www.fritz-koester.de
Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Kleines Handbuch christlicher Lebensführung (V):
Propheten als Pioniere und Zukunftsansager.

Juni 2006

Wenn sich die Frage stellt, was Religionen in allen Jahrtausenden lebensfähig und zukunftsträchtig gemacht hat, welches ihre Kraft und Dynamik war, dann spielen bei der Beantwortung dieser Frage die Propheten ohne Zweifel eine entscheidende Rolle. Umgekehrt stirbt eine Religion, wenn sie sich im Polstersessel der Wohlanständigkeit und der Gutgläubigkeit niederlässt. Meist bringt sie dann auch keine Propheten mehr hervor oder lässt sie als "Unruhestifter" und "Nestbeschmutzer" nicht gelten, wenn nicht sogar töten. Die Geschichte des Alten und Neuen Testamentes könnte man eine Geschichte der Propheten nennen. Jesus z.B. hatte den Ruf eines "Propheten aus Nazareth" (Mt 21.11), eines "Propheten des Höchsten" (Lk 1.76). Er wusste aber auch: "nirgends gilt ein Prophet weniger als in seiner Vaterstadt" (Mt 13.57). Und: Wer für Gerechtigkeit und Frieden eintritt, muß mit Beschimpfung und Verfolgung rechnen: "so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt" (Mt 5.10-12). Solche Verfolgung hat aber auch harte Konsequenzen zur Folge: vom Tempel wird kein Stein auf dem anderen bleiben... "Ihr werdet von Kriegen hören... Ein Volk wird sich gegen das andere erheben... An vielen Orten wird es Hungersnöte und Erdbeben geben... Falsche Propheten werden auftreten... Es wird eine so große Not kommen, wie es noch nie gegeben hat, seit die Welt besteht, und wie es auch keine mehr geben wird...Die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden..."(Mt 24.1-29).
Wer waren also die Propheten: die "Gegenwartskritiker wider ihren eigenen Willen"; die "Pioniere und Zukunftsansager im Auftrag eines Anderen"?


1. Der historische Hintergrund.

Um die Rolle der Propheten im AT und NT zu verstehen, müssen zunächst einige Grundstrukturen der alt- und neutestamentlichen Unheils- bzw. Heils- und Erlösungsgeschichte in Erinnerung gerufen werden:

  1. Der Schöpfungsbericht erzählt von der Erschaffung der Welt und aller Lebewesen durch Gott. "Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut war"(Gen 1.31).
  2. Der Sündenfall. Durch den Sündenfall ist Sand ins Getriebe der Schöpfung gekommen. Es wird "Feindschaft gesetzt" zwischen den ersten Menschen und ihren Nachkommen (Gen 3.15). Kain und Abel setzen eine Geschichte in Gang bzw. setzen sie fort, die gekennzeichnet ist von Tod und Verderben, Mord und Gewalt, Krieg und Frieden...
  3. Der lange Weg Israels zum Ein-Gott-Glauben. Es ist ein krisengeschüttelter und wagnisreicher Weg im Umfeld des Polytheismus. Um den Gefährdungen und Bedrohungen der Umwelt nicht zu erliegen, schließt Jahwe einen Bund mit Noach. Der Glaube des AT wird zum Bundesglauben, zum Bund der Freundschaft Gottes mit seinem Volk. Durch die zehn Gebote werden Regeln aufgestellt, die die Ordnung des Lebens der Menschen mit Gott und untereinander verbindlich regeln (Ex 20).

2. Propheten als Mahner zu einem gottgemäßen Denken und Handeln.

Die Propheten werden die großen Mahner und Erzieher zur Treue im Glauben an Jahwe und seine Anweisungen. Ihnen geht es nicht nur um "Glauben" und gläubige Festlichkeiten. Der Prophet Micha z.B. (740-700 v. Ch.) klagt mit Schärfe und Beharrlichkeit die Achtung der Menschenwürde und das Einhalten der Menschenrechte ein. Sie sind für ihn Grundlage und Maßstab der Verehrung Gottes. Er besteht auf der Rechtsordnung Gottes und beklagt das Versagen der politischen Amtsträger, die nur die Interessen des Staates und der Reichen im Blickfeld haben. Ein messianischer Neuanfang wird gefordert; ebenso eine neue ethische Ernsthaftigkeit des Anspruchs, "auserwähltes Volk Gottes" zu sein. Denn "es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist" (Micha 6.8). - Micha kämpft:

  • gegen die habgierigen Reichen (Kap.2. 1-5)
  • gegen die Führer, die das Volk unterdrücken (Kap. 3.1-4)
  • gegen die käuflichen Propheten (Kap. 3.5-8)
  • An die Verantwortlichen und Treulosen richtet er die Ankündigung von Zions Untergang (Kap.3.9-12) und droht mit dem Gericht über Samaria (Kap.1.1-7) .
  • Andererseits gibt es auch die Verheißung der zukünftigen Herrschaft Jahwes auf dem Zion (Kap. 4.1-8).
     

