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Wie viel "Würde" hat der Mensch? Kann der Mensch seine Würde verfehlen?
(III)
Oktober 2004
Es gibt Lebensbereiche heute, in denen sich eine sehr ideologische und
dogmatische Sichtweise eingeschlichen hat - auch in der Politik. Das führt -
neben anderen Faktoren - zum Werteverfall mit den Fakten: man rechnet nicht
mehr mit Realitäten, sondern vertraut auf "Wahrheiten" und Parolen, die den
Anschein der Plausibilität erwecken. Bei deren Verfechtern steckt oft der
Drang dahinter nach Prestige, Erfolg im Konkurrenzkampf, stressigen
Auseinandersetzungen um jeweils eigener Vorteile willen. Dennoch: "
Vorteile" sind sie nur scheinbar. Denn das Ergebnis sind "völlig flexible,
von allen Bindungen losgelöste Menschen... Sie können nicht wertorientiert
handeln. Für sie ist nichts verbindlich", schreibt das Magazin
"Zeitzeichen". "Humane Tugenden" wie Teamgeist, Aufeinanderangewiesensein,
Nächstenliebe, gegenseitige Hilfe... seien außerordentlich notwendig - nicht
nur, "um menschliches Leben sinnvoll zu gestalten", sondern auch als
"eminente Produktivkräfte" in der Wirtschaft. -
Zwei Bewegungen scheinen das heutige Leben zu bestimmen: wirtschaftlicher
und technischer Tatendrang - bei gleichzeitigem Werte-Verlust. Oft gehört
viel Tapferkeit dazu, um sich gegen oberflächliche Entwicklungen zu
behaupten .Der Mangel an Zivilcourage, den man auch Feigheit nennen könnte,
führt immer abgrundtiefer in den Werteverfall.
III. Mangelnde Zivilcourage oder: die Feigheit.
1. Der unerschütterliche Glaube: Parolen und "Wahrheiten" sind Realitäten
überlegen.
Wie realistisch ist die Politik? Oder wie wirklichkeitsfern? Diese Fragen
spielen im gegenwärtigen Wahlkampf in den USA eine große Rolle. Die einen
rechtfertigen z.B. den Irak-Krieg mit dem Kampf gegen den Terrorismus, gegen
den militanten Islam, gegen die wachsende Gewalt in vielen Ländern der Erde.
Dabei werden "edle Ziele" genannt: Demokratisierung in bisher
undemokratisch geführten Ländern, die Durchsetzung der Menschenrechte
weltweit, die Verhinderung des "Kampfes der Kulturen und Religionen"...
Die Gegenseite weist im Gegenzug auf die Ergebnisse der bisherigen
"Missionstätigkeit" hin, die leichtfertig verschwiegen würden: die Lüge über
die Massenvernichtungswaffen im Irak, der ständig zunehmende
Antiamerikanismus in der Welt, der wachsende Widerstand in vielen Ländern
gegen jede Form des Neo-Imperialismus und Kolonialismus, die enormen
finanziellen Lasten und die steigenden Menschenverluste auf allen Seiten,
die Unmöglichkeit des Friedens mit Mitteln der Gewalt, schließlich die
Weigerung vieler demokratischer Staaten, sich aktiv an solchen
"Kriegspielen" zu beteiligen.
Es gibt andere Beispiele, die bei im Volk beliebten Massenveranstaltungen
zutage treten. In Ulm fand im Juni des Jahres ein Katholikentag
statt. Er war, wie viele andere Kirchentage, mit einer reichhaltigen und
endlosen Liste von Veranstaltungen und Angeboten besetzt. Solche Tage - so
die FAZ vom 21.6.2004 - quollen über durch bunte Träume, Illusionen und
Parolen. Aber: der in Ulm wie auch andere sind an der Realität
gescheitert. Die wirklich gravierenden Probleme und ernsthaften
Schwierigkeiten der Kirche wurden nicht maß-gebend in den Blick genommen,
sondern geflissentlich übergangen: die Finanzkrise, der Priestermangel, die
Rolle der Laien und speziell der Frauen, der Zölibat, die Erosion der
Gemeinden, das Ungenügende herkömmlicher Theologie... Solche Fakten treffen
die Kirche heute hart - "freilich noch immer nicht so hart, dass die
Katholiken sich und ihre Kirche schonungslos in den Blick nähmen".
