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Kleines
Handbuch christlicher Lebensführung (V):
Propheten als Pioniere und Zukunftsansager.
Juni 2006
Wenn sich die Frage stellt, was Religionen in allen Jahrtausenden
lebensfähig und zukunftsträchtig gemacht hat, welches ihre Kraft und Dynamik
war, dann spielen bei der Beantwortung dieser Frage die Propheten
ohne Zweifel eine entscheidende Rolle. Umgekehrt stirbt eine Religion, wenn
sie sich im Polstersessel der Wohlanständigkeit und der Gutgläubigkeit
niederlässt. Meist bringt sie dann auch keine Propheten mehr hervor oder
lässt sie als "Unruhestifter" und "Nestbeschmutzer" nicht gelten, wenn nicht
sogar töten. Die Geschichte des Alten und Neuen Testamentes könnte man eine
Geschichte der Propheten nennen. Jesus z.B. hatte den Ruf eines
"Propheten aus Nazareth" (Mt 21.11), eines "Propheten des Höchsten" (Lk
1.76). Er wusste aber auch: "nirgends gilt ein Prophet weniger als in seiner
Vaterstadt" (Mt 13.57). Und: Wer für Gerechtigkeit und Frieden eintritt, muß
mit Beschimpfung und Verfolgung rechnen: "so wurden schon vor euch die
Propheten verfolgt" (Mt 5.10-12). Solche Verfolgung hat aber auch harte
Konsequenzen zur Folge: vom Tempel wird kein Stein auf dem anderen
bleiben... "Ihr werdet von Kriegen hören... Ein Volk wird sich gegen das
andere erheben... An vielen Orten wird es Hungersnöte und Erdbeben geben...
Falsche Propheten werden auftreten... Es wird eine so große Not kommen, wie
es noch nie gegeben hat, seit die Welt besteht, und wie es auch keine mehr
geben wird...Die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden..."(Mt
24.1-29).
Wer waren also die Propheten: die "Gegenwartskritiker wider ihren eigenen
Willen"; die "Pioniere und Zukunftsansager im Auftrag eines Anderen"?
1. Der historische Hintergrund.
Um die Rolle der Propheten im AT und NT zu verstehen, müssen zunächst einige
Grundstrukturen der alt- und neutestamentlichen Unheils- bzw. Heils- und
Erlösungsgeschichte in Erinnerung gerufen werden:
- Der Schöpfungsbericht erzählt von der Erschaffung der Welt und
aller Lebewesen durch Gott. "Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte,
sehr gut war"(Gen 1.31).
- Der Sündenfall. Durch den Sündenfall ist Sand ins Getriebe der
Schöpfung gekommen. Es wird "Feindschaft gesetzt" zwischen den ersten
Menschen und ihren Nachkommen (Gen 3.15). Kain und Abel setzen eine
Geschichte in Gang bzw. setzen sie fort, die gekennzeichnet ist von Tod
und Verderben, Mord und Gewalt, Krieg und Frieden...
- Der lange Weg Israels zum Ein-Gott-Glauben. Es ist ein
krisengeschüttelter und wagnisreicher Weg im Umfeld des Polytheismus. Um
den Gefährdungen und Bedrohungen der Umwelt nicht zu erliegen, schließt
Jahwe einen Bund mit Noach. Der Glaube des AT wird zum Bundesglauben,
zum Bund der Freundschaft Gottes mit seinem Volk. Durch die zehn Gebote
werden Regeln aufgestellt, die die Ordnung des Lebens der Menschen mit
Gott und untereinander verbindlich regeln (Ex 20).
2. Propheten als Mahner zu einem gottgemäßen Denken und Handeln.
Die Propheten werden die großen Mahner und Erzieher zur Treue im
Glauben an Jahwe und seine Anweisungen. Ihnen geht es nicht nur um "Glauben"
und gläubige Festlichkeiten. Der Prophet Micha z.B. (740-700 v. Ch.)
klagt mit Schärfe und Beharrlichkeit die Achtung der Menschenwürde und das
Einhalten der Menschenrechte ein. Sie sind für ihn Grundlage und Maßstab der
Verehrung Gottes. Er besteht auf der Rechtsordnung Gottes und beklagt das
Versagen der politischen Amtsträger, die nur die Interessen des Staates und
der Reichen im Blickfeld haben. Ein messianischer Neuanfang wird gefordert;
ebenso eine neue ethische Ernsthaftigkeit des Anspruchs, "auserwähltes Volk
Gottes" zu sein. Denn "es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist" (Micha 6.8).
