne; der Wechsel der Jahreszeiten und Vieles Andere ließen den "großen Geist" vermuten, der hinter allem wirkte und über allem stand - der sich der vielen Gottheiten als "Mittler" bediente, um seine Ziele zu erreichen.

Der Ein-Gott-Glaube hat im AT des Volkes Israel eine beispielhafte Kraft und Dynamik entfaltet. Der Glaube an den einen Gott ist dem Volk Israel nicht vom Himmel gefallen. Er war das Ergebnis eines langen Ringens im Kampf gegen die vielen rivalisierenden Gottheiten, die die Menschen bedrohten und die Stämme Israels in Feindschaft gegeneinander aufwiegelten. Das Werden und Wachsen im Glauben an einen Gott hatte also auch eine politisch-gesellschaftliche Bedeutung. Er sollte die Menschen und Völker zusammenführen und einen.

Solcher Glaube bedurfte aber auch eingängiger und verständlicher Ausdrucksformen, damit sich die Menschen tatsächlich zusammenfanden. Während der Glaube selbst als eine Gabe, als ein Geschenk Gottes angesehen wurde, waren dessen Ausdrucksformen sehr von menschlichen Vorstellungen und Voraussetzungen bestimmt - je nach menschlicher Lebenslage, nach Kultur und darstellerischem Vermögen.

Eine solche Ausdrucksform des Glaubens ist im AT zum Beispiel der Schöpfungsbericht. Die Entstehung der Welt, so wie sie im Buch Genesis beschrieben wird, besitzt kein biblisches Urheberrecht. Im religiös-kulturellen Umfeld Israels gab es bereits eine Vielzahl von Deutungsversuchen über das Werden und Entstehen der Welt. Schöpfungsmythen dieser oder jener Art finden sich in allen archaischen religiösen Vorstellungen. Das Volk Israel, im Glauben an den Einen Gott, wählte einen solchen Schöpfungsbericht zum adäquaten Ausdruck des eigenen Glaubens. Gott, der allmächtig und unermesslich schöpferisch ist - er schuf Himmel und Erde innerhalb einer Woche. Am siebten Tag ruhte Gott - wiederum Ausdruck und religiöse Bestätigung einer weisen Lebenserfahrung, nämlich dass der Mensch nach getaner Arbeit der Ruhe und Muße bedarf, um sein Leben neu zu ordnen; um es nicht gedankenlos und oberflächlich zu vergeuden; um Erfahrungen aufzuarbeiten und zu vertiefen, die eine "neue Sicht" gewinnen lassen für bevorstehende Taten und Aufgaben...

Man könnte auch die zehn Gebote als Ausdrucksformen einer langen gelebten Glaubenserfahrung bezeichnen. Denn die Frage stellte sich: wie muß das Leben aussehen, nach welchen Maßstäben und Gesetzen gestaltet werden, damit das gläubige Volk vor Gott bestehen kann? Die Antwort darauf wurde nicht allein "von oben" gegeben. Sie ist das Ergebnis von zeitlich langen Erfahrungen, von Einsichten und Überzeugungen. In ihrem Glauben, dass Gott ein Gott des Bundes und der Freundschaft ist, der geschichtliche Wege mit seinem Volk geht und es begleitet, konnten die Menschen die zehn Gebote bejahen und akzeptieren als Aufgaben, die Gott selbst gestellt hat. So ließen sie Moses, den Führer des Volkes, auf den Berg Sinai steigen. Dort wurde ihm die Steintafel überreicht. Diese schärfte dem Volk ein, was zum eigenen Wohl im Willen Gottes verankert ist: Du sollst keine fremden Götter neben mir haben; Du sollst nicht töten; Du sollst kein falsches Zeugnis geben...

Das AT ist voll von Aussagen über Gott, die der menschlichen Eingebungskraft des Glaubens entspringen. Sie sind keine historischen Wahrheiten, aber sie haben einen historischen Kern und Anlaß. Da ist auf der einen Seite der Glaube an den Einen Gott. Er ist als Gabe und Fähigkeit von Gott gegeben und geschenkt. Auf der anderen Seite sind jene Gottesbilder und Weltanschauungen, die sehr viel mit menschlichem Vermögen zu tun haben. Sie sind nicht identisch mit dem Glauben selbst. Deshalb sind sie auch wandelbar; können irgendwann einmal ihre Aussagekraft verlieren; bedürfen der Aufarbeitung und Neuinterpretation. Bisweilen geraten sie einfach in Vergessenheit. Den Religionen ist dann die Aufgabe gestellt, den Glauben weniger durch Traditionserhaltung als vielmehr durch Traditionsstiftung zu erneuern.

