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Unglaublich, was Christen glauben (IV).
Februar 2004
Kann man heute noch glauben - im Zeitalter
umwälzender neuer Erkenntnisse in Human- und
Naturwissenschaften? Was heißt überhaupt "glauben"? Die Kirchen
haben darauf Antworten gegeben: Glaube ist eine Gottesgabe; ein
Geschenk; ein Geheimnis; ist Nicht-Wissen... Darüber hinaus
haben sie klare und eindeutige Glaubensbekenntnisse vorgelegt.
Sie sollen offensichtlich dazu dienen, Unsicherheiten in Fragen
des Glaubens zu beseitigen. Aber je mehr der Wille zu Sicherheit
und Eindeutigkeit vorherrschend wird, desto unsicherer scheinen
viele in Fragen des Glaubens zu werden - so als gehörten zum
Glauben weniger feste Sätze und Sicherheiten als vielmehr
Fragen, Zweifel, Ungewißheit und Wagnis. Außerchristliche bzw.
archaische Formen des Glaubens bestätigen es. Je mehr
Unsicherheiten und Zweifel "amtlich" genommen werden, je mehr
bohrende Fragen und Nachfragen verhindert werden, desto eher
schwindet die Fähigkeit zum Glauben.
Glaubensbekenntnisse also: zum Lernen, Aufsagen, Nachbeten und
zum äußeren Zusammenhalt christlicher Gemeinden gut, fürs
Glauben-Lernen aber schlecht, geradezu tödlich? Vieles weist
darauf hin. Glaubenssätze und -formeln werden als "theologische
Spekulation" entlarvt, als Selbstbehauptungsstrategien gegenüber
Andersdenkenden, als nichtssagende Worthülsen ohne nennenswerte
Wirkung im Leben...
In Zeiten der Zweifel und neu sich stellender Fragen wird Eines
deutlich: die Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten des Glaubens kann
nie ein für allemal gegeben werden...
IV. Unglaublich: der Glaube selbst.
1. Die Frage nach Glaube und Religion - uralt wie die Menschheit
selbst.
In der Frage nach "Religion" und "Glaube" herrscht heute eine seltsame
Unsicherheit. Auf der einen Seite wenden sich viele vom herkömmlichen
"Kirchenglauben" ab. Glaube als "Nichtwissen" gilt als zu wenig. Und Glaube
als "Für-wahr-halten" dessen, was die Kirchen zu glauben lehren und feiern,
scheint zu selbstsicher, zumal konkurrierende Anschauungen den religiösen
Markt heute überschwemmen. Auf der einen Seite also Zweifel und
Unglaube, auf der anderen Seite bezeichnen sich mehr Menschen als
erwartet als "religiös" - ein Empfinden, welches eher dem Bereich des
Ahnens, Hoffens, Sich-Sehnens nach einem "ganz Anderen" (Horkheimer)
zuzuordnen ist, weniger einen theologischen bzw. weltanschaulichen System.
Gerade diese Tatsache weckt die Vermutung, als wäre wieder etwas im Kommen,
welches man als archaisches Verständnis von Religion und Glaube
bezeichnen könnte. Im Menschen scheint es so etwas wie Archetypisches
zu geben, welches nach einem "ganz Anderen" Ausschau hält. Wo herkömmlich
verfaßte Religionen versagen, da bricht Ureigenes wieder auf: die von
früheren Weisheitslehrern beschriebene religiöse Veranlagung im Menschen:
die "anima naturaliter religiosa/christiana".
Tatsächlich gibt es so etwas wie eine uralte Menschheitsfrage nach
Religion und Transzendenz. Sie ist so alt wie die Menschheit selbst. Man
könnte von einer existentiell angelegten "religiösen Begabung" des Menschen
sprechen. Ihr charakterisches Merkmal besteht nicht nur darin, daß es sie
seit Menschengedenken gibt, sondern auch in der nüchternen Tatsache, daß sie
bis heute nie endgültig beantwortet wurde. Wer behauptet, endgültige
Antworten für immer gefunden zu haben, muß im Umbruch der Zeiten scheitern
oder sich eines Besseren belehren lassen.
Wenn es Antworten gab und gibt, waren sie immer nur zeit- und
situationsbedingt relevant. Menschen einer bestimmten Zeit und Epoche
konnten in ihrem Lebenskontext gut damit leben. Für sie gab es so etwas wie
eine religiöse Interpretation der Welt und des menschlichen Lebens -
so lange, bis Zweifel aufkamen und neue Fragen sich stellten.