- Micha kämpft:
- gegen die habgierigen Reichen (Kap.2. 1-5)
- gegen die Führer, die das Volk unterdrücken (Kap. 3.1-4)
- gegen die käuflichen Propheten (Kap. 3.5-8)
- An die Verantwortlichen und Treulosen richtet er die Ankündigung von Zions
Untergang (Kap.3.9-12) und droht mit dem Gericht über Samaria (Kap.1.1-7)
.
- Andererseits gibt es auch die Verheißung der zukünftigen Herrschaft Jahwes
auf dem Zion (Kap. 4.1-8).
Wie Micha, so sprechen auch die anderen Propheten Israels in eine
singuläre und konkrete Situation hinein. Eindeutige Adressaten sind
angesprochen und gemeint. In ihrer jeweiligen geschichtlichen Konstellation
treten sie auf und – ihre Berufung als von Gott autorisiert verstehend –
mahnen sie, richten sie, verheißen sie Unheil und Strafgericht, lassen
zugleich hoffen auf Segen und Heilszusagen. Sie schärfen die Weisungen
Gottes ein; sie sind "sowohl Gegenwartskritiker als auch Zukunftsansager"
(E. Zenger).
Der Prophet Jesaja (8.Jh. v. Chr.) greift die großen Themen des
biblischen Glaubens auf. Sie heißen Recht und Gerechtigkeit in Israel und
unter den Völkern. Denn der "Heilige Israels" ist derjenige, der rettet und
Frevler verwirft; der sich als Erlöser erweist und dabei auf das Anbrechen
der Herrschaft Gottes verweist... – Er spricht:
- vom Gericht Jahwes: "Seht her! Der Herr verheert und verwüstet die
Erde; er verändert ihr Gesicht und zerstreut ihre Bewohner" (Kap. 24.1-6)
- vom "Lied über die zerstörte Stadt" und "die letzten Kämpfe" (Kap.
24.7-23)
- vom "Vorübergang des Herrn": "Der Herr verlässt den Ort, wo er ist, um
die Erdenbewohner für ihr Schuld zu bestrafen" (Kap. 26.20-21).
- Andererseits wird es eine Befreiung von allen Übeln geben: "Tröstet,
tröstet mein Volk, spricht euer Gott... Verkündet der Stadt, dass ihr
Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist" (Kap. 40.1-31)
Was das um sein persönliches Schicksal ringenden Menschen betrifft, bleibt
das Buch Job (600-400 v. Chr.) beispielhaft. Job ist Dulder und
Rebell, Lästerer und Zweifler, Skeptiker und Provokateur zugleich. Er ist
hin- und hergerissen zwischen Protest, Aufbäumen, Widerstand und Ergebung,
Annahme und Vertrauen. Seine Frage nach dem Sinn des Leidens, besonders
Unschuldiger, gipfelt in dem Bekenntnis: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt"
(19.25). Die Hoffnung auf den Erlöser bleibt der tragende Grund für seine
Standfestigkeit im Glauben.
Jesus gehört in die Reihe der großen Propheten. Authentisch, als
Messias und Sohn Gottes, hat er menschennah und situationsgerecht deutlich
gemacht, wie Gott an den Menschen und an der Welt handelt; wie der Friede
Gottes und die "größere Gerechtigkeit" schon im Hier und Heute des Lebens
ihren glaubwürdigen Anfang nehmen können. Seine Botschaft lautet: Liebe,
sogar Feindesliebe, Barmherzigkeit den Armen und Bedürftigen gegenüber,
Hilfsbereitschaft und Verzeihen, Güte und Menschenfreundlichkeit...
Alle diese Werte und Lebenshaltungen sind alles andere als bloßer
"Humanismus" oder "Horizontalismus", wie es spätere theologische
Interpretationen weiszumachen versuchen (solche Gefahren beschwört z.B. J.
Ratzinger). In der biblischen Tradition stehen sie in einem größeren
heilsgeschichtlichen Zusammenhang, weil sie als "Samenkörner" und "Sauerteig
der Welt" auf die Endgültigkeit des Reiches Gottes hin orientiert sind und
darin ihre Vollendung finden. Durch sie entsteht schon im Hier und Heute
"Reich Gottes" – sozusagen als anfängliches Heil.