Vor allem in Krisen- und Umbruchszeiten scheiden sich gerade an diesem Punkt die Geister. Die einen sind leicht bereit - manchmal sogar voreilig und überstürzt - , die so und nicht anders gewordenen Ausdrucksformen des Glaubens zu relativieren oder sogar preiszugeben, um sie durch neue (ungewohnte und unerprobte) zu ersetzen. Die anderen, meist die im Guten allzu Verhärteten und Unbeweglichen, leicht "Fundamentalisten" genannt, lehnen de facto die Unterscheidung zwischen Glauben und dessen Ausdrucksformen ab. Für sie ist das "Aufweichen" solcher zeit- und situationsbedingten Ausdrucksformen identisch mit dem Verlust des Glaubens. In der Angst, mit dem einen auch das andere zu verlieren, sind sie unfähig zu etwas Neuem. Der Beziehungsglaube ist bei ihnen schon zu sehr Buchstabenglaube geworden. In ihren Augen kann Gott die Welt nicht anders geschaffen haben als in sieben Tagen. Und die zehn Gebote sind steinerne Tafeln, die durch keine neuen menschlichen Erfahrungen bereichert werden können. Der Erhalt des status quo ist bei ihnen oberste Maxime - gegenüber dem Wandel der Zeit und Lebenseinstellungen auf Unbeweglichkeit und Defensive eingestellt. Auf diese Weise geschieht auf ungewollte Weise die Zerstörung einer Religion, die zu erhalten und zu retten ihr oberstes Ziel ist - eine Tragik der Geschichte, die sich auch gegenwärtig im Christentum wiederholt.

2. Das Christentum: (k)eine Schriftreligion?

Das Christentum wird vorschnell als Schriftreligion vorgestellt - ähnlich dem Judentum und Islam. Denn diese drei Weltreligionen haben ihre "heiligen Schriften" - Offenbarungen Gottes an die Menschheit. Deshalb heißt es nach jeder Lesung in einem christlichen Gottesdienst: "Wort des lebendigen Gottes" - eine Aussage, die den Eindruck hinterlässt: was da vorgelesen wird, hat Gott gesprochen, stammt aus dem Munde Gottes. Deshalb ist ihm mit größter Ehrfurcht und Andacht zu begegnen.

Wenn man allerdings der Sache näher auf den Grund geht, besteht der Glaube der Christen zunächst nicht aus dem Glauben an eine Schrift, sondern ursprünglich aus dem Glauben an eine Person. Die ersten Christen lernten den Glauben an Jesus Christus, an seine heilsamen und für die Menschheit erlösenden Worte und Taten. Ihr personales Glaubensverständnis hatte zur Folge, dass man sich mit dieser Person immer wieder auseinandersetzen musste, um deren Anliegen besser und tiefer zu verstehen - auch sehr unterschiedlich, je nach Situation und Lebenslage. Daraus entwickelte sich auch das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl der Christen in der Welt. Es hieß Nachfolge Christi. Es bestand darin, dass Christen hauptsächlich dafür da sind, dass durch sie die rettenden und heilsamen Worte und Taten Jesu in der Geschichte fortgesetzt werden - als Licht auf dem Berge und Salz der Erde.

Was die "heiligen Schriften" angeht, standen diese nicht am Anfang des nachösterlichen Fragens und Sich-Erinnerns an die Rolle und Bedeutung Jesu, sondern sie waren das Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung, die sich auf Leben, Tod und Auferstehung konzentrierten. So wird auch der Glaube heute nicht durch das Lesen und Diskutieren der Schrift erneuert - es sei denn, dass solche Aktivitäten inspiriert und begleitet werden von der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem, der der Ursprung und die Quelle des Glaubens ist. Aus solcher Auseinandersetzung muß ein existentieller Zugang zum Christentum erwachsen. Wer meint, es spekulativ begreifen zu können, begreift es nicht - oder eben nur spekulativ, was das Christentum für die Mehrheit irrelevant macht.

Im personalen Glauben an Jesus Christus entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte Ausdrucksformen des Glaubens. Diese entsprangen menschlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten. Man könnte theologische Sätze über Gott und die Welt solche Ausdrucksformen des Glaubens nennen. Auch bestimmte Symbole, Riten und Liturgien. Von den sieben Sakramenten weiß man, dass sie von Jesus nicht eingesetzt wurden. Auch die Kirche wurde von Jesus nicht gestiftet. Auch die Ämter nicht.