Solche Zeiten des Sterbens des Alten und des eventuellen Neuanfangs werden
gewöhnlich ausgelöst durch den Wandel von Lebensverhältnissen, infolge von
Krankheiten, Kriegen, Naturkatastrophen, Lebenskrisen... Dann brechen auch
Urängste auf, die das Leben beherrschen. In Grenzerfahrungen,
die keinen Ausweg zu erlauben scheinen, melden sich Sehnsüchte, Ahnungen,
Hoffnungen... nach einem "ganz Anderen", der über alles Menschliche hinaus
zu retten und zu erlösen vermag. "Not lehrt beten", sagt der Volksmund.
Sobald sich aber Rettung ankündigt; sobald Menschen wieder anfangen,
"religiös" Halt und Sicherheit zu finden, können sie "staunende Wesen"
werden: über neu gewonnene Einsichten, über die Schönheit der Natur und der
Blumen, über die Pracht der leuchtenden Sonne am Morgen und die Erhabenheit
eines feurigen Sonnenuntergangs.
Es ist auffallend in der religiösen Geschichte der Menschheit, daß in
Krisen- und Umbruchszeiten immer wieder exemplarische Menschen (K.
Jaspers) auftreten, die auf einen Neuanfang hoffen lassen. Als
glaubwürdige Autoritäten werden sie Religionsstifter genannt, Seher,
Propheten, Charismatiker, Heilige... In Naturreligionen sind es die
Schamanen, Zauberer, Medizinmänner, denen religiöse Kompetenz zugesprochen
wird. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie eine seismographische Sensibilität
entwickeln für geschichtliche und menschliche Übergangsprozesse. Deshalb
vermögen sie auch zu artikulieren und neu zu formulieren, was den Menschen
unter den Nägeln brennt. Sie vermögen Mut und Hoffnung zu machen. Indem sie
durch Worte und Taten Altes mit Neuem verbinden und geradezu verkörpern,
gewinnen sie das Vertrauen ihrer Zeitgenossen. Ihrer "natürlichen Autorität"
wachsen Kompetenz und Akzeptanz zu. Sie verkörpern ein Zweifaches: neu
gewonnene Einsichten und Zukunfts-Aussichten; zudem wird an ihnen deutlich
sichtbar, daß das, was sie vertreten und künden, auch lebbar ist. Man
könnte sagen: der Erweis der Lebbarkeit macht ihre Lehre
nachahmenswert.
Impulsgeber der Geschichte waren und sind in erster Linie wohl keine
Wissenschaftler, Philosophen, "graue Theoretiker". Die oben Genannten leben
am Puls der Zeit und vermögen so "Impulsgeber" zu sein. Würde ihre Lehre
bzw. Lebensausrichtung nicht auch glaubwürdig verkörpert - sie würden
schnell in Vergessenheit geraten. Nicht zuerst ihre "Lehre" wird für viele
Menschen zur Aufforderung zu einem glaubwürdigen Leben, sondern die
Glaubwürdigkeit ihres Lebens in Verbindung mit ihrer Lehre. Das lebendig
Geschaute und Erfahrene wecken Vertrauen, das Gewicht der persönlichen
Ausstrahlung und Standhaftigkeit.
In Zeiten religiöser Aufbrüche entwickelt sich eine Wechselseitigkeit
zwischen religiösen Autoritäten und deren Anhängern. Durch Lehre und
persönliches Zeugnis werben die einen um Gehör und Akzeptanz bei Fragenden
und Suchenden; letztere ihrerseits finden neue Lebensinhalte in
Übereinstimmung mit ihren Vorbildern. Glaube wird zu einer
wachsenden Übereinstimmung des Glaubenden mit dem Verkünder des Glaubens.
Sie gelingt nur dann, wenn sogar dem Geringsten Einsicht und Erkenntnis
zuteil werden; wenn er ein sinnerfülltes Leben darin vermutet; wenn er den
Glauben lernt an sich selbst, an seine eigene Rolle und Bedeutung im Leben.
Der Glaube an etwas ganz Anderes bzw. einen ganz Anderen
hat immer, wenn er nicht zu einer Farce oder äußeren Fassade werden soll,
mit wachsender Ich-Stärke zu tun, mit Selbstsicherheit und Mut zu eigener
Kompetenz und Entscheidung. Selbst "primitive Religionen" weisen dem
Einzelnen eine Rolle und Funktion im Ganzen der sozialen Ordnung zu.
