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Unglaublich, was Christen glauben (II).
Dezember 2003
Was ist das Wesen des Christentums? Für
viele lautet schlicht und einfach die Antwort: Jesus Christus.
Deshalb der große "Forscherdrang" nach dem "geschichtlichen
Jesus", nach dem, was er eigentlich gesagt, gewollt, getan hat -
jenseits und unabhängig von kirchenpolitischen Interessen. Ist
das traditionell gewordene Kirchentum - was Strukturen,
Theologie und Kirchenrecht angeht - die Fortsetzung und
Entfaltung des Ursprünglichen oder, wenigstens teilweise, dessen
Verkümmerung, Verdeckung, Verdrehung, Verdunkelung...? Sind aus
den ursprünglichen Impulsen "Menschensatzungen" und
"Kirchengebote" geworden (vgl. Mt 15.1ff und Mk
7.7ff)? - Solche Fragen stellen sich. Sie werden beantwortet mit einem Blick
auf den "Mann aus Nazaret", den "exemplarischen Menschen" (K. Jaspers),
vielfach "das den Menschen zugewandte Antlitz Gottes" genannt. Im Namen und
Auftrag eines anderen wollte er - unter Einbeziehung seiner Jünger und
Gefolgsleute - den Beginn einer "neuen Schöpfung".
II. Jesus Christus, "eingeborener Sohn".
1. Zugangswege zum "Mann aus Nazaret"
Seit 2000 Jahren kann man unterschiedliche Zugangswege zu jenem Mann aus
Nazaret feststellen, der die Mitte und der Motor christlichen Lebens ist
bzw. sein sollte. Zunächst waren es die Jünger und ersten
Zeitzeugen/Innen, die einen unmittelbaren Zugang zu Jesus hatten. Die
Evangelien berichten darüber, wie sie mit dem "Wanderprediger Jesus" durch
die Lande zogen. Sie hörten, sahen und bewunderten seine Worte und Taten. Am
schwersten zu begreifen war für sie die Botschaft von der anbrechenden
Gottesherrschaft. Damals war die Welt voller "Endzeiterwartungen". Viele
Juden rechneten mit der baldigen Ankunft des Messias in Macht und
Herrlichkeit. Jesus setzte dieser Vorstellung eine andere gegenüber: niemand
weiß den Tag und die Stunde (Mt 24.36ff). Das Reich Gottes ist immer schon
im Aufbrechen, wo die Liebe, Gerechtigkeit, Friedensbereitschaft...
praktiziert werden. Denn es gleicht einem Samenkorn, welches lange wächst,
bis es zur Fülle und Reife gelangt (Mt 13.31f). Damit ist auch die Rolle
der Christen in der Welt umschrieben: durch Taten des Friedens und der
Gerechtigkeit sollen sie wie Landarbeiter sein, die beim Säen der Saat des
Guten nicht müde werden (sollten).
Man könnte den zweiten Zugangsweg als die Zeit der mündlichen
Überlieferung umschreiben. Bevor die Schriften des NT´s aufgeschrieben
und kanonisiert wurden, lebten die ersten Christen aus der Erinnerung
an das, was Jesus gesagt und getan hatte. So entsprach es auch der
Erinnerungskultur Israels. Demnach richteten sie ihre Lebensweise aus.
Aus den unterschiedlichen Schriften des NT´s wissen wir, daß die
Erinnerungskapazität der Gemeinden sehr unterschiedlich war. So sind die
vier Evangelisten Mathäus, Markus, Lukas und Johannes weder stilistisch noch
inhaltlich identisch, wenn auch in manchen Passagen Ähnlichkeiten und
Parallelen vorhanden sind. Deren verschiedene "Theologien" wurden nicht als
störend und kontraproduktiv empfunden. Im Gegenteil! Die christlichen
Gemeinden wußten, worauf es allen ankommen mußte: auf die Fortsetzung der
Worte und Taten Jesu, wenn auch jeweils mit anderen Mitteln und unter
anderen Umständen. Unter ihnen bestand ein "Dialog" eigener Art: es war
kein, wie vielfach heute, theologisch-akademischer Dialog auf "hohem
Niveau". Man könnte ihn einen "Dialog" des gemeinsamen Nachdenkens
und Ringens nennen mit dem Ziel, christlich verantwortbare Lebensformen zu
entwickeln - stets in gemeinsamer Verantwortung gegenüber den Werte-Vorgaben
und den daraus resultierenden Postulaten des Evangeliums.
Die dritte Phase ist die bis heute einflußreiche Zeit
spekulativ-theologischer Durchdringung der Person und Botschaft Jesu.