Wie Micha, so sprechen auch die anderen Propheten Israels in eine singuläre und konkrete Situation hinein. Eindeutige Adressaten sind angesprochen und gemeint. In ihrer jeweiligen geschichtlichen Konstellation treten sie auf und – ihre Berufung als von Gott autorisiert verstehend – mahnen sie, richten sie, verheißen sie Unheil und Strafgericht, lassen zugleich hoffen auf Segen und Heilszusagen. Sie schärfen die Weisungen Gottes ein; sie sind "sowohl Gegenwartskritiker als auch Zukunftsansager" (E. Zenger).

Der Prophet Jesaja (8.Jh. v. Chr.) greift die großen Themen des biblischen Glaubens auf. Sie heißen Recht und Gerechtigkeit in Israel und unter den Völkern. Denn der "Heilige Israels" ist derjenige, der rettet und Frevler verwirft; der sich als Erlöser erweist und dabei auf das Anbrechen der Herrschaft Gottes verweist... – Er spricht:

  • vom Gericht Jahwes: "Seht her! Der Herr verheert und verwüstet die Erde; er verändert ihr Gesicht und zerstreut ihre Bewohner" (Kap. 24.1-6)
  • vom "Lied über die zerstörte Stadt" und "die letzten Kämpfe" (Kap. 24.7-23)
  • vom "Vorübergang des Herrn": "Der Herr verlässt den Ort, wo er ist, um die Erdenbewohner für ihr Schuld zu bestrafen" (Kap. 26.20-21).
  • Andererseits wird es eine Befreiung von allen Übeln geben: "Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott... Verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist" (Kap. 40.1-31)

Was das um sein persönliches Schicksal ringenden Menschen betrifft, bleibt das Buch Job (600-400 v. Chr.) beispielhaft. Job ist Dulder und Rebell, Lästerer und Zweifler, Skeptiker und Provokateur zugleich. Er ist hin- und hergerissen zwischen Protest, Aufbäumen, Widerstand und Ergebung, Annahme und Vertrauen. Seine Frage nach dem Sinn des Leidens, besonders Unschuldiger, gipfelt in dem Bekenntnis: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" (19.25). Die Hoffnung auf den Erlöser bleibt der tragende Grund für seine Standfestigkeit im Glauben.

Jesus gehört in die Reihe der großen Propheten. Authentisch, als Messias und Sohn Gottes, hat er menschennah und situationsgerecht deutlich gemacht, wie Gott an den Menschen und an der Welt handelt; wie der Friede Gottes und die "größere Gerechtigkeit" schon im Hier und Heute des Lebens ihren glaubwürdigen Anfang nehmen können. Seine Botschaft lautet: Liebe, sogar Feindesliebe, Barmherzigkeit den Armen und Bedürftigen gegenüber, Hilfsbereitschaft und Verzeihen, Güte und Menschenfreundlichkeit...
Alle diese Werte und Lebenshaltungen sind alles andere als bloßer "Humanismus" oder "Horizontalismus", wie es spätere theologische Interpretationen weiszumachen versuchen (solche Gefahren beschwört z.B. J. Ratzinger). In der biblischen Tradition stehen sie in einem größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang, weil sie als "Samenkörner" und "Sauerteig der Welt" auf die Endgültigkeit des Reiches Gottes hin orientiert sind und darin ihre Vollendung finden. Durch sie entsteht schon im Hier und Heute "Reich Gottes" – sozusagen als anfängliches Heil.