Dennoch hatte und hat das alles seine Berechtigung. Denn der Glaube verlangt zu allen Zeiten adäquate Ausdrucksformen. Problematisch werden diese erst, wenn sie im Laufe der Zeit aufhören, "adäquat" zu sein. Das heißt: für Menschen einer bestimmten Zeit einmal außerordentlich wichtig und tragfähig fürs Leben, hören sie auf, es zu sein. Die "Unfähigkeit zu trauern" besteht dann darin, das Phänomen des Wandels nicht als solches zu erkennen bzw. erkennen zu wollen. Ebenso die Chancen nicht, die sich darin auftun. Stattdessen verbündet es sich mit der Angst, dass mit dem Verlust herkömmlicher religiöser Einstellungen auch der Glaube abhanden kommt. Es beginnt das Jammern über den "Unglauben" in der Welt, über den Niedergang der Werte und den "Säkularismus", dem gegenüber nicht nur gläubige Menschen wie gelähmt erscheinen, sondern auch Gott unfähig und ohnmächtig zu sein scheint. Dabei wird Eines nicht beachtet: wenn menschliche Ausdrucksformen des Glaubens ihre Kraft verlieren - warum sollten die Menschen keinen Glauben mehr haben, der doch von Gott kommt?

In Krisenzeiten melden sich die schon anfangs erwähnten Gegenreaktionen: anti-intellektuell, charismatisch,, pfingstlich, fundamentalistisch... Als Missbrauch des Christentums verbreiten sich heute eine Wellness- und Wohlfühl-Spiritualität; ebenso Themen reiner Innerlichkeit ohne Bedacht auf gläubige Lebensformen. Für Gott werden Mega-Happenings veranstaltet. Sie lassen das Alltägliche in die Bedeutungslosigkeit versinken - oft verknüpft mit eschatologischen Erwartungen und der Vorstellung, "dass der Herr bald wiederkommt". Nicht bedacht wird dabei, dass sich seine Wiederkunft wieder einmal für Jahrhunderte verzögern könnte...

Das Gebot der Stunde wäre es, nach dem Grund des christlichen Glaubens überhaupt zu fragen, d.h. nach jener geschichtlichen Person, die es immer wieder neu zu erschließen und zu entdecken gilt. Dieser Jesus von Nazaret war nicht das, was gerne aus ihm gemacht wird: kein Mystiker, kein Dogmatiker, kein Rechtsgelehrter, kein Enthusiast und kein Charismatiker nach heutigen Phantasie- und Wunschvorstellungen. Er hat stattdessen das Leben des Menschen in einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, bis es irgendwann einmal seine Erfüllung findet. Deshalb hat er nach den Wunden und Krankheiten bei Menschen Ausschau gehalten, nach Fehlern und Mängeln, um gerade darin die Möglichkeiten aufzuzeigen, dass das Reich Gottes schon "mitten unter uns" zu sein vermag (Mt 12.28; Lk 11.20 und 17.21). Es kommt immer darauf an, dass Heilendes und Erlösendes an Menschen geschieht, dass "böse Geister" ausgetrieben werden und dass alles Menschenwidrige und Gottferne durch ein neues Denken und Handeln überwunden wird (vgl Apg 2.17-21).

Man könnte das Zentrale der Botschaft Jesu eine Ethik der offenen Augen und Ohren nennen, zu der jeder Mensch befähigt sein kann. Wenn nicht alles täuscht, würde ein wachsendes Bewusstsein in dieser Richtung, verbunden mit dem "Tun der Wahrheit" in jeder nur denkbaren Situation, einen Ausweg aus der Krise bedeuten. Eine solche Orientierung wäre jedem Menschen, gleich welchen Standes und welcher Bildung, leicht verständlich und einsichtig. Denn das Christentum war von Anfang an keine Religion der Experten, der Besserwisser und "Hellseher", sondern eine Religion aller Menschen guten Willens. Wo der "gute Wille" von Menschen nicht mehr mobilisiert und motiviert wird, da führen großgeplante Programme und theologische Konzepte zu nichts.

