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Kleines
Handbuch christlicher Lebensführung (VI):
Der Mensch – "zur Freiheit berufen" (Gal 4.31).
November 2006
Mit der Freiheit eines Christenmenschen ist es leichter gesagt als getan.
Obwohl bereits das Neue Testament von der Freiheit spricht; obwohl vor allem
in der Jetztzeit die Gewissens- und Meinungsfreiheit des Einzelnen immer
wieder betont wird, bleibt dessen Realisierung dennoch eine heikle
Angelegenheit. Wo kommen wir denn hin, wenn alle in Freiheit ihre eigenen
Gedanken denken; ihren eigenen "Glauben" haben?
Die Freiheitsgeschichte des Menschen stellt die großen Sinn- und
Deutungsentwürfe der Kirchen immer mehr infrage. Sie scheinen nicht dazu
angetan, die Freiheit des Einzelnen zu fördern. Es gibt heute zahlreicher
werdende Stimmen, die behaupten, allumfassende Lehren (der Kirchen) seien
darauf angelegt, den einzelnen Menschen mundtot zu machen; die Vielfalt der
Lebens- und Glaubenswege, damit die Freiheit des Menschen zu seinen eigenen
Optionen und Entscheidungen zu zerstören. Gibt es so etwas wie einen latent
wirkenden "geistigen Imperialismus", der Menschen über andere
herrschen lässt? Ist es wahr, was der Philosoph Feyerabend behauptet?
Er spricht von der "Tyrannei abstrakter Begriffe", die die Vernichtung der
Vielfalt des Lebens betreibt; von "normativ verbindlichen Denkweisen", durch
die die Welt verarme, weil das Konkrete, das jeweils Besondere, welches in
jeder menschlichen Biographie vorhanden ist, missachtet wird?
Für viele Menschen ist es zwar bequem, sich einfach gängeln zu lassen.
"Freiheit" ist anstrengend. Andererseits gilt – es gehört zum Werden und
Wachsen des Menschen, der ja mit der Welt fertig werden muss - : "zur
Freiheit berufen!" Was kann das für eine Freiheit sein?
1. Die Leidenschaft für die Wahrheit – zum Schweigen gebracht?
Das behauptet jedenfalls Paul Tillich, wenn er schreibt: "Die
Leidenschaft für die Wahrheit wird zum Schweigen gebracht durch Antworten,
die das Gewicht unbestrittener Autorität haben".
Solches Gewicht "unbestrittener Autorität" haben ohne Zweifel die "Experten"
in Sachen Religion und Glaube. Wenn man auf sie hört, ohne selbst noch
denken zu müssen oder Zweifel anmelden zu können, zerstört es die
Leidenschaft des eigenen Suchens und Fragens. Solche Zustände dürften sich
in dem Augenblick als besonders verheerend für Religion und Glaube erweisen,
in dem Verantwortliche das "leisten", was Wittgenstein sagt:
"Gelehrte Systematiker... erblicken nur, was in ihr System passt; und sind
blind für alles andere".
Jörg Zink vermutet eine solche "Blindheit" bereits in der Zeit der
Abfassung des Glaubensbekenntnisses im 3. und 4. Jahrhundert. Darin handle
es sich um eine "ungewöhnlich schlechte theologische Arbeit". Da werde von
Jesus Christus gesprochen, als sei an ihm nur eine "übernatürliche
Biographie" wichtig. Er kommt von oben in unsere Welt, leidet und stirbt in
ihr. Aus ihr erhebt er sich in Auferstehung und Himmelfahrt. "Was er gewirkt
hat, wird mit keinem Wort gesagt, oder was er für uns sein und wie er uns
helfen kann, auch nicht. Es ist, als habe er auf der Erde nichts anderes
getan als zu sterben".
