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Unglaublich, was Christen glauben (VII).
April 2004
VII. Der Glaube an die eine, heilige, katholisch-apostolische Kirche.
Daß sich die "Gnadenanstalt Kirche" - so der Religionssoziologe M. Ebertz
- im "freien Fall" befindet, ist ein offenes Geheimnis. Daß die
"Ursachenforschung" in vollem Gange ist, weiß auch jedermann. Dabei wird die
Tatsache, daß die "frohe Botschaft" in einer säkular und unkirchlich sich
gebenden Welt kein besonderes Gehör findet, speziell für die Verkünder
dieser Botschaft eine arge Herausforderung und Enttäuschung. Zudem liegen
Mißverständnisse vor: was als die eine Kirche suggeriert wird,
ist keine Realität; heilig bedeutet nicht, daß es in ihr keine Sünde
gibt; katholisch war ursprünglich nicht "konfessionell" gemeint und apostolische
Nachfolge von Anfang an - darauf wird, um der eigenen Legitimation
willen, unter allen Umständen bestanden. Bei lesenden und bibeltreuen
Christen meldet sich inzwischen das vielleicht gravierendste Problem:
was Kirche ist, sein will und wie sie sich darstellt, findet sich meist
nicht in dem "heiligsten der Bücher". Da sind die monarchischen,
patriarchalischen, hierarchisch-klerikalen Strukturen - mit feudalistischem
Auftreten und höfisch-byzantinischem Gepränge; da ist das Zentriertsein auf
Kirchenämter und Sakramente; da ist die schwer verständliche "systematische
Lehre" als ganzheitliche Ausformulierung des Glaubens; da gibt es
Kirchenrecht und moralische Vorschriften und Verbote, die vielen
uneinsichtig bleiben... Das alles erschüttert den Glauben an die Kirche.
Kann sich alles Gewordene auf Jesus berufen? Diese Frage stellt sich auch
den reformierten Kirchen, die die Freiheit des Christenmenschen
betonen. Ihnen geht es nicht besser. Die Ursachen für den allgemeinen
Niedergang müssen also tiefer liegen.
1. Die Kirche - von Jesus gestiftet?
Die in früheren Zeiten für selbstverständlich gehaltene positive Antwort auf
diese Frage hat vielleicht A. Loisy (um 19oo) als erster lautstark
angezweifelt. Sein Satz: "Jesus verkündete das Reich Gottes und es kam die
Kirche" hat Furore gemacht, zumal der Unterton dabei nicht zu überhören war:
die Kirche sozusagen als (billiger?) Ersatz für das, was ursprünlich mit
"Reich Gottes" gemeint war.
Naturgemäß war die offizielle Kirche von Anfang an nicht sehr zufrieden mit
solcher Auskunft eines Theologen. Je mehr der Eindruck entstand, daß Loisys
Aussage aufs Nach-Denken vieler Christen angelegt war, desto mehr versuchte
sie durch "absoluten Glaubensgehorsam" gegenüber "unfehlbaren Aussagen des
Lehramtes" jeder Diskussion ein Ende zu bereiten. Sie bestand auf dem
"Gehorsam des Willens und des Verstandes" bei Lehraussagen von Kirche und
Papst. So der Weltkatechismus aus dem Jahre 1993. Dieser erweckt auch den
Eindruck, daß durch mehrere feierliche Akte die Kirche von Jesus ins Leben
gerufen wurde, z.B. durch seine Predigt; vor allem durch die Berufung der
zwölf Apostel, welche die besondere Berufung des Klerus zur Folge gehabt
habe und haben müsse. Damit war die Berufung von Frauen in kirchliche Ämter
(vorerst) auszuschließen - eine Bibelinterpretation, die in der Zwischenzeit
von anderen christlichen Konfessionen nicht übernommen wurde.
