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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Unglaublich, was Christen glauben (II).

Dezember 2003

Was ist das Wesen des Christentums? Für viele lautet schlicht und einfach die Antwort: Jesus Christus. Deshalb der große "Forscherdrang" nach dem "geschichtlichen Jesus", nach dem, was er eigentlich gesagt, gewollt, getan hat - jenseits und unabhängig von kirchenpolitischen Interessen. Ist das traditionell gewordene Kirchentum - was Strukturen, Theologie und Kirchenrecht angeht - die Fortsetzung und Entfaltung des Ursprünglichen oder, wenigstens teilweise, dessen Verkümmerung, Verdeckung, Verdrehung, Verdunkelung...? Sind aus den ursprünglichen Impulsen "Menschensatzungen" und "Kirchengebote" geworden (vgl. Mt 15.1ff und Mk 7.7ff)? - Solche Fragen stellen sich. Sie werden beantwortet mit einem Blick auf den "Mann aus Nazaret", den "exemplarischen Menschen" (K. Jaspers), vielfach "das den Menschen zugewandte Antlitz Gottes" genannt. Im Namen und Auftrag eines anderen wollte er - unter Einbeziehung seiner Jünger und Gefolgsleute - den Beginn einer "neuen Schöpfung".

II. Jesus Christus, "eingeborener Sohn".

1. Zugangswege zum "Mann aus Nazaret"

Seit 2000 Jahren kann man unterschiedliche Zugangswege zu jenem Mann aus Nazaret feststellen, der die Mitte und der Motor christlichen Lebens ist bzw. sein sollte. Zunächst waren es die Jünger und ersten Zeitzeugen/Innen, die einen unmittelbaren Zugang zu Jesus hatten. Die Evangelien berichten darüber, wie sie mit dem "Wanderprediger Jesus" durch die Lande zogen. Sie hörten, sahen und bewunderten seine Worte und Taten. Am schwersten zu begreifen war für sie die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft. Damals war die Welt voller "Endzeiterwartungen". Viele Juden rechneten mit der baldigen Ankunft des Messias in Macht und Herrlichkeit. Jesus setzte dieser Vorstellung eine andere gegenüber: niemand weiß den Tag und die Stunde (Mt 24.36ff). Das Reich Gottes ist immer schon im Aufbrechen, wo die Liebe, Gerechtigkeit, Friedensbereitschaft... praktiziert werden. Denn es gleicht einem Samenkorn, welches lange wächst, bis es zur Fülle und Reife gelangt (Mt 13.31f). Damit ist auch die Rolle der Christen in der Welt umschrieben: durch Taten des Friedens und der Gerechtigkeit sollen sie wie Landarbeiter sein, die beim Säen der Saat des Guten nicht müde werden (sollten).

Man könnte den zweiten Zugangsweg als die Zeit der mündlichen Überlieferung umschreiben. Bevor die Schriften des NT´s aufgeschrieben und kanonisiert wurden, lebten die ersten Christen aus der Erinnerung an das, was Jesus gesagt und getan hatte. So entsprach es auch der Erinnerungskultur Israels. Demnach richteten sie ihre Lebensweise aus.

Aus den unterschiedlichen Schriften des NT´s wissen wir, daß die Erinnerungskapazität der Gemeinden sehr unterschiedlich war. So sind die vier Evangelisten Mathäus, Markus, Lukas und Johannes weder stilistisch noch inhaltlich identisch, wenn auch in manchen Passagen Ähnlichkeiten und Parallelen vorhanden sind. Deren verschiedene "Theologien" wurden nicht als störend und kontraproduktiv empfunden. Im Gegenteil! Die christlichen Gemeinden wußten, worauf es allen ankommen mußte: auf die Fortsetzung der Worte und Taten Jesu, wenn auch jeweils mit anderen Mitteln und unter anderen Umständen. Unter ihnen bestand ein "Dialog" eigener Art: es war kein, wie vielfach heute, theologisch-akademischer Dialog auf "hohem Niveau". Man könnte ihn einen "Dialog" des gemeinsamen Nachdenkens und Ringens nennen mit dem Ziel, christlich verantwortbare Lebensformen zu entwickeln - stets in gemeinsamer Verantwortung gegenüber den Werte-Vorgaben und den daraus resultierenden Postulaten des Evangeliums.