Das 3. bis 5.Jahrhundert stellen die Epoche der christologischen
Auseinandersetzungen dar. Sie drehen sich um die Fragen: wer war Jesus
wirklich? War er Gottessohn und/oder Menschensohn? War er Gott im Gewand
eines Menschen? War er Mensch, der authentisch im Namen Gottes redete und
handelte? Die tragfähigste Antwort, die zum Glaubensgut der Kirche gehört,
lautet: er war eine Person in zwei Naturen: der göttlichen und der
menschlichen. Er war Gott und Mensch in Einem.
Die dogmatisch-spekulative Denkweise hat das abendländische Christentum über
Jahrhunderte geprägt. Heute wird es - vor allem im
asiatisch-lateinamerikanisch-afrikanischen Raum - von anderen Tendenzen
durchbrochen. Im christlichen Rest-Abendland ist ebenso eine vierte
Zugangsweise eklatant. Anknüpfend an der christlichen Mystik
eines Meister Ekhard, einer Theresia von Avila und eines Johannes vom Kreuz
wird sie getragen und gefördert von der Exotik buddhistischer Spiritualität.
Die herkömmliche christliche Theologie wird als zu spekulativ, abstrakt und
"verkopft" verstanden. Sie wird ergänzt und zum guten Teil ersetzt durch den
Wunsch nach unmittelbarer "Gotteserfahrung", nach Mystik und Meditation.
Viele religiöse Bewegungen bewegen sich heute in diesem Fahrwasser: es sind
religiöse Enthusiasten, Charismatiker, Freigeister, Biblizisten,
Fundamentalisten, der christlich-orientierte Zen-Buddhismus usw. Nicht
zufällig stellen Tageszeitungen die aktuelle Frage: wer ist in der heutigen
Weltsituation beliebter, wirkungsvoller, nachhaltig einflußreicher: der
Papst oder der Dalai Lama?-
2. Der "Sohn Gottes", der mystische Christus, der Guru.
In dieser mystischen Sicht der Dinge, an der sich bezeichnender-weise
Benediktiner-Mönche am fleißigsten beteiligen, ist Christus - so jedenfalls
sieht es bisweilen aus - nicht mehr der "Sohn Gottes", sondern der Guru,
der die Menschen an seiner mystischen Erfahrung teilnehmen läßt. Er ist
nicht mehr ein personaler Gott uns Menschen gegenüber, sondern der
Gott in uns; er ist die Tiefe und Mitte menschlichen Daseins.
Gott ist wie eine treibende Kraft im Universum, wie ein göttlicher
Urgrund, aus dem alles hervorgeht und zu dem alles zurückkehrt. Christus
wird dabei die höchste, intensivste und reinste Manifestation des
schöpferischen Geistes Gottes in dieser Welt.
Als Gott "in uns" muß sich der Mensch, durch Mystik und Meditation, auf den
Weg zu ihm machen. Dabei findet er ihn und sich selbst in seiner tiefsten
Tiefe, wird selbst "Manifestation Gottes" - ein Erleuchteter, wie die
Buddhisten das Ziel aller menschlichen Wege beschreiben. Das "Einssein Jesu
mit dem Vater" (Joh 10.30) ist kein Privileg mehr, welches ihm allein
zusteht, sondern alle sind ermächtigt, Söhne und Kinder Gottes zu werden(Joh
1.12).
Während früher die Worte "Mystik" und "Gotteserfahrung" fast Fremdworte
waren, werden sie heute zu Bedingungen des Christseins überhaupt. Das Wort
Karl Rahners taucht in vielfältigsten, mißverstandensten und
mißbrauchtesten Varianten immer wieder auf: "Der Christ der Zukunft wird ein
Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein". -
Es ermutigt viele zur "Begriffsfeindlichkeit", um nicht zu sagen
"Denkfaulheit". Das berechtigte Anliegen großer Mystiker, Gott nicht in
feste Bilder und Begriffe zu fassen, Dogmen zu relativieren, sie als
Ausdruck des Wissensstandes und des Geistes einer bestimmten Zeit zu
interpretieren, mündet in ein Zeitalter "wahrer Erleuchtung". Der wirklichen
oder eingebildeten "Gotteserfahrung" eines Einzelnen bzw. exklusiver Zirkel,
oft enthusiastisch zelebriert, droht die Gefahr, umzukippen in
begriffsfeindliche Gefühlsduselei. Dabei ist der selbsternannte Guru "in".