Der deutsche Katechismus aus dem Jahr 1985 spricht von einer gestuften
Kirchengründung. Jesus habe die Kirche nicht durch ein besonderes Wort
oder einen speziellen Akt gestiftet. Die Kirche sei sozusagen entstanden
innerhalb der Dynamik der Heilsgeschichte. Schon zu Beginn der
Menschheitsgeschichte habe Gott einen Bund mit Noe und dem "auserwählten
Volk" geschlossen. Dieser Bund sei durch den irdischen Jesus bestätigt und
erneuert worden. Durch die Erwählung der Zwölf seien die zwölf Stämme
Israels Mittelpunkt und Adressat seiner Botschaft geworden - ein Rahmen, der
später erst durch die Heidenmission des Apostels Paulus entscheidend
gesprengt wurde.
Was die Dynamik der Heilsgeschichte betrifft, entstand nach dem Tod
und der Auferstehung Jesu "die Kirche", besser gesagt: die durch die
Katastrophe des Karfreitags aufgescheuchten Jünger/Innen und Apostel faßten
langsam wieder Mut, nachdem die Nachricht von der Auferstehung Jesu die
Runde machte. Sie versammelten sich, um sich gemeinsam an all das zu
erinnern, was Jesus gesagt und getan hatte. Als Erzähl- und
Erinnerungsgemeinschaften bildeten sich die ersten christlichen
Gemeinden wie von selbst. Sie wurden sich auch ihres Auftrags und ihrer
Berufung bewußt. Man könnte diese in einem Satz zusammenfassen: Christen
und christliche Gemeinden sind dafür bestellt, daß durch sie die Worte
und Taten Jesu weitergehen und weiterwirken. Der Aufruf zu Umkehr und
Bekehrung beinhaltete einen neuen Geist, ein neues Denken, verbunden mit dem
Postulat, "normal" menschliche Neigungen und Egoismen abzulegen, um für die
"andere" Denk- und Handlungsweise Jesu fähig zu sein - für die "Nachfolge
Jesu" im Geist einer größeren Gerechtigkeit und Liebe.
Entsprechend könnte man auch das Glaubensbekenntnis der biblischen Zeit
verstehen und definieren. Der Glaube an die Person Jesu beinhaltete das
Ja-Sagen zu dem, was Jesus gesagt und getan hatte;
implizierte die Erfahrung seines heilsamen und erlösenden Handelns an den
Menschen; postulierte die Forderung an alle Menschen guten Willens, sich
durch Taten der Liebe die Denk- und Handlungsweise Jesu verbindlich zueigen
zu machen. Glaube also als die verbindliche Übernahme der Worte
und Taten Jesu in die eigene Lebens- und Weltsituation!
Ein solches Selbstverständnis von Christen unterscheidet sich meilenweit von
einem "Glauben" an wohlformulierte Sätze, an dogmatische Wahrheiten, an
einen Lehrbetrieb als Ausdruck spekulativen Denkens und akademischen
Dozierens. Ein solch hausgemachter "Glaube" hat die Separatismen und
verschiedenen Konfessionen hervorgebracht - seit Origines (gest.253/54) mit
einem ziemlich "rigoristischen Heilsexklusivismus" auf allen Seiten. Deren
verheerende Folgen sind heute allzu bekannt: theologische Rechthabereien,
Ketzerverbrennungen, Inquisitionen, Religions- und Glaubenskriege, die
fundamentalistische Verabsolutierung ideeller Einstellungen von Menschen,
Fanatismus, Terrorismus...
Solche "Glaubensbekenntnisse" haben die Menschheit noch mehr gespalten und
gegeneinander aufgebracht, als sie ohnehin schon durch ethnische,
sprachliche und kulturelle Spannungen bereits getrennt war. Nicht zu Unrecht
distanziert sich heute ein großer Teil der "aufgeklärten Menschheit" von
solchen Ideologien und menschengemachten Ismen. Sie werden entlarvt als
Erfindungen der Kirchen, als politische Machtausübung und religiöse
Gängelung, als theologische Vormundschaft gegenüber den in Unmündigkeit
Gehaltenen. Was das Schlimmste dabei ist: je mehr an der These festgehalten
wird, daß diese Entwicklungen im Großen und Ganzen - wenn auch mit einigen
Einschränkungen - auf Jesus zurückgeführt werden können, desto mehr wird
dieser in Mitleidenschaft gezogen. Aus dem Nein zur Kirche und zur
Religion wird dann sehr schnell ein Nein zu Jesus und zur
Frage nach Gott überhaupt.