3. Schwerwiegende Veränderungen in späterer Zeit.

Durch die Hellenisierung des Christentums fanden schwerwiegende Verschiebungen statt – "bis an den Rand der Häresie" (H. Newman). Der christliche Glaube verbündete sich, reflektierend über sich selbst, mit der griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles...). Die abendländische Intelligenz bemächtigte sich der Frage des Glaubens. Wie in der Philosophie, so trat auch in der Theologie das Denken über das "Gute, Wahre und Schöne" in den Vordergrund (Ethik und Moral, Dogmatik und akademisch-abstrakte Lehre, Ästhetik und liturgische Feierlichkeiten). Das Christentum entwickelte sich so zu einer Theologen-, Kleriker- und Spezialistenreligion, die das christliche Volk in früheren Zeiten mit "kirchlichen Angeboten" beeinflussen und konkurrenzlos bei der Stange halten konnte, heute aber immer weniger. Der zeitbezogene, situationsangemessene prophetische Charakter des Glaubens blieb "Einzelkämpfern" vorbehalten: Ordensgründern, Reformatoren, Außenseitern... Sie hatten mit der "Amtskirche" oft erhebliche Schwierigkeiten...

Folgenschwer war auch die Romanisierung des Glaubens, d.h. die Nachahmung des Staates durch die Kirche. Diese organisierte sich nach staatlichem Vorbild: monarchisch, hierarchisch, zentralistisch, fürstlich-autoritär...

Wie immer diese unterschiedlich gewordenen Fakten geworden sind – sie waren in früheren Zeiten gesellschaftlichen Verhältnissen angemessen. Es hat immer eine Anpassung an den "Zeitgeist" gegeben. Heute erweisen sich herkömmliche Gegebenheiten insofern als Hindernisse und Handicaps für die Kirche, als nicht mehr zu übersehen ist, dass sie den Kontakt zum Leben human- und naturwissenschaftlich orientierter Menschen, zu ihrem Denken und andersgearteten Lebenseinstellungen verloren hat. Der gesellschaftliche Einflussverlust der Kirche ist gewaltig; die Austrittsbewegung seit Jahren auf hohem Niveau... Ob diese Mängel durch kirchliche "Jugend-Events" oder zur Gewohnheit werdende Papstinszenierungen auf dem Petersplatz und anderswo beseitigt werden können, ist sehr zweifelhaft. Bisher zeigt die Erfahrung, dass sie dem Aufbau und Glauben der Gemeinden, wie die Apostelgeschichte sie beschreibt, wenig dienlich sind. Masseninszenierungen fördern vielleicht eine sympathische "Fernbindung" an die Kirche. Aber sie bleibt unverbindlich und beliebig; verbindlich und engagiert wird diese Bindung bisher jedenfalls nicht...

Es gibt auch Stimmen, die behaupten, die "Krise" treffe nur auf die sog. "zivilisierten Länder" zu. In naiver Zuversichtlichkeit verweisen sie auf Asien, Afrika und Lateinamerika, "wo der Glaube lebt". Das Christentum sei in vielen Ländern "blühend und wachsend". Dagegen ist z.T. nichts einzuwenden. Aber es ist auch eine Tatsache, dass das Christentum für viele zunächst mit der Erfahrung eines rasanten sozialen Aufstiegs verbunden ist – als Anschlussmöglichkeit an die technischen Errungenschaften Europas. Was wird, wenn die Konsumwirtschaft und der materielle Fortschritt schneller voranschreiten als gewollt und erwartet? Zum "Kern der Sache selbst" jedenfalls sind diese Länder bisher nicht vorgestoßen. Auch nicht mit Hilfe der Kirchen. -

4. Aus der Vergangenheit lernen, statt sie zu wiederholen.

Auf dem bisher geschilderten geschichtlichen Hintergrund müssen wir wieder unsere Gegenwart sehen und beurteilen lernen. Nur wer die Vergangenheit kennt und im Auge behält, kann innerlich und äußerlich Abschied von ihr nehmen und angemessene Schritte in die Zukunft tun. Aus der Geschichte lernen – ohne sie zu wiederholen – muß das Motto sein. Wo es darum geht, den prophetischen Charakter des Glaubens wieder neu zu entdecken und zum Zuge kommen zu lassen, sollten folgende Ziele und Leitlinien eine vorrangige Rolle spielen:

  1. Das Christentum bzw. die Botschaft Jesu als Ganze müssen wieder als ethische Herausforderung begriffen werden. Seit Jahrhunderten haben wir das Christentum weitgehend dogmatisch auf seinen Wahrheitsgehalt hin untersucht; kirchenrechtlich nach innen strukturiert und nach außen abgesichert; rituell-liturgisch gefeiert und ästhetisch anziehend gemacht. Die Botschaft Jesu als "ethische Herausforderung" hat dagegen konkrete Fakten und Lebenslagen im Blick; ist eine Aufforderung an jede/jeden, sich den unmittelbaren Herausforderungen des Lebens zu stellen - mit offenen Augen und Ohren "reagieren" zu lernen auf das, was augenfällig notwendig ist. Wirkliche Notwendigkeiten erweisen sich normalerweise als Not wendend.
     
