Gratis Info-Brief
Sie möchten regelmäßig über neue Beiträge auf meiner Webseite informiert werden?
Dann abonnieren Sie einfach meinen
Info-Brief...
|
|
Kleines
Handbuch christlicher Lebensführung (VII):
Fasten- und Osterzeit: „In Krisenzeiten lernen, was Leben ist“.
April 2007
In der Fasten- und Osterzeit lassen sich religiös orientierte Menschen –
mehr als sonst im Laufe des Jahres – mit der Frage nach Leben und Tod
konfrontieren. Also mit der Frage nach der eigenen Vergänglichkeit. Das
Christentum wie auch andere Religionen bereiten sich und die Menschen auf
das vor, was immer erfahrbar ist, aber auch zu jeder Zeit auf sie zukommen
kann: nämlich Krankheit, Leid, Tod... Dagegen steht die Spaß- und
Konsumgesellschaft. Sie macht den Menschen etwas vor: den Glauben an die
ewige Jugend und Gesundheit. Massen im Konsumrausch lassen sich darauf ein
und sich eine Menge kosten – bis der Tag anbricht, an dem die Krisen
hereinbrechen wie Diebe in der Nacht... An ihnen können Menschen scheitern,
aber auch ein verändertes, geläutertes Leben finden.
1. Wissen: was man nur in Grenzerfahrungen lernen kann.
"In Krisenzeiten lernen, was Leben ist". Inspiriert zu solchem Thema hat
mich der rumänische Schriftsteller Emil Michel Cioran. Die Südd.
Zeitung hat ihn 1995, anlässlich seines Todes als 84-jähriger in Paris,
einen "illusionslosen Skeptiker" genannt. "Illusionslos", weil er sich sein
Leben lang nichts vormachen wollte von herrschenden und die Menschen
beherrschenden Ideen und Systemen, Ideologien und Weltanschauungen,
Wahrheits-ansprüchen und Fanatismen. Er hat allen Ambitionen
gesellschaftlicher und religiöser Art, die den Menschen nicht zu sich selbst
kommen lassen, den Kampf angesagt. "Er war einer" – so die Südd. Zeitung - ,
"der mehr wusste als andere; ein Eingeweihter in jenes Wissen, das man
nirgends lernen kann...". Und doch kann man es lernen: in Krisenzeiten, im
Tod. Deshalb "war er verliebt in den Tod, und er tat nichts, um ihm zu
entgehen. Ein Leben lang lernte er vom Tod, was Leben heißt". –
Man braucht kein Todesmystiker zu sein, kein Franz von Assisi, der im
"Sonnengesang" den Tod als seinen geliebten Bruder erkannte. Es genügen
schon Krankheiten und Krisenzeiten, die dem Menschen den Zugang zu einem
Wissen eröffnen (können), das man sonst nirgends lernen kann. Krisenzeiten
sind dazu angetan, den Menschen auf Gedanken zu bringen, auf die er
normalerweise nicht kommt. In Krisenzeiten lernt der Mensch die Wahrheit
über sich selbst; über den Zustand der Welt. Wenn man auch keinem Menschen
Leid und Not gönnen bzw. wünschen darf, so erweisen sich doch
Grenzerfahrungen als geeignete Mittel, dem Menschen wahrhaftig und
unverschleiert deutlich zu machen, wo er "dran" ist mit sich selbst; welches
sein wirklicher Zustand ist in der Welt...
2. Der Hang zu einer Gesellschaft von Siegern.
Dabei gaukelt uns die Welt, in der wir leben, ständig das Gegenteil von "Grenzerfahrungen"
vor. Schon die Lieder zu den Olympischen Spielen in Griechenland waren immer
nur Sieges- und Preislieder. In ihnen wurden die Sieger in den Wettkämpfen
(Laufen, Faustkampf, Wagenlenken...) gefeiert. Der Ruhm der Sieger sollte
ewig währen. Über die Verlierer gab es keine Lieder und Gedichte. "Wehe den
Besiegten", haben die Römer später gedroht. Daß es auch ein Verlieren gibt
und geben darf: im Sport, in Kriegen und Krankheiten, im Tod – ein solches
Thema, obwohl es ein Thema des Lebens ist, wird bis auf den heutigen Tag
weggeschoben und verdrängt. Darüber wird nicht gesprochen, obwohl wir dazu
verurteilt sind, dass man auch verlieren können muss. In allen
Lebensbereichen ist es unaufhebbar so: im Kindergarten, in der Schule, im
Beruf und im Sport, in Ehe und Familie...