Wohin sollen sich fragende und suchende Menschen dann noch wenden? Es
eröffnet sich auf Zukunft hin ein ganz neues, unbearbeitetes Feld. Es gilt
sozusagen ein noch unbekanntes Land zu betreten. Die Wege dorthin können die
Menschheit in die Öde und Verwüstung führen; sie können aber auch die
Erinnerung wachrufen an den Bund, den es immer schon gab zwischen Schöpfer
und Schöpfung, zwischen Gott und Menschen. Die Welt von heute steht nicht
nur politisch, wirtschaftlich, kulturell... in revolutionären
Umwälzungsprozessen, sondern auch religiös und christlich. Das Evangelium
des Lukas berichtet, daß Jesus bei der Ankündigung der Zerstörung Jerusalems
weinte. Dieselbe Mahnung könnte heute auch an die Kirchen gerichtet sein:
"Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt.
Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen" (Lk 19.42).
2. Die Botschaft Jesu: eine ethische Herausforderung.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, der "modernen Skepsis" gegenüber
den Sakramenten nachzugehen. Deren "Siebenzahl" taucht erstmals bei Petrus
Lombardus (gest.1160) auf und kirchenamtlich auf dem Konzil von Lyon (1274).
Bis heute hat sich bei den Theologen längst der Konsens angebahnt, daß die
Sakramente "nur in einem sehr eingeschränkten Maße" auf Jesus zurückgeführt
werden können (Wohlmuth).
Was bei der Frage nach der Kirche gesagt werden muß, gilt analog auch für
die Sakramente: aufgrund ihrer allmählichen Entstehung und Entwicklung
verlieren sie nicht ohne weiteres ihre Existenz-berechtigung; sie können
durchaus als Zeichen des dynamischen Heilshandelns Gottes an der Menschheit
verstanden und praktiziert werden; sie vermögen durchaus - für die Kirchen
und gläubige Christen - als Zeichen des von Jesus verkündeten Reiches Gottes
ihre Bedeutung haben. Entscheidend aber bleibt die Frage: wenn "Kirche" und
"Sakramente" nicht die zentralen Anliegen der Verkündigung Jesu waren - was
wollte er dann? Wo lagen seine Schwerpunkte?
Diese Fragen stellen sich umso dringlicher, je mehr es deutlich wird, daß
die bisherigen Versuche einer Antwort an ihre Grenzen gestoßen sind und
stoßen. Die Versuche sind zahlreich genug. Sie lauten: dogmatische
Reflexion des Glaubens mit dem Ziel, die "Wahrheit" zu erkennen und
diese gegenüber anderen zu behaupten. Hinzu kommt die kirchenrechtliche
Absicherung von Disziplin und Ordnung im Gesamten der Kirche bis in jede
Gemeinde hinein. Auffällig und unübersehbar wurde die hierarchische
Repräsentation christlicher Anliegen durch Papst und Lehramt, Kardinäle,
Bischöfe und Klerus. Dazu das gläubige Volk, welches dazu erzogen
werden soll, im Glauben anzunehmen, was lehrreich an es herangetragen wird.
Alle diese Mechanismen der Absicherung des christlichen Anliegens erwecken
heute den Eindruck, daß sie in eine fundamentale Krise geraten sind.
Sie vermögen sich nur in einem sehr eingeschränkten Maße auf Jesus zu
berufen. Zudem herrscht allgemein die Erfahrung vor, daß Glaube und
Nachfolge nicht identisch sind mit theologischer Spekulation, moralischen
Postulaten und Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung. Diese können sogar
Ausdrucksformen eines religiösen Egoismus sein, einer
selbstgefälligen Ich-Bespiegelung - verbunden mit dem Anspruch auf
religiöse Vormundschaft über andere.
