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Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen?
(II)
September 2004
Angesichts des Terrors in der Welt und wachsender Gewalt stellen sich
die Fragen, welche persönlichen und sozialen Faktoren die heimlichen
Wegbereiter zu brutalen Ereignissen sind; welche "humanen Werte" es zu
mobilisieren gilt - statt auf Mittel der Gegengewalt zu vertrauen? In einer
globalisierten Welt, in der Wohlstand und wirtschaftliche Interessen den
primären Ton angeben, ist die Gefahr groß, dass der Mensch nicht frei und
erwachsen wird; dass er sich der Würde versagt, die ihm gegeben ist.
Geistige Trägheit ist die eine, partielles Wahrnehmungsvermögen die andere
Gefahr. Letztere blendet, um eigener Interessen und Gewohnheiten willen,
vorhandene Fakten und Tatsachen einfach aus. Was nicht zur Kenntnis genommen
wird, löst kein Problem, sondern führt zu einem Problemstau - wird zu einem
kochenden Vulkan, der irgendwann und irgendwo plötzlich ausbricht.
II. Partielles Wahrnehmungsvermögen.
Klugheit ist nicht identisch mit Intelligenz. Es gibt sehr
intelligente Menschen, die aber nicht klug sind. Viele von ihnen leben in
einer geistig abgeschotteten Welt - in einer Theologie, Philosophie oder
Weltanschauung - , die sehr logisch, rational und schlussfolgerichtig
aufgebaut ist. In ihr liegt für jede Frage eine Antwort bereit. Alle
denkbaren Fragen stehen in einem systematischen Zusammenhang zueinander. Der
Vorteil gelehrter Systematik besteht darin, dass darin sehr viel
Wissen gebunkert ist. Der Nachteil besteht darin, dass deren
Vertreter oft nicht zur Kenntnis zu nehmen geneigt sind, was der Wandel der
Zeit an neuen Herausforderungen und Prioritäten mit sich bringt.
Systeme sind oft blind für die Fragen und Anliegen außerhalb des Systems.
Sie sind weit weg vom konkreten Leben der Menschen. Systematische
Intelligenz kann sich schnell zu einem geistigen Höhenflug entwickeln, der
den Wandel der Zeit mit ihren Höhen und Tiefen nicht wahrnimmt. Sie kann
voller Weltfremdheit sein und getrieben von der Illusion, dass der Teil des
richtig Erkannten stets das Ganze bedeutet; dass Theorien für die Praxis des
Lebens als wichtig angenommen werden. Wittgenstein hat die
Blindheit der Sehenden mit dem Satz umschrieben: "Die Ergebnisse der
Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns".
Das ist sicher nicht im absoluten Sinne gemeint, so als wäre alles dumm und
unsinnig. Die Dummheit besteht in der Unfähigkeit, noch etwas anderes
wahrzunehmen, wenn es auch nicht in den eigenen Denkhorizont passt. Auch
persönliche Erfahrungen und Überzeugungen sind befallen von dieser
Krankheit. Man könnte sagen: von der Unfähigkeit zu trauern darüber,
dass das Leben doch ganz anders ist und verläuft, als es gerne vorgestellt
und erträumt wird. In eigenen Gedanken Gefangene und Verhärtete beharren in
einer kognitiven Unkenntnis über das, was es auch noch gibt. So wird
alles "Fremde" und Ungewohnte an den Rand gestoßen, zur Nicht-Berechtigung
verurteilt. Fundierte Wahrheits- und Lehrgebäude müssen meist erst in
eine todbringende Krise geraten, bis man anfängt, den Wandel der Zeit und
der Lebenseinstellungen von Menschen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.