Die dritte Phase ist die bis heute einflußreiche Zeit spekulativ-theologischer Durchdringung der Person und Botschaft Jesu. Das 3. bis 5.Jahrhundert stellen die Epoche der christologischen Auseinandersetzungen dar. Sie drehen sich um die Fragen: wer war Jesus wirklich? War er Gottessohn und/oder Menschensohn? War er Gott im Gewand eines Menschen? War er Mensch, der authentisch im Namen Gottes redete und handelte? Die tragfähigste Antwort, die zum Glaubensgut der Kirche gehört, lautet: er war eine Person in zwei Naturen: der göttlichen und der menschlichen. Er war Gott und Mensch in Einem.

Die dogmatisch-spekulative Denkweise hat das abendländische Christentum über Jahrhunderte geprägt. Heute wird es - vor allem im asiatisch-lateinamerikanisch-afrikanischen Raum - von anderen Tendenzen durchbrochen. Im christlichen Rest-Abendland ist ebenso eine vierte Zugangsweise eklatant. Anknüpfend an der christlichen Mystik eines Meister Ekhard, einer Theresia von Avila und eines Johannes vom Kreuz wird sie getragen und gefördert von der Exotik buddhistischer Spiritualität. Die herkömmliche christliche Theologie wird als zu spekulativ, abstrakt und "verkopft" verstanden. Sie wird ergänzt und zum guten Teil ersetzt durch den Wunsch nach unmittelbarer "Gotteserfahrung", nach Mystik und Meditation. Viele religiöse Bewegungen bewegen sich heute in diesem Fahrwasser: es sind religiöse Enthusiasten, Charismatiker, Freigeister, Biblizisten, Fundamentalisten, der christlich-orientierte Zen-Buddhismus usw. Nicht zufällig stellen Tageszeitungen die aktuelle Frage: wer ist in der heutigen Weltsituation beliebter, wirkungsvoller, nachhaltig einflußreicher: der Papst oder der Dalai Lama?-

2. Der "Sohn Gottes", der mystische Christus, der Guru.

In dieser mystischen Sicht der Dinge, an der sich bezeichnender-weise Benediktiner-Mönche am fleißigsten beteiligen, ist Christus - so jedenfalls sieht es bisweilen aus - nicht mehr der "Sohn Gottes", sondern der Guru, der die Menschen an seiner mystischen Erfahrung teilnehmen läßt. Er ist nicht mehr ein personaler Gott uns Menschen gegenüber, sondern der Gott in uns; er ist die Tiefe und Mitte menschlichen Daseins. Gott ist wie eine treibende Kraft im Universum, wie ein göttlicher Urgrund, aus dem alles hervorgeht und zu dem alles zurückkehrt. Christus wird dabei die höchste, intensivste und reinste Manifestation des schöpferischen Geistes Gottes in dieser Welt.

Als Gott "in uns" muß sich der Mensch, durch Mystik und Meditation, auf den Weg zu ihm machen. Dabei findet er ihn und sich selbst in seiner tiefsten Tiefe, wird selbst "Manifestation Gottes" - ein Erleuchteter, wie die Buddhisten das Ziel aller menschlichen Wege beschreiben. Das "Einssein Jesu mit dem Vater" (Joh 10.30) ist kein Privileg mehr, welches ihm allein zusteht, sondern alle sind ermächtigt, Söhne und Kinder Gottes zu werden(Joh 1.12).

Während früher die Worte "Mystik" und "Gotteserfahrung" fast Fremdworte waren, werden sie heute zu Bedingungen des Christseins überhaupt. Das Wort Karl Rahners taucht in vielfältigsten, mißverstandensten und mißbrauchtesten Varianten immer wieder auf: "Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein". -

Es ermutigt viele zur "Begriffsfeindlichkeit", um nicht zu sagen "Denkfaulheit". Das berechtigte Anliegen großer Mystiker, Gott nicht in feste Bilder und Begriffe zu fassen, Dogmen zu relativieren, sie als Ausdruck des Wissensstandes und des Geistes einer bestimmten Zeit zu interpretieren, mündet in ein Zeitalter "wahrer Erleuchtung". Der wirklichen oder eingebildeten "Gotteserfahrung" eines Einzelnen bzw. exklusiver Zirkel, oft enthusiastisch zelebriert, droht die Gefahr, umzukippen in begriffsfeindliche Gefühlsduselei. Dabei ist der selbsternannte Guru "in". Jeder, der es gewollt anstrebt bzw. der den Anschein zu erwecken vermag, zu den "Erleuchteten" zu gehören, kommt zu "seiner" Anhängerschaft. Viele gehen ihm auf den Leim. Dabei glauben sie, das "wahre Christentum" und den "authentischen Christus" entdeckt zu haben.