Wenn E. Kant Recht hat, ist es meistens nicht im Sinne der "Vormünder", daß
Menschen ihre "selbstverschuldete Unmündigkeit" überwinden. Vormünder würden
sich selbst verlieren, wenn die Unmündigen aufhörten, unmündig zu sein. So
entwickeln sie oft schwer durchschaubare Mechanismen der Gängelung und
Unterordnung, des Gehorsams und der Treue-Gelöbnisse. Diese werden nicht
dadurch annuliert bzw. aufgehoben, daß gleichzeitig von "Freiheit" und
"Verantwortung jedes einzelnen" gesprochen wird. Im Gegenteil: solche Reden
verdecken eher den wahren Sachverhalt.
Was die von Gott kommende Wahrheit betrifft, so scheint diese nicht
geeignet, daß Menschen eigene Gedanken und eine persönliche
Gewissenhaftigkeit darüber entwickeln - es sei denn, daß sie das
uneingeschränkte Ja-Sagen dazu lernen. Denn "die Wahrheit" würde nur
aufgeweicht und beliebig interpretierbar, wenn Menschen eine "eigene
Meinung" dazu entwickeln. So kann auch der "wahre Glaube" keiner Abstimmung
unterliegen; er kann nicht "Mehrheitsverhältnissen" zur Disposition gestellt
werden - "Plausibilitäten", auf die sich herkömmliches Denken beruft. Die
Frage stellt sich nur: wie versteht Jesus "Wahrheit"?
Allen Widerständen zum Trotz muß sich heute wieder die Erkenntnis
durchsetzen, daß Jesus keine dogmatischen Wahrheiten verkündet und
keine kirchenrechtlichen Vorschriften erlassen hat. Er hat seine
Lehre auch nicht zuerst den Akademikern und Theologen der damaligen Zeit
anvertraut, sondern einfachen Handwerkern und Fischern, Männern und Frauen
aus dem Volk. Seine Ethik war auch keine fachmännische und amtliche,
die erzieherisch und moralisierend auf die Menschen einzuwirken versucht.
Seine "Ethik" war eher eine erfahrungs- und lebensbezogene, die jeder
Mensch in seiner Situation nachzuvollziehen vermochte. Sie war im Grunde
eine Ethik der offenen Augen und Ohren, die die Menschen befähigte,
ihre Welt- und Lebensverhältnisse so zu sehen, wie sie sind. Dazu kamen die
beispielhaften Verhaltensweisen Jesu, die deutlich machten, wie das
Leben von Menschen gottgemäß und gottgewollt gestaltet werden kann: in
Liebe, Gerechtigkeit, freier Entscheidung und Mündigkeit.
Jesus hat den Menschen keine schwer zugänglichen ethischen
Fortbildungskurse verordnet, sondern er hat an konkreten Beispielen
deutlich gemacht, wie zum Wohl der Menschen und zum Frieden in der Welt
"Reich Gottes" schon jetzt wachsen kann und wachsen muß. Da ist der
"barmherzige Samariter", in dessen Tagesplan die Begegnung mit dem unter die
Räuber Gefallenen nicht vorgesehen war (Lk 10.25-37); da ist die Frau am
Jakobsbrunnen, der ganz neue Lebensperspektiven eröffnet werden (Joh
4.1-26); da ist der heidnische Hauptmann aus Kapharnaum, dem mehr "Glaube"
zugestanden wird als den Gläubigen Israels (Mt 8.5-13); da ist die
Aufforderung zum "Einer trage des anderen Last" (Gal 6.2); da ist die
Zusicherung: "wer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mt
18.5); da wird am Beispiel der Sünderin deutlich gemacht: ihr werden viele
Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat (Lk 7.36-50); da ist nicht vom
"Theologisieren" die Rede, sondern vom "Tun der Wahrheit", was zum Licht
führt...(Joh 3.21).
Auf jeder Seite der Bibel kann signifikant nachgelesen werden, welches die
eigentlichen Anliegen Jesu waren. Man kann sie als Herausforderung an
jeden Menschen verstehen, mit offenen Augen und Ohren sehen und hören
zu lernen. Um eine heilere und erlöstere Welt "schon jetzt" in Gang zu
setzen, hat sich Jesus "ein Volk von Priestern" erworben (1 Petr 2.9) - dazu
beauftragt und befähigt, je nach Gabe, Fähigkeit und Charisma eine
gemeinsame Würde und Gleichheit aller Gläubigen zu praktizieren (Gal 3.28).
