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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Kleines Handbuch christlicher Lebensführung (III):
Die Bibel, Wort des lebendigen Gottes?

April 2006

 1. Die Fragestellung.

Wort des lebendigen Gottes? So jedenfalls scheint es. Es wird auch so gesagt. Nach jeder Lesung in einem katholischen Gottesdienst bestätigt der Lektor: "Wort des lebendigen Gottes". - Das hört sich so an, als habe Gott selbst den Text geschrieben oder einem Schreiber wörtlich eingegeben (eingeflüstert), wie es bis vor nicht allzu langer Zeit Theologiestudenten und Christen zu lernen bekamen. Der Fachausdruck dafür heißt "Verbalinspiration". Auf Deutsch: der Schreiber wurde beim Verfassen des Textes wörtlich inspiriert; ihm wurden die Worte und Sätze vom heiligen Geist eingegeben - so wie es Moslems bis heute über den Koran behaupten.

Die Suren des Koran seien wörtliche Eingebungen Allahs bzw. seines Gesandten Gabriel in das Ohr des Propheten. Deshalb könne an den Sätzen des Koran nichts gedeutet werden; nichts könne - so die Fundamentalisten und Traditionalisten - "historisch-kritisch" geprüft und unter die Lupe genommen werden. Was da geschrieben stehe, sei ein für allemal gültig und unverrückbar, weil der Prophet wie ein Griffel, wie ein Schreibwerkzeug in der Hand Allahs nur passiv und rezeptiv tätig gewesen sei.

Es hat im christlich(-katholischen) Lager lange gedauert, bis man beim Glauben an die "Verbalinspiration" bestimmte Fragen ernsthaft an sich herankommen ließ: wie kommt es, dass die Texte der Evangelisten Mathäus, Markus, Lukas und Johannes nicht identisch sind? Wie kann es sein, dass Gott dem einen andere Sätze eingibt als dem anderen; dass die Evangelisten zwar vieles gemeinsam haben, aber auch viel Unterschiedliches? Kann Gott ein so unterschiedlicher "Offenbarer" sein?

Die Antworten, die heute Allgemeingut geworden sind, lauten: die Schreiber der Evangelien waren nicht nur passive Werkzeuge in der Hand Gottes; sie haben das, was Gott der Menschheit mitteilen wollte, in eigene Worte gefasst; in die ihnen eigene Sprache und Vorstellungswelt übersetzt. Es waren immer auch Worte Gottes, in ihre konkrete Situation hinein gesprochen. Dies bedeutet, dass die Bibel als Gotteswort im Menschenwort bezeichnet werden kann. In die Bibel ist sehr viel Menschliches eingeflossen; nicht nur Sprache und Ausdrücke, sondern auch menschliche Reaktionen wie Ängste, Zweifel, Aggressionen, Versuchungen zu Feuer, Schwert und Gewalt...

Die "Vermischung" von göttlicher Weisung und menschlicher Anteilnahme macht die Deutung biblischer Texte schwer: Was ist darin "göttlich", was "menschlich" und zeitbedingt; wie haben die Lebenssituation des Schreibers, sein historisch-sozialer Kontext ihren Niederschlag darin gefunden; worin zeigt sich wirklich Gottes Wort und Offenbarung?

2. Schöpferisches Mittun als Qualität des Glaubens...

Es gab schon immer viele Fragen, die sich gläubige Menschen stellten. Wie wurden sie in der biblischen Tradition beantwortet? Als erstes stellte sich die Frage nach dem Glauben selbst. Da man den Glauben nicht beweisen kann, gehört er zu den Grundentscheidungen des Lebens überhaupt. Entweder leben Menschen in der Hoffnung, Vermutung, Ahnung... nach etwas Höherem oder sie tun es nicht. Meist orientiert sich die Entscheidung an maßgeblichen Menschen wie Buddha, Jesus, Mohammed... Es können aber auch Eltern und Lehrer, Omas und Opas, Gläubige und Ungläubige sein. Die Art und Weise, wie sie reden, sich verhalten, ihr Leben gestalten, Konflikte und Lebenskrisen bewältigen, bleibt Maß-gebend. Überraschend und aufschlussreich ist, dass sich der größte Teil der Menschheit schon immer für das Religiöse entschieden hat. Im Grunde war die gesamte Menschheitsgeschichte immer auch eine Religionsgeschichte.