3. Jesus als geschichtliche Figur.

Max Frisch hat - ob gewollt oder ungewollt, sei dahin gestellt! - mit seinem Wort den notwendig-biblischen Boden unter den Füßen aufgezeigt, indem er schreibt: "Jenseits des Weihrauchs, dort, wo es klar wird und heiter und durchsichtig, beginnen die Offenbarungen. Nur der Nüchterne ahnt das Heilige, alles andere ist Geflunker". - Und Heinz Zahrnt kommentiert gegenwärtige Entwicklungen mit der Feststellung: "Entweder wir erfahren Gott in der Wirklichkeit der hiesigen Welt oder gar nicht".

Damit ist der fünfte Zugangsweg zur Person und Gestalt Jesu eröffnet. Er ist der leider vielfach in Vergessenheit geratene biblische Weg. Bei allen heutigen "Methoden", mit der Bibel umgehen zu lernen, ist es verwunderlich, mit welcher Vehemenz dieser Zugangsweg verdrängt wird: zur historischen Gestalt Jesu, der nicht aus der Welt und dem Leben hinausführt, sondern mitten in sie herein. Man darf allerdings nicht den beiden größten Versuchungen verfallen, die Bibellesern drohen: dem fundamentalistischen Biblizismus oder dem Sog einer spiritualisierenden "Vergeistigungstheologie". Man muß bei dem bleiben, was die Bibel tatsächlich ist: eine bunte Dokumentation der ersten christlichen Gemeinden, die - mitten im Leben stehend - die Wege und Weisungen Jesu in die Alltäglichkeit ihres Hier und Heute zu übersetzen versuchten.

4. Geschichtliche Christologie.

Damit ist eine Entwicklung eingeleitet, die man im Fach-Jargon als eine Zeit des Übergangs aus der ontologischen Christologie in die geschichtliche Christologie verstehen könnte. Jesus, der Mensch- Gewordene, trat in die menschliche Geschichte ein, um Menschen gleich zu sein - "außer in der Sünde" (Phil 2.5-11; 1 Petr 2.22). Als Mann mitten in der menschlichen Zeit und Geschichte gehen für heutige Menschen wichtige Impulse für die "Nachfolge" aus:

- 4.1 Mit der Geburt Jesu hat die religiöse Geschichte der Menschheit nicht begonnen. Es gab schon eine lange jüdische und nicht-jüdische Vor-Geschichte. Diese wird im AT charakterisiert als eine Geschichte:

  • ursprünglicher Klarheit und Wahrheit, die aber durch die Sünde der ersten Menschen gestört und empfindlich behindert wurde;
  • des sündigen, unerlösten Zustandes der Welt und des Menschen;
  • des Fragens und Suchens nach dem Einen Gott in der Vielfalt der Götterwelt, die den Ein-Gott-Glauben immer wieder gefährdete;
  • der Propheten, die den vom Abfall bedrohten Teil der Menschheit stets zum rechten Weg Gottes ermutigten.

- 4.2 Jesus wurde schon bald als "Messias", als "der Größte der Propheten" angesehen. Er verkündete das "Reich Gottes", welches nicht erst in der "Jenseitigkeit" zu erwarten ist, sondern durch Taten der Liebe und Gerechtigkeit in der Diesseitigkeit der Welt immer schon wächst bzw. zu wachsen beginnt. Denn es gleicht einem Senfkorn; dem Sauerteig; dem "Salz der Erde". Aus dem Anliegen Jesu heraus, der unerlösten Welt einen neuen Anfang zu setzen, werden ihm "Namen" zuerkannt:

  • Er ist der Anfang einer "neuen Schöpfung" (Gal 6.15);
  • Er ist der "Erstgeborene einer neuen Schöpfung" (Kol 1.15; 1.18);

- 4.3 Was bisweilen abstrakt und theoretisch mit "Erlöser der Welt" gemeint ist, aktualisiert sich in der Person Jesu als sehr konkret, unmittelbar und menschennah. Er wächst von Kindheit an in die Rolle des "Erstgeborenen" hinein und vollendet sie. Einige Markierungspunkte auf diesem Weg sind:

  • Der zwölfjährige Jesus im Tempel;
  • Die Versuchungen Jesu in der Wüste;
  • Das heilsame, erlösende, befreiende Handeln an den Menschen. Er heilt sie, spricht ihnen Mut und Hoffnung zu, ermöglicht Versagern und Heruntergekommenen einen neuen Anfang, ermächtigt sie zu eigenem gottgemäßen Denken und Handeln, macht sie zu Arbeitern und "Miterlösern" in einer Welt, die der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens... bedarf.