Dennoch wird so getan, als wäre der siegreiche Wettkampf das einzige Modell
für das Leben. Dann hängt vom Siegen und Gewinnen der persönliche Wert des
Menschen ab. Seine Identität findet er nur, wenn er seine Arbeit gut macht;
wenn ihm alles gelingt und er gelobt wird. Soziale Anerkennung motiviert
wiederum zu guten Leistungen. Die ganze Gesellschaft baut auf
Leistungsbereitschaft und Erfolg. Der Einzelne muss sich ständig beweisen.
Er nimmt die Normen auf, die Gesellschaft und Wirtschaft ihm auferlegen. Sie
heißen: besser sein als andere, fachgerechter, schneller... Das Bedürfnis
nach Selbstbestätigung meldet sich dabei, nach Selbstbehauptung, Prestige,
Macht und Ansehen. Die Wirtschaft beruht zum großen Teil auf Wachstum,
Erfolg und Vorwärtskommen. Je mehr das der Fall ist, desto nachhaltiger ist
es erforderlich, dass Verlierer unbarmherzig ausgeschaltet werden. Menschen
verlieren ihren Arbeitsplatz, geraten an den Rand der Gesellschaft, fallen
in die soziale Bedeutungslosigkeit...
3. "Individualisierung" als Dialektik von Siegen und Verlieren.
Brüche und Umbrüche im Leben eines Individuums, die nicht beabsichtigt und
nicht vorhersehbar sind, die sich als endgültig und irreparabel erweisen,
können zu Selbstvorwürfen Anlass geben, zu seelischen Verletzungen, zu
psychischen Traumatisierungen, zu inneren Zusammenbrüchen (Depression,
Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, Suizid...). Sie bieten aber auch die Chance
zu fragen: inwieweit wurde ich fremdbestimmt? Inwieweit wurden mir dauernd
Ziele und Werte eingeredet, die nicht meine eigenen sind? Inwieweit wurden
in mir Illusionen für das Leben gezüchtet, die die Schattenseiten verbargen?
Je nach Erziehung und Lebenssituation bedarf es anscheinend eines langen
Weges, um zu begreifen, was die Psychologie nüchtern als "kritische
Lebensereignisse" beschreibt: als Krisen, Erfahrungen einer Grenze, als
Enttäuschung überhaupt. Sigismund Freud hat mit Recht von der
Notwendigkeit einer "Trauerarbeit" gesprochen. Sie muß die Folge jeden
Verlustes sein.
Welches könnte das Ziel solcher "Trauerarbeit" sein? Statt stumpf und
unempfindlich werden; statt verdrängen und wegschauen sind das Weitergehen
erforderlich, der aufrechte Gang. Bei allem Verlieren muß man unbesiegbar
bleiben können. Ein berühmtes Beispiel über die Dialektik des Siegens und
Verlierens findet sich in Ernest Hemingways Roman "Der alte Mann und
das Meer". In dieser Geschichte erzählt Hemingway von dem Fischer, der lange
nichts gefangen hat und trotzdem jeden Tag hinausfährt, weil er auf den
großen Fang hofft. Endlich beißt ein Fisch an. Es muß ein großer sein, wie
er es am gewaltigen Zug der Leine spürt. Ein tage- und nächtelanger Kampf
beginnt. Der Alte spricht mit dem Fisch, den er bewundert, obwohl er ihn
töten muß. Schließlich kann er den riesigen Schwertfisch erlegen und am Bord
vertäuen. Aber dann kommen die Haie. Zuerst einer, dann viele. Sie fressen
stückweise den Fisch weg, bis nur noch das Gerippe übrig ist. Während des
Kampfes hat sich der Alte oft gesagt: Man kann vernichtet werden, aber man
darf nicht aufgeben! Als er todmüde am Morgen ans Ufer kommt, sehen die
anderen Fischer, was geschehen ist. Er muß sich fragen lassen, ob er nicht
zu weit hinausgefahren ist. Zuletzt heißt es dann: Der alte Mann schlief und
träumte von den Löwen, die er einmal vor langer Zeit an der afrikanischen
Küste gesehen hatte und die ihm während des Kampfes um den Fisch eingefallen
waren. Dem alten Mann wurde also viel genommen. Aber er bleibt im Verlieren
unbesiegt. Er träumt von den Löwen!