3. Zuerst die Praxis der Liebe, dann "die Wahrheit".

Seit Jahrhunderten ist die Auffassung verbreitet worden, eine Religion bzw. Konfession stehe und falle mit der Frage nach der Wahrheit. Deshalb wurden Philosophen und theologische Experten mobilisiert, die sich auf die Suche nach der Wahrheit machten. So entstanden die verschiedenen Religionen und christlichen Konfessionen, von denen jede für sich die Wahrheit beansprucht. Die Konsequenzen sind allzu bekannt: unterschiedliche und sich widersprechende "unfehlbare Lehrämter"; Religionskriege um der jeweiligen "Wahrheit" willen; mühsame ökumenische Zusammenkünfte und "Dialoge" mit dem Ergebnis: viel Papier und wenig Effektivität! Nicht zu Unrecht hat der Ökumenische Kirchentag in Berlin (2003) solche "Dialoge" als "diplomatisch weichgespült", als "Religionspolitologie", als "interreligiöse Schummelei" enttarnt. Denn wie können Absolutheitsansprüche, der Wille zur Rettung traditioneller Kirchlichkeit und vertrauter Dogmatik realistisch dialogfähig machen? Das Dilemma: die Quadratur des Kreises.

Die Frage wurde gestellt: Ist Jesus Christus noch zu retten? - jenseits "dogmatischer Verkrustungen"? Die Menschen von heute haben auf ihre Weise bereits eine Teilantwort gegeben. Sie wenden sich von den "dogmatischen Verkrustungen" ab. Vieles wird nicht mehr für wahr gehalten, was aber um der Kirchlichkeit willen für wahr gehalten werden müßte. Dabei geht es noch nicht einmal darum, etwas als falsch zu bezeichnen, was offiziell für wahr angesehen werden müßte. Die Tatsache, dass man sich einfach nicht mehr mit herkömmlichen Wahrheiten beschäftigt bzw. sie in Vergessenheit geraten läßt, deutet darauf hin: Vieles mag noch so wahr sein; aber es ist nicht wichtig!

In der heutigen Situation steht primär die Suche nach der anderen "Teilwahrheit" an: die Menschen sehnen sich nach glaubwürdigen Vorbildern, nach "Lebe-Meistern" statt zu viel "Lehr-Meisterei". Somit hätten die heilsamen und erlösenden Worte und Taten Jesu durchaus "Zukunft", weil das Schicksal des Menschen und der ganzen Menschheit steht und fällt mit dem Gelingen oder Misslingen der Liebe bzw. "größeren Gerechtigkeit". Das ist keine theoretische Erkenntnis, sondern eine existentielle und lebensrettende.

Die Tätigkeit Jesu als Wanderprediger hatte nichts anderes im Sinn, als den Menschen positiv die Zuwendung Gottes deutlich zu machen. Von Johannes dem Täufer getauft und beeinflusst, unterschied sich Jesus in einem entscheidenden Punkt von ihm: jener machte die Gerichtsdrohung Gottes zum Gegenstand seiner Predigt. Jesus dagegen suchte die Menschen dort auf, wo sie lebten. Seine Heilungen und Wundertaten, seine Gleichnisse vom Sauerteig und der Saat, vom Salz der Erde und Licht der Welt... machten das Wirken und die Vergegenwärtigung Gottes mitten im Leben deutlich. Das "Reich Gottes", welches im Hier und Heute immer schon wachsen muß, duldet keinen Aufschub - genauso, wie man einem Kind nicht sagen kann, es solle sich mit 10 Jahren selbst entscheiden, welche Sprache es einmal sprechen will...

Sich über alle Konventionen hinwegsetzend, suchte Jesus Tischgemeinschaft und Freundschaft auch mit Menschen, die von der übrigen Gesellschaft weitgehend gemieden wurden. Er erregte sogar Aufsehen und Widerspruch, wurde als "Fresser und Säufer, Freund der Zöllner und Sünder" beschimpft. Dieses Verhalten war weder Schwäche noch Fehltritt, sondern war Bestandteil seines Programms. Denn jedem Menschen sollte es aufgegeben sein, bis zur Vollendung des Reiches Gottes seine Rolle zu finden und seinen Platz einzunehmen - je nach Talenten und Fähigkeiten. Jedes Menschenleben ist sozusagen eingebettet in einen großen geschichtlichen Zusammenhang, in dem es das Heil zum Wohl der Menschheit und zum Frieden in der Welt zu wirken gilt.

Die Tatsache, dass Jesus nichts Schriftliches hinterlassen hat, machte es notwendig, dass die Christen nach dem unvorhergesehenen Tod und der Auferstehung Jesu Erinnerungskapazitäten freisetzen mussten, um nachträglich zu erschließen, was für Jesus wichtig gewesen war. Daraus wurden die Evangelien. Sie sind aus der Erinnerung heraus gedeutete Interpretationen der christlichen Gemeinden bzw. der Schreiber der Evangelien. Das macht es auch so schwierig, den historischen Jesus ausfindig zu machen. Denn in den Schriften wird Tatsächliches mit frommem Denken vermischt, sodass das Historische zur Unkenntlichkeit verfremdet erscheint.