- 4.4 In der Botschaft Jesu und in seiner Beauftragung gelangen der Wert und die Würde des Menschen zu ihrem Höhepunkt. Jeder - auch der/die "Unmündige" und gesellschaftlich "Unbedeutende" - hat im Spektrum einer zu heilenden und zu erlösenden Welt eine konkrete Beauftragung und gezielte Berufung. In der Freundschaft mit Jesus ist niemand und nichts umsonst. Dieser entfesselt dabei eine religiöse Bewegung, "die die Welt der Religionen entscheidend verändert..."(Schillebeecks). Getaufte Christen sollen sich fortan nicht nur untereinander in Freundschaft näher kommen; sie sind auch in eine Aufgabe gestellt, deren Ziel und Ende die Erfüllung einer Verheißung bedeutet: der "neue Himmel und die neue Erde".-

Der Auftrag an alle Christen und Menschen "Seiner Huld", ohne deren tätige Mitwirkung das Christentum seine Berechtigung und seine eigene Zukunft verfehlen würde, beinhaltet folgende unverzichtbare Markierungspunkte und Kriterien:

  • Beim Menschen geht es sowohl um den Glauben an den "absoluten Heilbringer Jesus Christus" (K. Rahner) als auch um den Glauben an sich selbst: an seine Gaben, Fähigkeiten, "Charismen" - bei aller Schwäche und Sündhaftigkeit. Dieser Glaube ist nicht so sehr an "Sätze" gebunden als vielmehr auf menschliches Reifen und Wachsen "mitten im Leben" angelegt;
  • Es geht um das Lernen der Freiheit; ebenso, im sozialen Umfeld, um das Einüben der Werte des Friedens und der Gerechtigkeit;
  • Es geht beim Glauben nicht vordergründig um die Pflege einer bestimmten Gefühls- und Geisteslage; nicht primär um das "Wissen über Gott" oder um moralische Postulate, sondern um das Suchen und Fragen nach einer Beziehung zum "ganz Anderen". "Glaube" heißt dann Mitleben und Mithandeln mit dem in Zeit und Geschichte fortlebenden und heilschaffenden Christus;
  • Die Frucht dieses Glaubensverständnisses ist der wachsende "Glaubenssinn der Gläubigen", der seinen Ausdruck findet in der Lebendigkeit des einzelnen Ich wie im "Wir der Gemeinschaft". Wo diese Lebendigkeit - als Disput, Diskussion, Meinungsstreit und Ringen um den richtigen Weg - fehlt oder abhanden gekommen ist, kann von einer geistbegabten Gemeinde nicht mehr die Rede sein. "Dogmatische Wahrheiten" können helfende, aber auch tötende Wirkungen hervorrufen;
  • Die Ermächtigung der Glaubenden zu ihrer eigenen Lebens- und Glaubenskompetenz muß in der Alltäglichkeit des gemeinsamen Lebens erprobt und eingeübt werden. Dabei wächst auch christliche Spiritualität. Richtig verstanden und gelebt, ist sie weit weg von pseudo-mystischen Tendenzen modischer Religionsformen, die die Seele und das Ich im sog. "Göttlichen" verschmelzen lassen wollen. Sie ist im Gegenteil ausgerichtet auf die Stärkung des personalen Ich, auf die Mitmenschen und die Außenwelt (vgl. Mt 25.31-46).-
  • Christlicher Glaube, der den Menschen entmündigt, ist kein christlicher Glaube. Eine Kirche, die zu keinen Lebensformen fähig ist, die die Menschen für ihren Lebens- und Weltauftrag stärken und fördern, ist keine christliche Kirche. Erst wo der Einzelne sich im größeren Zusammenhang Gottes mit der Welt findet, sind die Voraussetzungen geschaffen für gelingendes "christliche Leben".

Bei allem muß die Neuentdeckung Jesu, seiner geschichtlichen Rolle und Gestalt, das tragende Anliegen der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft sein. Und damit die Neuentdeckung des Menschen, seiner weltgestaltenden Rolle und Aufgabe. Für die Kirchen gilt dann wohl der Satz: wer will und daran arbeitet, daß sie so bleiben, wie sie heute sind, trägt wirksam dazu bei, daß sie bald nicht mehr sind.


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