Jeder, der es gewollt anstrebt bzw. der den Anschein zu erwecken vermag, zu
den "Erleuchteten" zu gehören, kommt zu "seiner" Anhängerschaft. Viele gehen
ihm auf den Leim. Dabei glauben sie, das "wahre Christentum" und den
"authentischen Christus" entdeckt zu haben.
3. Jesus als geschichtliche Figur.
Max Frisch hat - ob gewollt oder ungewollt, sei dahin gestellt! - mit
seinem Wort den notwendig-biblischen Boden unter den Füßen aufgezeigt, indem
er schreibt: "Jenseits des Weihrauchs, dort, wo es klar wird und heiter und
durchsichtig, beginnen die Offenbarungen. Nur der Nüchterne ahnt das
Heilige, alles andere ist Geflunker". - Und Heinz Zahrnt kommentiert
gegenwärtige Entwicklungen mit der Feststellung: "Entweder wir erfahren Gott
in der Wirklichkeit der hiesigen Welt oder gar nicht".
Damit ist der fünfte Zugangsweg zur Person und Gestalt Jesu eröffnet.
Er ist der leider vielfach in Vergessenheit geratene biblische Weg. Bei
allen heutigen "Methoden", mit der Bibel umgehen zu lernen, ist es
verwunderlich, mit welcher Vehemenz dieser Zugangsweg verdrängt wird: zur
historischen Gestalt Jesu, der nicht aus der Welt und dem Leben
hinausführt, sondern mitten in sie herein. Man darf allerdings nicht den
beiden größten Versuchungen verfallen, die Bibellesern drohen: dem
fundamentalistischen Biblizismus oder dem Sog einer spiritualisierenden
"Vergeistigungstheologie". Man muß bei dem bleiben, was die Bibel
tatsächlich ist: eine bunte Dokumentation der ersten christlichen Gemeinden,
die - mitten im Leben stehend - die Wege und Weisungen Jesu in die
Alltäglichkeit ihres Hier und Heute zu übersetzen versuchten.
4. Geschichtliche Christologie.
Damit ist eine Entwicklung eingeleitet, die man im Fach-Jargon als eine Zeit
des Übergangs aus der ontologischen Christologie in die geschichtliche
Christologie verstehen könnte. Jesus, der Mensch- Gewordene, trat in die
menschliche Geschichte ein, um Menschen gleich zu sein - "außer in der
Sünde" (Phil 2.5-11; 1 Petr 2.22). Als Mann mitten in der menschlichen Zeit
und Geschichte gehen für heutige Menschen wichtige Impulse für die
"Nachfolge" aus:
- 4.1 Mit der Geburt Jesu hat die religiöse Geschichte der Menschheit nicht
begonnen. Es gab schon eine lange jüdische und nicht-jüdische
Vor-Geschichte. Diese wird im AT charakterisiert als eine Geschichte:
- ursprünglicher Klarheit und Wahrheit, die aber durch die Sünde der
ersten Menschen gestört und empfindlich behindert wurde;
- des sündigen, unerlösten Zustandes der Welt und des Menschen;
- des Fragens und Suchens nach dem Einen Gott in der Vielfalt der
Götterwelt, die den Ein-Gott-Glauben immer wieder gefährdete;
- der Propheten, die den vom Abfall bedrohten Teil der Menschheit stets
zum rechten Weg Gottes ermutigten.
- 4.2 Jesus wurde schon bald als "Messias", als "der Größte der
Propheten" angesehen. Er verkündete das "Reich Gottes", welches nicht erst
in der "Jenseitigkeit" zu erwarten ist, sondern durch Taten der Liebe und
Gerechtigkeit in der Diesseitigkeit der Welt immer schon wächst bzw. zu
wachsen beginnt. Denn es gleicht einem Senfkorn; dem Sauerteig; dem "Salz
der Erde". Aus dem Anliegen Jesu heraus, der unerlösten Welt einen
neuen Anfang zu setzen, werden ihm "Namen" zuerkannt:
- Er ist der Anfang einer "neuen Schöpfung" (Gal 6.15);
- Er ist der "Erstgeborene einer neuen Schöpfung" (Kol 1.15; 1.18);
- 4.3 Was bisweilen abstrakt und theoretisch mit "Erlöser der Welt"
gemeint ist, aktualisiert sich in der Person Jesu als sehr konkret,
unmittelbar und menschennah. Er wächst von Kindheit an in die Rolle des
"Erstgeborenen" hinein und vollendet sie. Einige Markierungspunkte auf
diesem Weg sind:
- Der zwölfjährige Jesus im Tempel;
- Die Versuchungen Jesu in der Wüste;
- Das heilsame, erlösende, befreiende Handeln an den Menschen. Er heilt
sie, spricht ihnen Mut und Hoffnung zu, ermöglicht Versagern und
Heruntergekommenen einen neuen Anfang, ermächtigt sie zu eigenem
gottgemäßen Denken und Handeln, macht sie zu Arbeitern und "Miterlösern"
in einer Welt, die der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens...
bedarf.