3. Schwerwiegende Veränderungen in späterer Zeit.
Durch die Hellenisierung des Christentums fanden schwerwiegende
Verschiebungen statt – "bis an den Rand der Häresie" (H. Newman). Der
christliche Glaube verbündete sich, reflektierend über sich selbst, mit der
griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles...). Die abendländische
Intelligenz bemächtigte sich der Frage des Glaubens. Wie in der Philosophie,
so trat auch in der Theologie das Denken über das "Gute, Wahre und Schöne"
in den Vordergrund (Ethik und Moral, Dogmatik und akademisch-abstrakte
Lehre, Ästhetik und liturgische Feierlichkeiten). Das Christentum
entwickelte sich so zu einer Theologen-, Kleriker- und Spezialistenreligion,
die das christliche Volk in früheren Zeiten mit "kirchlichen Angeboten"
beeinflussen und konkurrenzlos bei der Stange halten konnte, heute aber
immer weniger. Der zeitbezogene, situationsangemessene prophetische
Charakter des Glaubens blieb "Einzelkämpfern" vorbehalten:
Ordensgründern, Reformatoren, Außenseitern... Sie hatten mit der
"Amtskirche" oft erhebliche Schwierigkeiten...
Folgenschwer war auch die Romanisierung des Glaubens, d.h. die
Nachahmung des Staates durch die Kirche. Diese organisierte sich nach
staatlichem Vorbild: monarchisch, hierarchisch, zentralistisch,
fürstlich-autoritär...
Wie immer diese unterschiedlich gewordenen Fakten geworden sind – sie waren
in früheren Zeiten gesellschaftlichen Verhältnissen angemessen. Es hat immer
eine Anpassung an den "Zeitgeist" gegeben. Heute erweisen sich herkömmliche
Gegebenheiten insofern als Hindernisse und Handicaps für die Kirche, als
nicht mehr zu übersehen ist, dass sie den Kontakt zum Leben human- und
naturwissenschaftlich orientierter Menschen, zu ihrem Denken und
andersgearteten Lebenseinstellungen verloren hat. Der gesellschaftliche
Einflussverlust der Kirche ist gewaltig; die Austrittsbewegung seit Jahren
auf hohem Niveau... Ob diese Mängel durch kirchliche "Jugend-Events" oder
zur Gewohnheit werdende Papstinszenierungen auf dem Petersplatz und anderswo
beseitigt werden können, ist sehr zweifelhaft. Bisher zeigt die Erfahrung,
dass sie dem Aufbau und Glauben der Gemeinden, wie die Apostelgeschichte sie
beschreibt, wenig dienlich sind. Masseninszenierungen fördern vielleicht
eine sympathische "Fernbindung" an die Kirche. Aber sie bleibt unverbindlich
und beliebig; verbindlich und engagiert wird diese Bindung bisher jedenfalls
nicht...
Es gibt auch Stimmen, die behaupten, die "Krise" treffe nur auf die sog.
"zivilisierten Länder" zu. In naiver Zuversichtlichkeit verweisen sie auf
Asien, Afrika und Lateinamerika, "wo der Glaube lebt". Das Christentum sei
in vielen Ländern "blühend und wachsend". Dagegen ist z.T. nichts
einzuwenden. Aber es ist auch eine Tatsache, dass das Christentum für viele
zunächst mit der Erfahrung eines rasanten sozialen Aufstiegs verbunden ist –
als Anschlussmöglichkeit an die technischen Errungenschaften Europas. Was
wird, wenn die Konsumwirtschaft und der materielle Fortschritt schneller
voranschreiten als gewollt und erwartet? Zum "Kern der Sache selbst"
jedenfalls sind diese Länder bisher nicht vorgestoßen. Auch nicht mit Hilfe
der Kirchen. -
4. Aus der Vergangenheit lernen, statt sie zu wiederholen.
Auf dem bisher geschilderten geschichtlichen Hintergrund müssen wir wieder
unsere Gegenwart sehen und beurteilen lernen. Nur wer die Vergangenheit
kennt und im Auge behält, kann innerlich und äußerlich Abschied von ihr
nehmen und angemessene Schritte in die Zukunft tun. Aus der Geschichte
lernen – ohne sie zu wiederholen – muß das Motto sein. Wo es darum geht,
den prophetischen Charakter des Glaubens wieder neu zu entdecken und
zum Zuge kommen zu lassen, sollten folgende Ziele und Leitlinien eine
vorrangige Rolle spielen:
- Das Christentum bzw. die Botschaft Jesu als Ganze müssen wieder als
ethische Herausforderung begriffen werden. Seit Jahrhunderten haben
wir das Christentum weitgehend dogmatisch auf seinen
Wahrheitsgehalt hin untersucht; kirchenrechtlich nach innen
strukturiert und nach außen abgesichert; rituell-liturgisch
gefeiert und ästhetisch anziehend gemacht. Die Botschaft Jesu als
"ethische Herausforderung" hat dagegen konkrete Fakten und Lebenslagen
im Blick; ist eine Aufforderung an jede/jeden, sich den unmittelbaren
Herausforderungen des Lebens zu stellen - mit offenen Augen und Ohren
"reagieren" zu lernen auf das, was augenfällig notwendig ist. Wirkliche
Notwendigkeiten erweisen sich normalerweise als Not wendend.