Hemingway hat hier eine Geschichte geschrieben, die das ganze Leben meint.
Das wirkliche Verlieren gibt es eben auch. Es darf nicht vergessen werden,
auch wenn äußere Umstände es immer wieder vergessen machen. Dabei stellen
sich die Fragen: wie reagiert der Mensch auf kritische Lebensereignisse?
Welche Prozesse des Verarbeitens gibt es?
4. Die Fähigkeit zu trauern.
Wenn wir hier von der Möglichkeit des Zerbrechens – womöglich mit tödlichem
Ausgang – absehen, so kann man jede Krise als Bewährungskrise
verstehen. Eine Krise fordert heraus, zwingt zu Veränderungen. Man stellt
sich ihr dergestalt, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Neue
Weichenstellungen werden nötig – Korrekturen am herkömmlich Gewohnten, die
zugleich Aufbruch zu neuen Ufern und realistisch formulierten Hoffnungen
bedeuten. Sofern dies einigermaßen gelingt, kann der Durchgang durch eine
krisengeschüttelte Zeit ausgehalten und bewältigt werden – vorausgesetzt,
dass der Übergangszustand nicht zu lange dauert und die Kräfte überfordert.
Mitten in der Entmutigung müssen Hoffnungssignale gesetzt werden. Wer könnte
das besser als derjenige, der selbst voller Lebenswillen ist; der selbst die
Niederungen des Lebens erfolgreich durchschritten hat?
Bei krisengeschüttelten Menschen gibt es auch die Möglichkeit des
Perspektivenwechsels. Bisher ungedachte Gedanken tauchen auf, neue Lösungen,
neue Sichtweisen. Was im bisherigen Leben als unverzichtbar und unendlich
wichtig galt, verliert an Bedeutung. In der Erfahrung des
Sich-Trennen-Müssens, des Loslassen-Müssens stellt sich die Frage nach dem
Wesentlichen. Sie führt in die eigene Mitte: wer bin ich eigentlich? Woher
komme ich? Wohin gehe ich? Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht? Was
habe ich versäumt und was muß ich in Zukunft anders, besser machen, damit
ich dessen Sinn erkenne?
Aus dem Verlieren kann also gelernt und gewonnen werden. Menschen erfahren
Neues über sich selbst, indem sie gezwungen sind, in die Tiefe ihres eigenen
Selbst vorzudringen. In vielen Biographien gibt es Passagen des Lebens, die
auf veränderte Lebenskonstellationen hinauslaufen. Sie zeigen, dass der
Mensch viele Wahrheiten über sich selbst nicht in Büchern und Broschüren
findet, sondern in Nöten und Niederlagen. In den Schüben des
Loslassen-Müssens und des Sich-Distanzierens von sich selbst stürzen die
bisherigen Götzen: der Wille zum Erfolg, zum Haben und Besitzen, zum
Genießen und zum gierigen Ausschau-Halten nach Vorteilen, die schon bald von
den Motten zerfressen werden.