Was für Historiker unbefriedigend und frustrierend sein muß, bedeute für gläubige Menschen eine Chance. Denn dabei erweist sich das Christentum nicht als Schrift- und Buchstabenreligion, sondern als vom Geist Gottes beseelte Religion. Dieser hört niemals und zu keiner Zeit auf zu wirken und seinem Volk nahe zu sein. In diesem Geist haben die Kirchen späterer Zeiten fortgesetzt und weiterentwickelt, was im Keim grundgelegt zu sein schien. Es entwickelte sich das Verständnis der Eucharistie- und Abendmahlsgemeinschaft; aus der Vielzahl der Sakramente (bei Augustinus) die Siebenzahl; das mittelalterliche Stände-Bewußtsein in der Unterscheidung von Adel und Volk, Klerus und Gemeinde; die verschiedenen, z.T. konträren Theologien, Konfessionen und Schismen...

Wenn es wahr ist, dass das Christentum eine vom Geist Gottes geleitete Religion ist, dann zeigen bisherige Entwicklungen die zeitbedingte Bedeutung und Berechtigung des Gewordenen. Ihre Schwäche zeigt sich heute darin, dass aus der Reich-Gottes-Ethik Jesu eine Kirchen-Ethik und Kirchenverfassung nach staatlichem Vorbild geworden ist. Diese haben ihrerseits - bei aller zeitbedingten Stärke - die Uranliegen Jesu zum Verblassen und z.T. zum Verschwinden gebracht.

Wo sich ein Volk als Ganzes und jeder einzelne Mensch seiner Rolle in der Reich-Gottes-Ethik bewusst werden, da bahnen sich (unter dem Wirken des Geistes?) neue Entwicklungen an, die bisherige Formen von Kirche und Denkstrukturen auf den Kopf stellen. Es schwindet die philosophisch-theologische Gestalt des Christus als menschgewordener "Logos" wie des Christentums überhaupt - Produkte der hellenistischen Philosophie; es schrumpft ebenso die Zustimmung zum Zwei-Klassen-System der Kirche (welches es gesellschaftlich schon nicht mehr gibt) wie auch zur bisher selbstverständlichen Annahme von Traditionen und Riten. Die Kirche muß es - beim immer bedrohlicher werdenden "Glaubensschwund" - lernen, dass der herkömmliche Glaube an "entgültig und absolut richtige Wahrheiten" den faktischen Verhältnissen nicht überlegen ist. Es geht nicht darum, von fixen Ideen her die Wirklichkeit zu gestalten, sondern die Wirklichkeit hin zu dem zu orientieren, der die Wahrheit in Person ist (Joh 14.6).

Wo es gelingt, Menschen mit der Reich-Gottes-Ethik vertraut zu machen und sie einzubinden, da gewinnen auch Eucharistie und Sakramente wieder lebensgestaltende Kraft und heilsgeschichtliche Bedeutung. Jesus hat ja nicht gesagt: "Ich bin bei euch, wenn ihr predigt und Sakramente spendet", sondern: "wenn ihr in meinem Namen versammelt seid". Das Bewusstsein: "Er ist bei uns, wenn wir seine Denk- und Handlungsweise lernen", kann traditionsstiftende Kräfte, lebensnahe Liturgien und erneuerte sakramentale Feiern möglich machen. Denn Gott ist zunächst nicht punktuell-sakramental mit seinem Volk - es sei denn, dass er immer schon da war: in jeder Lebenszeit und Lebenslage.

Wo es um den notwendigen Paradigmenwechsel im Christentum geht, klingt die Gegenwartsanalyse von J. Habermas wie eine Aufforderung an die Kirchen. Er nennt die Welt, spätestens seit dem 11.Sept. 2001, "postsäkular". Überall spüre man die Gefahr, sich von den "Ressourcen der Sinnstiftung" abzuschneiden. Die eigentliche Katastrophe beginne immer dann, wenn Menschen (Christen) sich als unfähig und unwillig erweisen, in Gespräch und Dialog sich die Ressourcen neu zu erschließen, um sie tragfähig für das Hier und Heute, lebenswert für das Morgen zu machen.

H. Hendrix meint zur heutigen Zeit: " Die Gestimmtheit der Gegenwart... traut dem Wort allein immer weniger. Sie will es im persönlichen und gemeinschaftlichen Zeugnis bewährt sehen".


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