- 4.4 In der Botschaft Jesu und in seiner Beauftragung gelangen der
Wert und die Würde des Menschen zu ihrem Höhepunkt. Jeder - auch der/die
"Unmündige" und gesellschaftlich "Unbedeutende" - hat im Spektrum einer zu
heilenden und zu erlösenden Welt eine konkrete Beauftragung und gezielte
Berufung. In der Freundschaft mit Jesus ist niemand und nichts umsonst.
Dieser entfesselt dabei eine religiöse Bewegung, "die die Welt der
Religionen entscheidend verändert..."(Schillebeecks). Getaufte Christen
sollen sich fortan nicht nur untereinander in Freundschaft näher kommen; sie
sind auch in eine Aufgabe gestellt, deren Ziel und Ende die Erfüllung einer
Verheißung bedeutet: der "neue Himmel und die neue Erde".-
Der Auftrag an alle Christen und Menschen "Seiner Huld", ohne deren tätige
Mitwirkung das Christentum seine Berechtigung und seine eigene Zukunft
verfehlen würde, beinhaltet folgende unverzichtbare Markierungspunkte und
Kriterien:
- Beim Menschen geht es sowohl um den Glauben an den "absoluten
Heilbringer Jesus Christus" (K. Rahner) als auch um den Glauben an sich
selbst: an seine Gaben, Fähigkeiten, "Charismen" - bei aller Schwäche und
Sündhaftigkeit. Dieser Glaube ist nicht so sehr an "Sätze" gebunden als
vielmehr auf menschliches Reifen und Wachsen "mitten im Leben" angelegt;
- Es geht um das Lernen der Freiheit; ebenso, im sozialen Umfeld, um das
Einüben der Werte des Friedens und der Gerechtigkeit;
- Es geht beim Glauben nicht vordergründig um die Pflege einer
bestimmten Gefühls- und Geisteslage; nicht primär um das "Wissen über
Gott" oder um moralische Postulate, sondern um das Suchen und Fragen nach
einer Beziehung zum "ganz Anderen". "Glaube" heißt dann Mitleben und
Mithandeln mit dem in Zeit und Geschichte fortlebenden und heilschaffenden
Christus;
- Die Frucht dieses Glaubensverständnisses ist der wachsende
"Glaubenssinn der Gläubigen", der seinen Ausdruck findet in der
Lebendigkeit des einzelnen Ich wie im "Wir der Gemeinschaft". Wo diese
Lebendigkeit - als Disput, Diskussion, Meinungsstreit und Ringen um den
richtigen Weg - fehlt oder abhanden gekommen ist, kann von einer
geistbegabten Gemeinde nicht mehr die Rede sein. "Dogmatische Wahrheiten"
können helfende, aber auch tötende Wirkungen hervorrufen;
- Die Ermächtigung der Glaubenden zu ihrer eigenen Lebens- und
Glaubenskompetenz muß in der Alltäglichkeit des gemeinsamen Lebens erprobt
und eingeübt werden. Dabei wächst auch christliche Spiritualität.
Richtig verstanden und gelebt, ist sie weit weg von pseudo-mystischen
Tendenzen modischer Religionsformen, die die Seele und das Ich im sog.
"Göttlichen" verschmelzen lassen wollen. Sie ist im Gegenteil ausgerichtet
auf die Stärkung des personalen Ich, auf die Mitmenschen und die
Außenwelt (vgl. Mt 25.31-46).-
- Christlicher Glaube, der den Menschen entmündigt, ist kein
christlicher Glaube. Eine Kirche, die zu keinen Lebensformen fähig ist,
die die Menschen für ihren Lebens- und Weltauftrag stärken und fördern,
ist keine christliche Kirche. Erst wo der Einzelne sich im größeren
Zusammenhang Gottes mit der Welt findet, sind die Voraussetzungen
geschaffen für gelingendes "christliche Leben".
Bei allem muß die Neuentdeckung Jesu, seiner geschichtlichen Rolle und
Gestalt, das tragende Anliegen der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft
sein. Und damit die Neuentdeckung des Menschen, seiner weltgestaltenden
Rolle und Aufgabe. Für die Kirchen gilt dann wohl der Satz: wer will und
daran arbeitet, daß sie so bleiben, wie sie heute sind, trägt wirksam dazu
bei, daß sie bald nicht mehr sind.
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