Der Tiefenpsychologe C. G. Jung hat gerade in Krisenzeiten in der
menschlichen Seele einen "Archetyp des Gottesbildes" ausgemacht, einen
"religiösen Trieb", der, einmal geweckt, alle anderen Motive und Antriebe
einbindet und orientiert. In bestimmten Lebenslagen bricht also so etwas auf
wie die Sehnsucht und Leidenschaft nach Transzendenz. Das Faktum des Gewinns
mitten im Verlust und in Verlierergeschichten läßt sich hundertfach aus der
Geschichte der Religionen belegen. Es findet sich ebenso hundertfach in der
Bibel: bei König Saul, Elija, Hiob...Auch Paulus ist zu nennen. Er spricht
davon, dass wir den "Schatz des Lebens" in tönernen Gefäßen haben (2 Kor
4.7). Er wird nicht müde zu betonen, dass sich in den Brechungen des Lebens
die Kraft des ganz Anderen durchsetzen will; denn "Brechungen" sind "weglos,
aber nicht ausweglos". Er schreibt: "Obwohl ich von allen Seiten bedrängt
bin, werde ich nicht erdrückt. Obwohl ich oft nicht mehr weiter weiß,
verliere ich nicht den Mut" (2 Kor 4.8). –
Der Tatsache, dass wir vom Tode gezeichnet sind und wie Sterbende
dahinsiechen, setzt er ein wuchtiges "Trotzdem" entgegen (2 Kor 6.9). Im
Buch Hiob wird mitten in der Bedrängnis die Frage gestellt: Woher kommt es,
dass ich nicht gebrochen bin und dass ich eine Zuversicht habe? Wieso bin
ich in meiner Niederlage nicht am Ende? Die Antwort, die sich übrigens auch
in Händels "Messias" wiederfindet, lautet: "Ich weiß, dass mein Erlöser
lebt". -
5. Der erweiterte Horizont der Religion.
Bei religiös eingestellten Menschen ist die Antwort auf einen Verlust
offensichtlich genauso blutig und konfliktgeladen wie bei anderen, jedoch
perspektivenreicher. Denn der Mensch offenbart sich als ein
transzendenz-orientiertes Wesen. Wie auch immer – in allen Jahrhunderten –
dieser transzendenz-orientierte Mensch zuständig und verantwortlich ist für
die Existenz der Religionen überhaupt – hinter jeder "Wiederkehr der Götter"
auch in unserer Zeit steckt das Uranliegen, zu einem tieferen Verständnis
des Menschseins zu gelangen. Ein Indiz dafür ist allein die Tatsache, dass
Schmerzen und Niederlagen dabei nicht ausgelassen werden. Im Mittelpunkt des
christlichen Selbstverständnisses steht dabei das Kreuz bzw. alle Kreuze der
Welt – als Zeichen des Todes und des Sieges, was der Aufforderung
gleichkommt, den Kampf gegen das Leiden aufzunehmen. Dabei verändert sich
der Mensch. Es erwacht in ihm die Kraft zur Konfliktfähigkeit und
Gewaltlosigkeit.
Johannes Kuhn schreibt über den Wert von Lebenskrisen, in denen eine
die Person stärkende Bereicherung liegt: "Es kommt darauf an, ob ich in dem
ES der Krise nur einfach eine Hand spüre, die bedrohlich nach mir greift,
oder ob ich aus dem ES meines Schicksals heraus das Gesicht eines Gottes
erkenne, dem ich vertrauen möchte. Der sich mir in dieser Krise zu erkennen
gibt, so dass aus dem ES ein DU wird. Aus dem unheimlichen Schicksal ein
Gegenüber, das ich ansprechen kann. Dem ich meine Angst in die Ohren
schreien kann und meine Hoffnung: ich lasse dich nicht, du segnest mich...".
-
Wo das ES zum DU wird, trifft der Mensch in das Herz jeder monotheistischen
Religion, auch des christlichen Selbst- und Weltverständnisses. Von Jesus
wird berichtet, dass in Gethsemani, auf Golgotha, "seine Stunde" gekommen
war. Da betet er "unter lautem Schreien und Rufen". Aber Gott läßt den Kelch
nicht vorübergehen. Das wird "seine Stunde". Der Augenblick der tiefsten
Ohnmacht, das Leiden in äußerster Erniedrigung werden zu einer Zeit des
Bekenntnisses: dein Wille geschehe! In solcher Anbetung und Ergebung in den
Willen eines anderen geschieht das Wunder der Verwandlung. In der Hoffnung
auf einen ganz Anderen liegt das unbesiegbare Versprechen der Erlösung und
der Auferstehung. Wo die Nacht am schwärzesten, da meldet sich ein neuer
Morgen; wo die Not am größten, da wird der Mensch in eine neue Wachheit
geführt. Es wächst die Hellhörigkeit für eine Stimme, die im Lärm des
Alltagsgeschehens nicht zu vernehmen ist. Es geht eine Ahnung auf von einer
Macht, die jenseits aller menschlichen Möglichkeiten liegt.
6. Die Annahme seiner Selbst als Lebensaufgabe.
Von dem Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini stammt das
Wort: "Die Annahme seiner selbst... ist die vielleicht größte
Herausforderung unseres Lebens". Er beschreibt die Zerrissenheit des
Menschen von Anfang an und die Schwierigkeiten, mit sich selbst auszukommen.
Da sind die Eltern und die konkrete Umwelt, in die jemand hineingeboren
wurde und die man sich nicht aussuchen konnte. Da zeigt sich der Wille zum
erfüllten Leben mit seinen Grenzen und Hürden, mit Fehlern und Schwächen.