Hans Waldenfels findet zu ähnlichen Aussagen. Während es sich in der
Vergangenheit – in Dogmen und Lehraussagen – weitgehend um die Gottheit
Jesu gehandelt habe, findet heute bei den religiös Interessierten, wenn
auch kirchlich Distanzierten, die menschliche Seite Jesu immer
stärkere Beachtung. Im menschlichen Antlitz Jesu stoßen Menschen aller
Zeiten auf die Gottesfrage...
Man könnte in der "Blindheit" für die geschichtliche Gestalt Jesu, für seine
Worte und Taten im Leben vor seinem Tod, einen voreiligen Eifer für
das "Übernatürliche", "Jenseitige", "Himmlische" und "Geheimnisvolle"
vermuten, verbunden mit der Aufforderung an die Gläubigen, "das Irdische zu
verachten und das Himmlische zu suchen". Ganz abgesehen davon, dass solche
"Spiritualität" bis heute das gesamte liturgische und pastorale Geschehen
beeinflusst, war es damals schon ein fundamentaler Fehler, den zweiten
Schritt vor dem ersten zu tun. Der erste Schritt lautete bereits vor
2000 Jahren: Gott ist Mensch geworden; er ist uns Menschen in allem gleich
geworden außer der Sünde... In der Menschlichkeit Jesu; in der Art und
Weise, wie er lebte, sprach und handelte, wie er sich den konkreten
Herausforderungen des Alltags stellte, ist seinen Anhängern eine Ahnung vom
Göttlichen aufgeleuchtet. In seiner Menschlichkeit erkannten sie ihn als
"Sohn Gottes". Sie kamen zu der Erkenntnis, "dass sich der unverfügbare Gott
in Jesus von Nazaret ein Gesicht und das Wort schlechthin geschaffen hat" (Waldenfels). –
Die entscheidende Sichtweise müsste also sein: dem Menschen sein Menschsein
zu ermöglichen, damit er auch Gott finden kann! Es geht um das Ausloten und
Erfahren all dessen, was zum Menschsein gehört, um in der Innerweltlichkeit
des Lebens ein Gespür für das Darüber-hinaus-Liegende zu entwickeln. Dem
Menschen ist es aufgegeben, die Wahrheit seines Lebens zu entdecken.
Mitten im Leben geht es um das Erahnen und Entdecken eines ganz Anderen.
Der Weg Gottes ist der Weg des Menschen. Er geht nicht "von oben nach
unten", sondern immer auch "von unten nach oben". Es ist z.B. in den meisten
Fällen ziemlich erfolglos, von der "Liebe Gottes" zu Menschen zu sprechen,
die nie menschliche Liebe erfahren und gekostet haben. Man kann nicht von
"Gnade" sprechen, wenn die Natur des Menschen nicht voll auf ihre Kosten
kommt. Wo es um das eigene Leben geht, um eigene Wichtigkeiten, sind
Menschen auch ansprechbar für die Wahrheit eines ganz Anderen.
2. Die Globalisierung des Gleichnisses vom Unkraut und Weizen.
Religiös eingestellte Menschen, Organisationen und Kirchen neigen dazu, das
Wirken Gottes unter den Menschen in kluge Denkschemata zu pressen, was der
Freiheit des Menschen im Wege steht. Das hat den Kabarettisten Hanns
Dieter Hüsch – in der Nachfolge des Russen Dostojewski – zu der
Nachricht verleitet, Gott sei aus der Kirche ausgetreten. Auch die Oberen
und Mächtigen der Kirchen hätten ihm "in aller Freundschaft" nahe gelegt,
das Weite zu suchen. Manche Eigenschaften Jesu hätten die Kirchen schon
immer gestört: seine Leichtigkeit, die die schweren Dogmen und Glaubenssätze
sprengt; seine Weite, die nicht in enge Vorschriften und Denkmuster passt;
seine alte Krankheit, alle Menschen zu lieben; seine Großzügigkeit und Güte,
die kleinliche und hartherzige Christen verwirrt...