Das bedeutet nicht immer "Gläubigkeit". Je erwachsener und mündiger der
Mensch wird, desto entschiedener kann seine Weltsicht auch "ungläubig"
ausfallen. Es gibt nicht nur eine religiöse Geschichte der Menschheit,
auch eine a-religiöse. Letztere kann darin bestehen, daß sie sich
einen äußeren religiösen Anschein gibt bzw. "Religiöses" durch
freiwilliges/unfreiwilliges Mittun erzwingt - ohne persönliche Anteilnahme.
Insofern gibt es viel Unglaube bei sog. "Gläubigen", möglicherweise viel
Glaube bei "Ungläubigen".
In allen Religionen finden sich immer Beteiligte und Unbeteiligte,
Engagierte und Mitläufer, Macher und Mitmacher, Überzeugte und
Profitierende. Die Ursachen dafür liegen zum Teil in den Religionen selbst.
Denn deren Antworten auf letzte Fragen sind immer nur zeitbedingt;
sie bleiben anfällig für Zweifel und neue Fragen. Insofern gehören
Wachsamkeit und geistige Reife zu jeder religiösen Entwicklung, weil in
jeder Lebensphase die persönliche Entscheidungsfähigkeit auf dem
Prüfstand steht. Dabei kann die Entscheidung zu jeder Zeit "religiös" oder
"atheistisch" ausfallen. Weil Gott nicht "bewiesen" werden kann, lebt auch
der religiöse Mensch immer nur aus der Erfahrung, daß es sich lohnt, so zu
leben, als gäbe es einen Gott... Im religiösen Sinnhorizont lebt sich
"positiver", hoffnungsvoller, perspektivenreicher, zukunftsorientierter,
sinnerfüllter... Amerikanische Studien behaupten sogar: wer glaubt, lebt
leichter und länger.-
2. Archaischer und christlicher Glaube.
Es käme einem verhängnisvollen Irrtum gleich zu behaupten, der christliche
Glaube könne den archaischen in Vergessenheit geraten lassen. Jeder
Glaube stirbt, welcher nicht aus seinen Wurzeln lebt. Diese heißen:
Wachhalten des Fragens und Suchens; Glaubwürdigkeit seiner Autoritäten im
konkreten Leben; Erweis der Lebbarkeit des Geglaubten; schließlich Stärkung
des Glaubens an den Menschen selbst: an seine Fähigkeiten, Charismen und
Grenzen...
Solche Strukturelemente müssen auch im Bereich des Christlichen dringend
beibehalten werden. Sie erhalten den Glauben und seine "Sprache" menschennah
und reformfähig. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der
Christlichkeit des Glaubens. Diese muß zweifelsohne das entscheidend und
unterscheidend Christliche zum Ausdruck bringen. Manche Bilder von Gott und
Hoheitstitel für Christus erscheinen im religionswissenschaftlichen Spektrum
heutiger Tage als nicht spezifisch christlich, obwohl sie in früheren Zeiten
als "authentisch christlich" eingestuft wurden. So die Hoheitstitel für
Christus als "König", als "Sohn Gottes", als "Heiland", als der "Geborene
von einer Jungfrau", als "eine Person in zwei Naturen". Denn "Söhne Gottes"
gab es auch in vorchristlichen Religionen; ebenso "Heilande" und
Wundertäter. "Jungfrauengeburten" gab es auch in der Antike. Auch Buddha
wurde von einer Jungfrau geboren...
Was die Frage nach Gott angeht, so scheint es im Blick auf heutige human-
und naturwissenschaftliche Erkenntnisse angebracht, nicht zu vollmundig
und selbstsicher über Gott zu reden. Unsere Zeit ist sehr sensibel für
die Tatsache, daß jedes Atom und jeder Mensch in gewisser Hinsicht als
"Geheimnis" erkannt werden. Ebenso Vorgänge in der Natur und im Kosmos. Da
werden Gott bzw. der "ganz Andere", sofern es sie überhaupt gibt, auf eine
neue Weise geheimnisvoll, unaussprechbar, namenlos, abgrundtief undenkbar
durch menschliches Denken.
In früheren Zeiten konnten sich die Christen durchaus mit menschengemachten
Bildern von Gott und mit Hoheitstiteln für Christus identifizieren. Heute
können sie es nicht mehr. Im Maße dennoch daran festgehalten wird und diese
tradiert werden, erweist sich das Christentum als eine rückwärtsgewandte
Religion oder als ein "Angebot" auf dem Supermarkt des Angebote. Von
daher wird es verständlich, daß Vieles in der kirchlich-dogmatischen Sprache
als akademische Worthülsen, leere Formeln, als lehrreiche Verkrustungen
empfunden wird. Man kann getrost darauf verzichten...