- Unser christliches Glaubensverständnis müssen wir wieder auf
die Frage hin überprüfen lernen, wie weit es etwas zu tun hat mit der
konkreten Lebensführung bzw. mit der Fähigkeit des "Reagierens" auf die
Zeichen der Zeit. Gläubiges Handeln ist nicht das Konsekutivum aus
einem wohl durchdachten Wahrheitsverständnis, sondern der Glaube wird
konstituiert durch das Handeln selbst. Im Reagieren auf das, was Gott
heute und jetzt mit einem vorhat, wird Glaube Antwort auf den Anruf
Gottes. Glaube ist nur ein anderes Wort für: gelebte Liebe und
Barmherzigkeit gegenüber einer zu erlösenden Welt und Menschheit. Im Blick
auf Jesus ist Glaube die verbindliche Übernahme seiner Denk- und
Handlungsweise in die eigene Lebenssituation.
- Gläubiges Handeln und Handeln aus dem Glauben gegenüber einer zu
heilenden und zu erlösenden Welt kann man nicht als "Horizontalismus" oder
"bloßen Humanismus" bezeichnen, da ihnen die heilsgeschichtliche
Perspektive gegeben ist. Alles, was Christen "in Seinem Namen" denken
oder tun, gleicht dem "Sauerteig", dem Samen, der, in die Erde gesät, im
Hier und Heute zu wachsen beginnt und "Reich Gottes" ansatzweise entstehen
läßt. Während den Christen das Säen aufgegeben ist, hat sich ein
anderer das Wachsen und die Ernte vorbehalten – ein Vorbehalt, der
Glauben schwer macht.
- Christen ist es aufgegeben, situations- und zeitgemäß Leben und
Handeln aus dem Glauben exemplarisch der Welt vor Augen zu führen. Es geht
nicht nur um die Pflege des Traditionellen und Herkömmlichen; nicht nur um
die Aufrechterhaltung des Liebgewordenen, sondern vor allem auch um die
Hellhörigkeit auf die "Zeichen der Zeit" und um die Fähigkeit, das Gebot
der Stunde im Kleinen wie im Großen zu erkennen. Dieses Postulat wird
immer dann besonders wichtig, wenn augenfällig die Ordnung unter den
Menschen oder in der Schöpfung gestört ist. Gerade in "brisanten
Angelegenheiten" ist der prophetische Charakter der Religion
gefragt, wie er dem jüdisch-christlichen Charisma gegeben ist.
Eine sozial und traditionell strukturierte Religion – Ergebnis des Suchens
und Fragens des Menschen nach Gott (religere; religare) – neigt dazu, sich
als geistreiches, selbstsicheres Lehrsystem zu etablieren. Was dabei
verloren zu gehen droht, sind ihre ursprüngliche Kraft und Frische: nämlich
Antwort zu geben auf Mängel. Einer prophetischen Religion ist es
aufgegeben, das Entsetzen über den Zustand der Welt und das unrechtmäßige
Verhalten von Menschen laut kund zu tun.
Wie die Propheten des AT hat auch Jesus die Mängel aufgezeigt und
angeprangert. Er hat Verwunderung und Empörung unüberhörbar zur Sprache
gebracht. Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen, auch der religiös Mächtigen,
hat er gerichtet und Unakzeptables direkt angesprochen. Seine Sprache war
die des Bestreitens und Vermissens all dessen, was fehlte, was verloren war
und was neuer Hoffnung bedurfte.
Der aussichtsreichen Hoffnung auf Gott hat Jesus durch "Wundertaten"
Ausdruck verliehen. Sie beeindruckten als Anfang einer "heileren, erlösteren
Welt", einer "größeren Gerechtigkeit". Solche Ziele sind dem Menschen als
Planer und "Gestalter" auch aufgegeben, aber nicht in Vollendung
zugestanden. Gottes Taten bleiben immer Ansagen einer Vision, die
erst im Reich Gottes ihre Vollendung finden.
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