Stattdessen stelle sich das Christentum als eine Religion der Experten
dar, der Besserwisser und Hellseher. Das Wichtigste: nämlich das Vorstellen
und Erreichen eines gemeinsamen Zieles, an dem sich möglichst viele - weil
begabt mit Sprache und Erfahrung - beteiligen könnten, werde gar nicht als
Aufgabe erkannt. Stattdessen würden die Massen mit Parolen und Angeboten
überfüttert; sie würden dem "Geplänkel der Fachleute" ausgesetzt, dem Streit
um theologisch "brave" oder aufmüpfige Konzepte und Personen.
Wie in den USA, so könnte man in manchen politischen und weltanschaulichen
Konstellationen die Grundtendenz mit dem Motto beschreiben: Realitäten
kümmern uns nicht, wir schaffen sie! Ebenso könnte man sie festmachen in
dem überall feststellbaren "Glauben", dass die fixe Idee von unverrückbaren
Wahrheiten, dogmatischen Sätzen, politischen Lieblingsideen und
Experten-Einsichten den konkreten Realitäten immer überlegen sind.
Dieser "Glaube" wird bei Massenveranstaltungen gnadenlos und exzessiv nach
außen propagiert. Die Massen werden davon in den Bann gezogen und in
"Begeisterung" versetzt. Die Erfahrungen, die letztlich dabei gemacht
werden, verstärken den Eindruck, dass man sich den Fakten und Realitäten
nicht unbedingt zu stellen braucht. Zudem duldet kein Dogmatismus
Widersprüche, keine Zwischenrufe, auch wenn gravierende "Zeichen der Zeit"
nach alternativen Denkweisen schreien. Auch gerät die Tatsache
geflissentlich in Vergessenheit, dass erfahrungsgemäß die Menschen durch
Massen-Events nur äußerlich und vorübergehend angerührt werden; dass in der
schnell wiederkehrenden Realität des Alltags nichts weiter übrig bleibt als
blasse Erinnerungen und die "Katerstimmung", dass das Leben eben doch ganz
anders ist...
2. Denken im Umgang mit der Realität.
In einer der Regeln des hl. Benedikt, dessen Orden seit dem 6.Jh. zu
einem entscheidenden Kulturfaktor geworden ist, heißt es: die
Ordenobrigkeiten sollten nie wichtige Entscheidungen treffen, ohne zuvor mit
dem geringsten der Klosterbrüder gesprochen und dessen begründete Meinung
abgeholt zu haben. Denn wirklich zukunftsgestaltende Einsichten würden oft
den Kleinen, den Unbedeutenden, den äußerlich Ohnmächtigen geschenkt...
Im Christentum der Frühzeit herrschte eine ähnliche Praxis vor. Man
ging davon aus, dass die "Stimme Gottes" in der "Stimme des Volkes" zu hören
sei. Deshalb bedürfe es bei allen wichtigen Weichenstellungen der
"Übereinstimmung mit den Gläubigen" und deren "Rezeptionsfähigkeit". Denn
dem Volk, mitten im Leben stehend, sei bei wichtigen Angelegenheiten die
"richtige Nase" geschenkt, sozusagen der "rechte Sinn", der es richtig und
geradezu instinktiv sicher reagieren läßt. Deshalb dürfe es keine Theologie
geben, keine Kirchenpolitik, keine personalen Entscheidungen, die mit dem "sensus
fidelium" nicht in Einklang zu bringen seien. Denn ohne die "Stimme des
Volkes" gäbe es bald kein Volk mehr; jedes kirchliche Reden würde in
ideologische oder idealistische Phrasen ausarten - würde zu "Worthülsen"
werden, an die niemand mehr glaubt....
Es hat immer wieder Warner und Rufer gegeben gegen solchen Trend. Sie
entwickelten eine ausgeprägte Gegnerschaft gegen abstrakt-systematisches
Denken. Die Verfasser der Bibel gehören dazu. Heute u.a. Sören
Kierkegaard (gest.1855) und Franz Rosenzweig (gest.1920). Sie
glaubten nicht an "zeitlos geltende Aussagen", nicht an Theorien um der
Theorien willen, nicht an das "Denken um des Denkens" willen. Dieses sei
"blaß wie Papier", "blutleer wie Tinte", weil weit weg vom konkreten Leben
und Erleben. Sie plädieren für die Hinwendung zum konkreten alltäglichen
Leben, zum Faktischen und für Menschen wirklich Wichtigen. Wo die
Aufarbeitung von Lebenserfahrungen, die adäquate Antwort auf geschichtliche
Entwicklungen und "Zeichen der Zeit" nicht gelingen würde, da sei Verfall,
Niedergang, Krise... Wo dagegen "Existenzbewältigung" in glaubhaften Lebens-
und Dialogformen verwurzelt würde, da ereigneten sich Lebendigkeit in Leben
und Glauben, ebenso die Erneuerung von Ethik und Gemeinschaft je nach dem
Wandel der Zeit.