Die Entscheidung für das Religiöse und den Glauben hat immer auch dynamische und schöpferische Kräfte bei Menschen entfaltet. Auch als es um das Festhalten und Aufschreiben des "Wortes Gottes" ging, sind Menschen immer aktiv beteiligt gewesen. Für solche wird der Glaube an "heilige Schriften" nie ein Buchstabenglaube. Fundamentalisten und andere, die zum Buchstabenglauben neigen, haben von der Sache eigentlich nichts verstanden.

Man muß die Entstehung der Schriften des Neuen Testamentes bedenken. Jesus hat die Texte den Evangelisten damals nicht diktiert. Er hat selbst nichts aufgeschrieben oder aufschreiben lassen. Nach seinem Tod und seiner Auferstehung - Ereignisse großer Konfusion und Aufregung für seine Anhänger - versammelten sich diese, um sich an all das zu erinnern, was Jesus gesagt und getan hatte. Die ersten christlichen Gemeinden könnte man als Erinnerungsgemeinschaften bezeichnen. Mündlich wurde erzählt und weitergegeben, worum es Jesus gegangen war.

Faktum ist, dass die Erinnerungskapazitäten bei Menschen sehr unterschiedlich sind. Sie sehen und hören immer nur das, was in ihrem geistigen Horizont ankommt und bemerkenswert ist. Vieles wird dabei ausgelassen, gerät in Vergessenheit oder wird verändert weitergegeben... So setzten die Gemeindetraditionen jeweils andere Akzente; ihr Interesse- und Fragehorizont waren unterschiedlich. Als sich die Evangelisten Jahrzehnte später daran machten, das mündlich Tradierte schriftlich festzuhalten, hatten sich bereits verschiedene Theologien entwickelt. Markus legt großen Wert auf das Festhalten der Taten Jesu; Mathäus stellt vorrangig die Reden und Gleichnisse Jesu in den Mittelpunkt; Lukas ist der "Historiker", der sich überall nach dem faktisch Gewesenen erkundigt; Johannes ist der "Philosoph", der persönlich verarbeitet, denkt und in Worte fasst...

Wie für das Neue Testament, so gibt es auch für die Sakramente eine eigene Entstehungsgeschichte. Früher ging man mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, dass die sieben (katholischen) Sakramente von Jesus gestiftet worden seien. Heute weiß man, dass dies nur bedingt richtig ist. Die meisten Sakramente - außer vielleicht Taufe und Eucharistie - wurden von der Kirche als Zeichen der Hoffnung auf das von Jesus verkündete Reich Gottes eingesetzt.

Ähnlich sind die Zehn Gebote nicht vom Himmel gefallen; auch nicht durch eine Spontanaktion Gottes oder eines Propheten den Menschen auferlegt worden. Sie haben im Gegenteil viel mit den zeitlich langen Erfahrungen und Lebenswegen des Volkes Israel zu tun - mit seinen Einsichten und gewachsenen Überzeugungen, die sie mit ihrem Glauben an Gott in Einklang zu bringen versucht haben. Dabei erhielten sie den Charakter eines göttlichen Auftrags. Nach alter Auffassung konnte Jahwe immer nur auf das Wohlergehen und Zusammenwachsen des "auserwählten Volkes" bedacht sein. Die Zehn Gebote zementieren diesen Willen Gottes und machen sie für das Volk zu ehernen Gesetzen.

3. "Prüfet alles, behaltet das Gute" (1 Thess. 5.21).

Diese Weisung des Apostels Paulus an die Christen und Gemeinden in Thessaloniki ist auch für die Zukunft des Christentums und der Kirchen von größter Bedeutung. "Prüfet alles, behaltet das Gute". Offensichtlich traute Paulus den Christen damals die nötige kritische Urteilskraft zu, um diese Weisung wirklich in die Tat umsetzen zu können.