Letztlich geht es immer um das Tun der Wahrheit, um die Realisierung
humaner Werte - was nicht gleichzusetzen ist mit "Horizontalismus"
und "Humanismus", nicht mit "innerweltlicher Utopie" als Zielpunkt. Alles
menschliche Tun steht vielmehr im größeren Zusammenhang der endgültigen
Vorhaben Gottes mit der Welt. Die Menschheit lebt und handelt aus der
Hoffnung auf die Verwirklichung dessen, was Gott auf Zukunft hin mit der
ganze Schöpfung vorhat (Röm 8.18-30; Kol 1.12-20).
3. Der "neue Geist", das "neue Denken".
Im April 1946 beendete der niederländische Historiker Jan Romein seine
Besprechung des Tagebuches der Anne Frank mit den Worten: "Daß dieses
Kind überhaupt verschleppt und ermordet werden konnte, ist für mich der
Beweis genug, daß wir den Kampf gegen die Bestialität verloren haben. Wir
haben ihn verloren, weil es uns nicht gelungen ist, etwas Positives an deren
Stelle zu setzen. Und deshalb werden wir auch künftig unterliegen. Welche
Gruben auch immer die Inhumanität uns graben mag - wir werden ihr in die
Falle gehen, solange wir nicht imstande sind, die Inhumanität durch eine
positive Kraft zu ersetzen".
Dieser Satz behält bis heute seine volle Gültigkeit. In der Zwischenzeit
wurde viel über Auschwitz geschrieben und nach-gedacht. Viele andere Formen
des "Holocaust", wie sie sich in der Geschichte zugetragen haben und bis
heute blutige Spuren hinterlassen, haben sich tief ins (Unter) Bewußtsein
der Völker eingegraben. Damit auch das Mißtrauen gegenüber (allen
bisher vorgetragenen) Ideologien und auftretenden "Autoritäten" - ganz
gleich, aus welchem Lager sie stammen. Die oben postulierte positive
Kraft gegenüber allen Formen der Inhumanität scheint durch sie nicht
überzeugend in Sicht.
Gewiß: angesichts der neuen Bedrohungen der Menschheit durch den Kampf
der Kulturen wird immer wieder der Dialog postuliert und
praktiziert. Es sei auf jeden Fall besser, miteinander zu reden, statt sich
in böses Schweigen zu vergraben oder aggressiv gegeneinander loszugehen.
Trotzdem wurde auf dem "Ökumenischen Kirchentag in Berlin" (2003) vor der
Gefahr einer interreligiösen Schummelei gewarnt. Denn wer in einer
Religion behaupte, ein "Wahrheitsmonopol" zu besitzen und trotzdem einen
"Dialog" führe, sei nicht aufrichtig. Manche Religionen kämen aber
mit einem solchen Anspruch. Sie würden behaupten, daß die Wahrheit ihrer
Religion identisch sei mit der Wahrheit von Sätzen, über die man
"oberflächliche Gemeinsamkeiten" herbeirede - sozusagen auf der Ebene
"religiöser Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen", während in den
Städten Indifferenz, wechselseitige Vorurteile und nicht selten blanker Haß
wachsen und gedeihen.
Bei solchen Bedenken wird unverhohlen zugegeben: es bleibt alles
oberflächlich, seicht, elitär, wenn sich nicht der Tatsache Rechnung
getragen wird, daß die Wahrheit einer Religion eine Beziehungswahrheit
ist, die von verschiedenen Menschen und Völkern unterschiedlich gelebt und
artikuliert werden kann. Menschen-, zeit- und situationsbedingt kann sie
wohl nie endgültig in feste Sätze verpackt werden.