Hinzu kommen die Lebenskrisen, Krankheiten und Katastrophen... Vieles
veranlasst den Menschen allzu leicht, auf der Flucht vor sich selbst zu
sein. Er flieht in falsche Versprechungen, Illusionen, Märchen und
Tagträume. Er wird Opfer von Schlagzeilen und so oder so gearteten
Rattenfängern, die ihn ins Schlepptau nehmen. Meistens muß es zu schweren
Enttäuschungen und Krisen kommen, bis die Bereitschaft wächst, die Annahme
seiner Selbst als Aufgabe zu begreifen.
Ohne noch fliehen zu wollen oder zu können, wird der Mensch konfrontiert mit
seiner eigenen Realität, die möglicherweise am schwersten zu verkraften ist.
Denn er muß begreifen, wo er wirklich "dran" ist mit sich selbst. Ohne sich
weiter Masken aufzusetzen, um die eigene Wirklichkeit zu leugnen; ohne sich
auf gesellschaftliche Täuschungsmanöver, Konsum- und Spaßspiele einzulassen,
lernt er, sich selbst und den eigentlichen Zustand der Welt zu durchschauen.
Es entwickelt sich so etwas wie ein nüchterner Realismus, der ihm sagt, dass
Vieles vergänglich und eitel ist. Niemand weiß eigentlich so richtig, was
die Welt im Innersten zusammenhält...
7. Leben vor dem Tod – Leben nach dem Tod (?).
Als jemand, der sich ein halbes Jahrhundert lang mit den Natur- und
Weltreligionen beschäftigt hat, frage ich mich immer wieder, wie eigentlich
Religionen entstanden sind; warum es sie immer noch gibt? Auch in den
heutigen Gesellschaften wird vermehrt von der "Wiederkehr der Religionen"
gesprochen, von der "Wiederkehr der Götter". Das ist umso erstaunlicher, als
wir in einer Gesellschaft leben, für die alles menschlich machbar ist: auch
die Überwindung von Krankheiten, von Alter und Gebrechen aller Art. Oder ist
der Glaube an die Erfüllbarkeit aller Wünsche im Schwinden begriffen?
Die Griechen hatten bereits den nötigen Realismus, um zu der Erkenntnis zu
kommen, dass "Pathos" gleich "Mathos" bedeutet. "Leiden ist Lernen". Durch
Alter und Krankheit lernt der Mensch, dass er nicht der Souverän seines
eigenen Lebens ist. Er verdankt sich nicht selber. Er lernt die Grundzüge
aller Humanität: Abhängigkeit und Bedürftigkeit. Mitten in der Erfahrung
solcher Begrenztheit und Abhängigkeit geht ihm die tragende Last der
Verantwortung für sich selbst verloren. In der Hoffnung auf etwas ganz
Anderes oder jemand ganz Anderen vermag er in Ergebung zu sagen: ich muß
nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste
sein.... Damit tritt er – vielleicht ohne es selbst zu merken – in das
Zentrum allen religiösen Denkens ein.
So findet sich in der heutigen modernen Welt ein seltsames Paradox: während
die Allgemeinheit nach ewiger Gesundheit und Jugendlichkeit schreit, werden
Einzelne immer wieder mit dem Schicksal der Endlichkeit und Begrenztheit
konfrontiert. Während die einen meinen, wie Gott zu sein, werden die anderen
damit konfrontieret, nicht wie Gott sein zu müssen, um zu neuer Offenheit
bereit zu sein. Die Fragen: wozu das alles? Warum gerade ich? Was hat das
Leben überhaupt für einen Sinn? – Solche Fragen können zum Netzwerk des
Atheismus werden. Sie können aber auch ein Weg zur Transzendenz werden: Ich
bin auf der Welt, um empfänglich für Unbekanntes zu werden, um lernbereit
und lernfähig zu werden für etwas Ungeahntes, Überraschendes, menschliche
Verhältnisse Übersteigendes.
Vielleicht stimmt es also, dass der Mensch in Krisenzeiten am meisten lernt,
bereit und offen zu sein: für die Kostbarkeit des Lebens vor dem Tod; für
die Frage nach dem Leben selbst. Das Leben hat es an sich, leben zu wollen;
es will nicht sterben. Ob solche Signale in eine entgültige neue
Wirklichkeit führen? Religiöse Menschen glauben und hoffen es. Andere sagen:
es wäre schön, wenn man es nur wüsste...
|