Für festfundierte Weltanschauungssysteme gilt nicht nur der Satz: Wer zu
spät kommt, den bestraft das Leben, sondern auch: Wer zu früh kommt,
den bestraft das Leben. Prophetisch und visionär begabte Menschen, die
ihrer Zeit voraus waren, wurden immer wieder als Regelverletzer
verurteilt, als Nestbeschmutzer gebrandmarkt. Ihnen stand und
steht immer wieder die Herrschaft des "Man" gegenüber - gelenkt und
geleitet von sehr respektablen Leuten. Von ihrer Stellung und ihrem Einfluß
her sehen sie auch respektabel aus, sind aber trotzdem sehr gewöhnlich. Sie
können es sich leisten, immer ohne Schwächen und Tadel zu sein. Sie haben
klare Vorstellungen und Ideen, die keine Alternative dulden -
allgemeingültige Wahrheiten. Daß es immer nur unvollständige Teilwahrheiten
gibt und geben kann - das gestehen sie sich selbst, aber auch anderen nicht
zu. Daß das Leben immer nur ein Weg ist, jeder Lebensabschnitt immer nur
"Etappe" - das akzeptieren sie nicht.
Wie Klugheit nicht identisch ist mit Intelligenz, so auch
nicht mit Expertenwissen. Wir leben heute in einer Welt, die
beherrscht wird von "Experten". Die Menschheit hat sich an die bestehende
Expertokratie längst gewöhnt. Sie verlässt sich darauf, fühlt sich in
ihr in Sicherheit. Gewiß, ohne Experten können wir nicht leben. Diese - zur
Rechthaberei verdammt - dürfen sich nicht anmerken lassen, dass sie selbst
in unsicheren Zeiten leben. Denn jedes ihrer Gutachten kann morgen durch ein
"absolut sicheres Gegengutachten" widerlegt werden. Welches Wissen ist das
richtige? So besteht nirgends absolute Sicherheit. Manches, was heute noch
gesichert erscheint, kann morgen bereits der Vergangenheit angehören. So
kommt es, dass der Zweifel am Nutzen aller menschlichen Bemühungen und an
der Endgültigkeit auch religiöser Aussagen sehr groß geworden ist.
Solche Zweifel werden um so größer, je wirksamer die Illusion gelehrt und
gelebt wurde, dass vorläufige Erkenntnisse nicht vorläufig sind, dass sie
immer die Zeiten überdauern.
Hier setzt die Aufgabe der Klugheit ein. Sie besteht darin, dass sie
sich der konkreten Lebenswelt und Realität zuwendet, ohne diese zu
überspielen durch "allgemeine Erkenntnisse", ohne sie zu ignorieren durch
den blinden Eifer nach Idealen und allumfassenden Lösungen. Kluge Menschen
gehen, beobachtend und hörend, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt.
Sie orientieren sich an den Realitäten und nicht an vorgegebenen
Dogmen, Spekulationen, Projektionen, Vermutungen und Behauptungen. Diese,
oft Ursache von Gedanken und Reaktionsweisen, fragen nicht mehr, wie die
Welt und ihre Menschen wirklich sind, sondern wie sie sein sollten? Sie
folgen eher einem politischen oder religiösen Okkultismus - jene
"Offenbarung" leugnend, von der Schelling sagt, sie sei "älter als
jede geschriebene: die Natur. Sie enthält Vorbilder, die noch kein Mensch
gedeutet hat".
Erst wenn man die Realitäten in ihrer Wahrheit und Wirklichkeit
erkannt hat, können die Menschen dazu finden, angemessen zu reagieren. Sie
vermögen in Freiheit und Mündigkeit auch nach dem Ausschau zu halten, was
jenseits ihrer menschlichen Möglichkeiten liegt. Es hilft, Ängste und
Vorurteile zu überwinden, welche allzu oft zu blindem Gehorsam und
aufwendigem Eifer ohne handfeste Ergebnisse verleiten. Andererseits gibt die
Klugheit den Mut, aus der Mittelmäßigkeit von Mitläufern und Duckmäusern
auszubrechen, um die vorgegebene Ordnung zu ändern und die Logik der Dinge
neu zu bestimmen. Wer klar sieht, vermag kreativ und schöpferisch zu werden
- wächst an seinen Aufgaben. Die Klugheit befähigt zu neuen ungewohnten
Taten.