Im Blick auf die vielen Greueltaten der Geschichte hat der Philosoph
Leonhard H. Ehrlich bereits vor Jahren die Vermutung geäußert, sie seien
"vielleicht nicht christlich-theologisch gewollt", wohl aber
"christlich theologisch bedingt" gewesen. Sein Resümee lautet: "Vieles
wäre gewiß anders gekommen, wenn das kirchliche Christentum den Mut gehabt
hätte, aus den Quellen des Christentums heraus zu leben". - Steckt dahinter
der geheime Vorwurf, es habe zu sehr aus den Quellen heraus gedacht
statt daraus zu leben?
Wenn der Philosoph Emil Falkenstein meint, mit Auschwitz (und den vielen
anderen Formen von Auschwitz) sei das Christentum gestorben, dann genügt es
nicht, öffentliche Schuldbekenntnisse abzulegen, wie Papst und
Bischöfe es tun. Die Frage stellt sich, ob das herkömmliche dogmatische und
kirchenrechtliche Denken nicht jene "christlichen Dispositionen" schafft
(ohne sie zu wollen), die intolerantes, rechthaberisches,
missionarisch-eroberndes Verhalten fördern? Die Frage muß erlaubt sein, ob
solche Dispositionen geeignet sind, "aus den Quellen des Christentums
heraus... christlich leben und handeln zu lernen"?
Wenn heute Kommentatoren und Kritiker den Kirchen und
Konfessionsgemeinschaften die Rückkehr zum Kerngeschäft anraten, dann
kann diese Rückkehr nur darin bestehen, daß man sich in das "Getümmel der
Welt" begibt und sich mit denen solidarisiert, die im Getümmel der Welt
leben. Hier ist Christentum auf die Probe gestellt. Im kleinen Kreis von
Gläubigen, im vertrauensvollen Gespräch über Not und Segen der biblischen
Botschaft kann wieder das geschehen, was heute nottut: Gläubige müssen sich
wieder ihres eigenen Glaubens vergewissern lernen. Bei ruhiger, aufrichtiger
und engagierter Selbstbefragung vermögen sie aufeinander zu hören und zu
verstehen - auch Andersgläubige, ohne die erkannten Vorzüge der eigenen
Tradition leugnen zu müssen. Solche Formen religiösen Miteinanders,
die sich vom Scheinwerferlicht ausgeleuchteter Podien wesentlich
unterscheiden, vermögen den neuen Geist, das neue Denken des
Evangeliums zum Wachsen zu bringen. Dadurch kann es - auf lange Sicht -
wieder gelingen, daß der "Sauerteig der Botschaft" in der Welt wieder Kraft
entfaltet.
Um der Botschaft des Evangeliums eine Zukunft zu sichern, bedarf es nicht so
sehr der Menschen mit eitlem akademischen Anspruch; auch nicht bischöflicher
Palais mit byzantinischem Gepränge; auch nicht gewaltiger Kathedralen als
religiöse Vorzeige- bzw. Prestige -Objekte, nicht sakramentale
Abfertigungshallen... Es bedarf viel mehr der Menschen, die über ein
hohes Maß an Sensibilität und Flexibilität über das verfügen, was ihnen
selbst zum Heil und der Welt zum Frieden dient.
Es bedarf handfester Lebens- und Gemeinschaftsmodelle, in denen
gegenseitiges Vertrauen, Offenheit, der Sinn für Gerechtigkeit und
Wahrhaftigkeit wachsen. Wahrscheinlich braucht man gar nicht damit
anzufangen, was in der Gerichtsrede Jesu (Mt 25.31-45) als unverzichtbar
postuliert wird. Solche "Werke der Barmherzigkeit" sind in unzähligen
Familien und Gemeinschaften zu finden. Nur müßten sie in der Sprache der
Kirchen und ihren Liturgien "das Sagen" bzw. die notwendige Öffentlichkeit
bekommen - allerdings zum Nachteil der "Klugen und Weisen". Denn es war am
Anfang schon so: was Gott den Klugen und Weisen verborgen hat, das offenbart
er den Unscheinbaren, den Entrechteten, den Kranken und Sündern (Mt 11.25).
Den Klugen und Weisen kann nicht genug das Wort Jesu in Erinnerung gerufen
werden: "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob" (Mt
21.16).
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