Viele Menschen, die ihre eigene Freiheit sowie die "Freiheit des
Christenmenschen" entdeckt haben, treten aus der Kirche aus. Sie ertragen
nicht länger die schweren Dogmen und Glaubenssätze. Wenn auch die gewonnene
Freiheit anstrengend ist und sogar in die Irre führen kann, so leben doch
viele auf eine Weise, die ungewöhnlich ist. Millionen sind in konkreten
Notlagen stets zur Stelle. Sie pflegen ihre Kranken; kümmern sich um
verwahrloste Kinder; versuchen Frieden und Toleranz bei unwilligen
Verwandten und Nachbarn; weisen die Bettler nicht ab; engagieren sich
freiwillig und großzügig bei Naturkatastrophen, in sozialen Einrichtungen,
in internationalen Konflikten...
Wenn auch Vieles in der Welt im Argen liegt – die Zahl der Helfer und
Gutwilligen geht in die Millionen. Was sie tun, kommt den Anliegen Jesu in
der Gerichtsrede (Mt 25.31ff) und in der Bergpredigt (Mt 5.1ff) verblüffend
nahe. Sie sind weltanschaulich, kirchlich, konfessionell nicht gebunden. Der
Verdacht kann dabei entstehen, als entwickle sich ein unkirchliches,
nachkonfessionelles Christentum, dem es um das Heil der Welt geht, um
mehr Frieden und Gerechtigkeit...
Während die Kirchen um ihre eigene Existenz ringen und ihre Lehre plausibel
zu machen suchen, erweist sich Gottes Wirkweise als eine ganz andere. Sie
baut auf der Freiheitsgeschichte und "Charismen" von Menschen auf, die
sich – herausgefordert durch die "Zeichen der Zeit" – zum konkreten Handeln
entschließen. Das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen nimmt globale Züge an
(Mt.13.24-30). In allen Religionen und Kulturen spielt es – bewusst oder
unbewusst – eine Rolle. Während das Wachsen des Unkrauts bedrohliche Ausmaße
annimmt, wird auch der Weizen überall gegenwärtig.
Die neueste Shell-Studie spricht in dieser Hinsicht eine ähnliche
Sprache. Wo es Menschen von heute um Werteorientierungen geht, liegen
"die Gewichtungen der Gläubigen wie der Ungläubigen... nahezu gleichauf".
"Zur Werteproduktion... kommt es im Zweifelsfall auf die Religion nicht mehr
an".
Wenn zwei Drittel der "Kirchennahen" Umkehr und Veränderungen von den
Kirchen verlangen, kann dies nur dadurch gelingen, dass zwei Faktoren
miteinander in Einklang gebracht werden. Erstens geht es um das
Ernstnehmen der Freiheit, Selbstverantwortung und Kompetenz der Menschen und
zweitens um das Ernstnehmen dessen, was bereits Paulus schreibt: "Wo
der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2Kor 3.17) und: die ganze
Schöpfung soll befreit werden "zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder
Gottes" (Röm 8.21).
Den Kirchen ist dabei eine mühsame und ungewollte Kopernikanische Wende
aufgetragen. Es geht nicht um ihren Selbsterhalt und ihre wohl vertrauten
Regeln und Riten, sondern um das Werden und Wachsen des Reiches Gottes
mitten in der Welt. Dabei müssen sie eine verständliche Sprache finden und
ihre Lehr-Kompetenz neu überdenken, so dass sich Gläubige und Ungläubige in
ihrem Engagement mitten in der Welt bejaht und gestärkt finden. Sie müssen
möglichst viele Menschen ermutigen, eigene Entscheidungen zu treffen,
Kommunikations- und Handlungsprozesse in Gang zu setzen, die nützlich sind.
Je bedrohlicher das Unkraut in der Welt wuchert, desto mehr Bereitschaft
findet sich zum Reagieren. Die Kirchen müssen sich abgewöhnen, für die
Menschen Prioritäten zu setzen. Sie können es nur mit ihnen zusammen.
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