Die Klugheit besteht in der geduldigen und mühevollen
Wahrnehmungsfähigkeit der Dinge und Situationen, so wie sie sind. Sie
läßt sich nicht ablenken, wenn Unvermutetes, Unerwartetes, Unangenehmes ins
Blickfeld gerät. Sie zieht sich nicht auf irgendeine Vermutung oder "Glauben
" zurück - geeignet, Fakten zu verdrängen. Sie läßt sich den Blick nicht
einengen durch "philosophisch Allgemeines". Durch sie wird der Mensch in die
Lage versetzt, "sich selbst und andere mit Umsicht zu lenken - in allem, was
zu einem menschlichen Leben gehört" (Th. V. Aquin).
Paul Claudel nennt die Klugheit den "wissenden Bug" in der Vielfalt
unserer Endlichkeitserfahrungen. Ihnen wohne zugleich eine auf
Vollkommenheit zusteuernde Lebensdynamik inne. Sie sei "die geduldige
Leuchte, die uns nicht das Künftige bezeichnet, wohl aber das Unmittelbare".
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Es gibt viele Beispiele von Menschen, die "prophetisch" nicht die
Zukunft, wohl aber das unmittelbar Bevorstehende ahnten und Konsequenzen
daraus zogen, bevor es zu spät war. Die Philosophen Hans Jonas und
Ernst Bloch, ebenso der Psychoanalytiker Erich Fromm und viele
andere verließen Deutschland 1933. Sie waren in der Lage, gegen den Trend
des angepassten und manipulierten Denkens die Zeichen des politischen
Geschehens rechtzeitig zu deuten. Sie reagierten auf das Neue, das
Ungewisse, welches später zur grausamen Gewissheit des Nazi-Terrors werden
sollte.
Wenn man das Christentum als eine 2000-jährige Größe ernst zu nehmen bereit
ist, so war im Umbruch der Zeit Papst Johannes XXIII. eine solche
prophetische Gestalt. Im Blick auf die Zeichen der Zeit forderte er
ein Zurück zu den Quellen, den Mut zu einem neuen Anfang - bis
heute nicht nachvollziehbar für solche, die sich in Traditionen,
Gewohnheiten und Privilegien eingebettet haben. Er errechnete nicht ,
sondern spürte die Substanz des Ungewissen und des dazu erforderlichen
Wagnisses für die Zukunft. Ihm ging es nicht einfach um das Gewohnte,
sondern um die Zeichen am Horizont der Geschichte. Sie zu deuten forderte er
auf - eine Aufgabe, die sich der Menschheit immer wieder stellt. Sie kann
sie aber nur zufriedenstellend lösen, wenn sie zugleich an Werten
festhält, die für das Leben und Zusammenleben der Menschen und der
Menschheit unverzichtbar sind.
Hätten die christlichen Länder Europas z.B. bei der Entdeckung und Eroberung
Amerikas nach Christoph Columbus (1492) auch noch ihre christlichen Werte
wie Liebe und Gerechtigkeit als Maßstäbe des Denkens und Handelns
hochgehalten, wären nicht die ungeheuren Verwüstungen und Zerstörungen
passiert. Die heutigen Probleme der sog. "Dritten Welt" gäbe es in dieser
Weise nicht. - Wäre in Ruanda, statt zu sehr auf Katechismen und
theologische Lehren zu vertrauen, systematisch bereits in den Schulen die
Einübung in christliche Werte in Gang gesetzt worden - das Massenmorden
vor 10 Jahren wäre so nicht passiert. Die Beispiele ließen sich, im Blick
auf viele andere Situationen christlicher Geschichte, beliebig ergänzen...
Gewiß, nachträglich ist man immer klüger als zuvor. Andererseits geht es
darum, aus der Geschichte zu lernen, statt sie stets zu wiederholen.
Meistens kann man auch erst im Nachhinein die falschen von den
echten Propheten unterscheiden. Dennoch ist es der Menschheit immer
wieder aufgegeben, das Neue, das Andere, das Bessere zu suchen und weiter zu
entwickeln. Wie gesagt: immer im Blick zugleich auf die Zeichen der Zeit
wie auf die bewährten Lebenswerte religiöser oder ethischer Art. Nur
so kann Zukunft gelingen. Alles hängt von der Haltung der Klugheit
ab. Daß der Sündenfall in die Dummheit immer auch eine Versuchung bleibt -
darin liegen Größe und Tragik menschlicher Geschichte.
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