  2. Unser christliches Glaubensverständnis müssen wir wieder auf die Frage hin überprüfen lernen, wie weit es etwas zu tun hat mit der konkreten Lebensführung bzw. mit der Fähigkeit des "Reagierens" auf die Zeichen der Zeit. Gläubiges Handeln ist nicht das Konsekutivum aus einem wohl durchdachten Wahrheitsverständnis, sondern der Glaube wird konstituiert durch das Handeln selbst. Im Reagieren auf das, was Gott heute und jetzt mit einem vorhat, wird Glaube Antwort auf den Anruf Gottes. Glaube ist nur ein anderes Wort für: gelebte Liebe und Barmherzigkeit gegenüber einer zu erlösenden Welt und Menschheit. Im Blick auf Jesus ist Glaube die verbindliche Übernahme seiner Denk- und Handlungsweise in die eigene Lebenssituation.
     
  3. Gläubiges Handeln und Handeln aus dem Glauben gegenüber einer zu heilenden und zu erlösenden Welt kann man nicht als "Horizontalismus" oder "bloßen Humanismus" bezeichnen, da ihnen die heilsgeschichtliche Perspektive gegeben ist. Alles, was Christen "in Seinem Namen" denken oder tun, gleicht dem "Sauerteig", dem Samen, der, in die Erde gesät, im Hier und Heute zu wachsen beginnt und "Reich Gottes" ansatzweise entstehen läßt. Während den Christen das Säen aufgegeben ist, hat sich ein anderer das Wachsen und die Ernte vorbehalten – ein Vorbehalt, der Glauben schwer macht.
     
  4. Christen ist es aufgegeben, situations- und zeitgemäß Leben und Handeln aus dem Glauben exemplarisch der Welt vor Augen zu führen. Es geht nicht nur um die Pflege des Traditionellen und Herkömmlichen; nicht nur um die Aufrechterhaltung des Liebgewordenen, sondern vor allem auch um die Hellhörigkeit auf die "Zeichen der Zeit" und um die Fähigkeit, das Gebot der Stunde im Kleinen wie im Großen zu erkennen. Dieses Postulat wird immer dann besonders wichtig, wenn augenfällig die Ordnung unter den Menschen oder in der Schöpfung gestört ist. Gerade in "brisanten Angelegenheiten" ist der prophetische Charakter der Religion gefragt, wie er dem jüdisch-christlichen Charisma gegeben ist.

Eine sozial und traditionell strukturierte Religion – Ergebnis des Suchens und Fragens des Menschen nach Gott (religere; religare) – neigt dazu, sich als geistreiches, selbstsicheres Lehrsystem zu etablieren. Was dabei verloren zu gehen droht, sind ihre ursprüngliche Kraft und Frische: nämlich Antwort zu geben auf Mängel. Einer prophetischen Religion ist es aufgegeben, das Entsetzen über den Zustand der Welt und das unrechtmäßige Verhalten von Menschen laut kund zu tun.

Wie die Propheten des AT hat auch Jesus die Mängel aufgezeigt und angeprangert. Er hat Verwunderung und Empörung unüberhörbar zur Sprache gebracht. Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen, auch der religiös Mächtigen, hat er gerichtet und Unakzeptables direkt angesprochen. Seine Sprache war die des Bestreitens und Vermissens all dessen, was fehlte, was verloren war und was neuer Hoffnung bedurfte.

Der aussichtsreichen Hoffnung auf Gott hat Jesus durch "Wundertaten" Ausdruck verliehen. Sie beeindruckten als Anfang einer "heileren, erlösteren Welt", einer "größeren Gerechtigkeit". Solche Ziele sind dem Menschen als Planer und "Gestalter" auch aufgegeben, aber nicht in Vollendung zugestanden. Gottes Taten bleiben immer Ansagen einer Vision, die erst im Reich Gottes ihre Vollendung finden.


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
Bitte beachten Sie meine Nutzungsbedingungen.