Prüfen und Behalten meint ein Abwägen und Entscheiden, nachdem nichts an "Pro" und "Contra" in Stimme und Gegenstimme übergangen worden ist. Sie machen eine kritische Urteilskraft erforderlich, die nicht selbstverständlich vorhanden ist, sondern erst durch Erfahrung und Erprobung wachsen und reifen muß. Ob die Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil solche Prozesse zugelassen hat? Bei solcher Frage entstehen große Zweifel.

Wäre sie auf dem Pastoralen Weg des Konzils geblieben, hätte sie solche Prozesse vorangetrieben. De facto ist sie aber schnell wieder auf die ehemaligen dogmatischen und kirchenrechtlichen Selbstsicherheiten gewechselt. Die theologischen Spezialisten bekamen wieder das Sagen. Meistens haben sie keine pastorale Praxis. Es wurden Denk- und Suchprozesse durch autoritäre Maßnahmen und Entscheidungen unterbunden. Die Synoden in Würzburg, Medellin, Puebla, aber auch verschiedene Diözesansynoden haben es gezeigt. Betroffene Laiengruppen und Organisationen wurden (und werden bis heute) vor den Kopf gestoßen nach dem Motto: Was in die herkömmliche Ordnung nicht passt, kann nicht wahr sein. Ein gefährlicher Virus ist seitdem dabei, sich in den Gemütern und Herzen festzusetzen: Es geht nicht um die Anliegen des Evangeliums und Jesu, sondern um den Selbsterhalt der im Mittelalter entstandenen zentralistischen und obrigkeitlichen Kirche!

Ein zweiter Umstand wird aufgrund biblischer Erkenntnisse immer mehr von Bedeutung. Kann in Zukunft noch davon gesprochen werden, es gäbe nur die eine, heilige (katholische) Kirche; alle anderen seien ihr unterzuordnen, jedenfalls nicht als gleichberechtigt anzusehen? Wenn man davon ausgeht, dass nur eine dogmatische Wahrheit richtig sein kann, ist ein Alleingültigkeitsanspruch berechtigt. Das Evangelium dagegen schafft Raum für vielfältiges Denken und Handeln. Da geht es nicht um Dogmatik und Kircherecht, sondern um Denk- und Lebensformen, die alle von denselben "Tugenden" wie Praxis der Liebe, Gerechtigkeit, des wahren und gottgemäßen Lebens bestimmt sind. Solche gemeinsamen Anliegen lassen ohne Zweifel unterschiedliche Ausdrucksweisen zu - je nach menschlichen, geschichtlichen, traditionellen und kulturellen Voraussetzungen.

Der schon erwähnte "gefährliche Virus" hat dazu beigetragen, dass sich solch biblische Einstellungen längst verbreitet haben. De facto sind im Laufe der Geschichte unterschiedliche Kirchen entstanden. Solange sie "dogmatisch" orientiert waren und sind, gab und gibt es genug Anlässe für Glaubens- und Religionskriege. Sobald es ihnen aber um die wirklichen Anliegen Jesu geht - um das "Tun der Wahrheit", um das "Schon Jetzt" des Reiches Gottes durch Werke der Gerechtigkeit und Liebe - , kann es in Zukunft eigentlich nur eine gegenseitige Beispielhaftigkeit geben. Die Gründung von Taizé durch Roger Schutz ist ein klassisches Vorbild für Kirchen, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

Kirchen müssten anfangen, voneinander zu lernen, wie das Christ-sein in einer schwieriger gewordenen Welt gelingen kann? Nicht also gegenseitige Behauptungen und seichter Dialog sind angebracht, sondern gegenseitige Anerkennung und Ergänzung. Was der einen fehlt und mangelt, mögen andere besser "können" - nämlich Hoffnungszeichen auf das Reich Gottes zu sein, welches im Hier und Heute durch Menschen zu beginnen hat, aber auf die Zukünftigkeit Gottes hin angelegt ist.
 


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