Auf die Frage, was zentral und an erster Stelle gesagt werden muß, wenn es
um das christlich "Eigentliche" geht, kann man kaum noch auf herkömmlich
Liebgewordenes verweisen. Auf Betlehem ist dann wohl an erster Stelle
Bezug zu nehmen. Der unbekannte und unaussprechliche Gott bringt sich als
Mensch zur Sprache. Er wird unter Menschen geboren, wird den Menschen
gleich. Man könnte den historischen Jesus die Sprache Gottes nennen,
die Anwesenheit und Gegenwärtigkeit Gottes in der Welt. Wer seitdem
nach Gott fragt, dem großen Unbekannten, muß auf Christus verweisen. Das
erste fundamentale Glaubensbekenntnis der Christen lautet: Seine Worte und
Taten, sein Denken und Handeln sind identisch mit dem Denken und Handeln
Gottes. An ihm kann man erkennen, wer Gott ist, wie er denkt und an den
Menschen handelt. Gott wird überhaupt nur denkbar und aussagbar in Leben und
Werk des Mannes aus Nazaret.
Dieses zentrale Glaubensbekenntnis an den Menschgewordenen Gott muß
zukünftig nach Namen und Titeln suchen, die ihm entsprechen. Sie
müssen mit dem historischen Jesus, auf den sich der Glaube bezieht,
direkt etwas zu tun haben. Sie müssen für einfache Menschen, für "Kleine und
Unmündige", verständlich sein.
Was auf jeder Seite im Zeugnis der biblischen Texte auffallend ist, könnte
man auf die Formel bringen: alles das, was da über das Denken und Handeln
Jesu bezeugt wird, dient einem erlösteren Dasein, ist für Menschen
heilsam, rettend, befreiend... Jesus erweist sich im abstrakten Sinne nicht
als "Erlöser der Welt", sondern er zeigt in seinen Taten der Liebe, des
Verzeihens, der Ermutigung... exemplarisch, wie die konkrete Welt und
Umwelt des Menschen heiler und erlöster werden kann. Konkretes Handeln der
Liebe - und sei es noch so fragmentarisch und "sämannsgleich" - dient dem
Frieden in der Welt, führt zu mehr Gerechtigkeit und zugleich zu gottgemäßem
Leben.
Die Botschaft der Einübung in Lebens-Werte erweist sich für Menschen
aller Zeiten als nachvollziehbar. Sie bleibt erfahrungsbezogen, weil
Menschen täglich erleben, was überall in der Welt an Elend geschieht, wenn
Menschen nicht bereit und fähig sind, die Liebe und Gerechtigkeit zu üben.
Die Wurzel allen Übels ist vielfach der Mensch, der im konkreten Leben
versagt, für den die Lebenswerte des Evangeliums "graue Theorie" bleiben
oder nur Anhaltspunkte für feierliche Sonntagsreden.
Zudem stellt Jesus die Praxis der Liebe und Gerechtigkeit in einen großen
heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Werke der Barmherzigkeit sind für ihn
wie Samenkörner, die wachsen, bis alles im Reiche Gottes in Erfüllung geht.
Jeder Mensch, der sich an diesem heilsgeschichtlichen Geschehen beteiligt,
wird selbst zu einer "Gabe", die Gott gefällt... Ein "Wehe" gilt dagegen
auch denen, die ihren Lebens-Inhalt verfehlen, weil sie zu erhaben sind, zu
selbstbezogen, zu hochnäsig, zu pharisäerhaft, zu reich an Geld und
Lebensdünkel. Sie sind "untauglich" für das Werden und Wachsen dessen, was
Gott mit der Welt geplant hat.
Es bedarf an dieser Stelle keines besonderen Kommentars darüber, daß
Menschen, die sich im Sinne dieser Heilsbotschaft für die Welt angesprochen
wissen, nicht allein bleiben können. Aus diesem Impuls heraus sind die
ersten christlichen Gemeinden entstanden. Zur Verwirklichung der Anliegen
Jesu bedarf es nicht nur eines Zusammenschlusses, sondern auch der
feiernden christlichen Gemeinden. Im Blick auf die Vergangenheit wie auf
die Zukunft müssen sie sich denkend und feiernd auf das Gegenwärtige
konzentrieren, auf das, was im Hier und Heute zu tun ist.
Kirchen und Gemeinden der Selbstgefälligkeit und Selbstdarstellung
degradieren schnell zu toter und langweiliger Vereinsmentalität. Lebendig
und anziehend können sie nur werden bzw. bleiben, wenn sie die Augen und
Ohren offen halten für die "Zeichen der Zeit", für die Herausforderungen der
Gegenwart und den Mut zur Zukunft.
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