3. Der Mensch - ein ewiger Nesthocker.
Das Denken im Umgang mit der Realität - auch wenn es unangenehm und
anstrengend ist - fällt dem Menschen schwerer als das Denken in allgemeinen
Sätzen und Wortwendungen. Diese können leicht zu Phrasen und Floskeln
werden, wenn der Bezug zum Leben fehlt und wenn sie auf die Ignorierung
des Menschen (Newman) hinauslaufen. Im Christentum wird - um Eindruck zu
machen? - ohne Wenn und Aber von der frohen Botschaft gesprochen. Daß
es sich in Wirklichkeit um eine anstrengende Botschaft handelt -
geeignet, den Menschen aus alten und liebgewordenen Geleisen herauszuwerfen,
wird weitgehend verschwiegen: weil für die Verkünder der Botschaft wie auch
für deren Hörer zu anstrengend, zu wenig "attraktiv"?
Auch das politische Geschäft steht und fällt mit Dauer-Versprechungen.
Unangenehmes wird weitgehend ausgeblendet - um nicht Macht und Einfluß zu
verlieren. Im gesellschaftlichen Leben spielen Wellness, Fitness,
Gesundheit, seelisches und körperliches Wohlergehen, Wohlstand, Erfolg...
eine herausragende Rolle. Wer solche Werte als "käuflich" und "machbar"
anbietet, hat die Chance zu Anerkennung und blühendem Geschäft. Daß Vieles
im Leben äußerster Anstrengung und Konzentration bedarf, um Sinnvolles und
Wesentliches zu erreichen - solche Menschheitserfahrungen passen nicht in
das Konzept einer "Spaß-Gesellschaft". In aufgezwungenen Notfällen bleibt
oft nichts anderes übrig, als körperliche Strapazen in Kauf zu nehmen. Aber
in freier Entscheidung für moralische, ethische, geistige Werte Mühen auf
sich zu nehmen, steht auf einem anderen Blatt. Die aufklärerische
Vorstellung, materielles Wohlergehen produziere automatisch den
edlen Menschen, feiert in heutiger Zeit tausendfache Bestätigung.
Anthropologen haben den Menschen immer wieder als einen ewigen
unverbesserlichen Nesthocker beschrieben. Er tut alles, um sein
Wohlergehen zu sichern. Mechanismen der Unterdrückung, Ausgrenzung,
Ignorierung fremder und störender Elemente tragen das Ihre dazu bei. Wenn
dann plötzliche und unerwartete Ereignisse die Harmonie stören: Tod,
Krankheit, Lebenskrisen und -katastrophen, Sorgen und Zukunftsängste, dann
bricht für ihn eine heile Welt zusammen. Verzweiflung und Depression
schleichen sich ein. Oder das sichere Gefühl: was anderen passiert, hat mit
mir Gott-sei-Dank nichts zu tun. So geht man gedankenlos zur Tagesordnung
über. Die zentrale Triebkraft bleibt immer die gleiche: eigenes Wohlergehen
und Sicherheit. R. M. Rilke drückt es so aus: der Mensch fühlt sich
in der von ihn gedeuteten Welt "sehr verlässlich zu Hause". Daher rühren
auch sein bürgerlich-oberflächlicher Optimismus und seine optimistische
Bürgerlichkeit. Aber was ist, wenn die Welt anders ist als er sie deutet?
4. Feigheit ist immer auf persönliche Sicherheit aus.
Um verständlich zu machen, was Feigheit und im Gegensatz dazu
Tapferkeit ist, bedarf es noch einmal eines Rückblicks auf den
amerikanischen Wahlkampf. In vielen Kreisen Amerikas gilt Bush als der
Mutige, der Entschlossene, der Tapfere - als erster in der Lage , den
Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen. Bei näherem Hinsehen auf seine
Lebensgeschichte ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass der
Präsident sehr stark von Kompensationen bestimmt wird, die in persönlichen
und politischen Versagensgeschichten ihren Ursprung haben. Wenn ein Mensch,
von Komplexen und Schuldgefühlen belastet, äußere Machtmittel in die Hand
bekommt, ist die Versuchung groß, den Mächtigen und Starken zu spielen. Aus
dem sicheren "Führerbunker" heraus werden dann Entscheidungen getroffen und
Entwicklungen zugelassen, die über Unschuldige Tod und Verderben bringen.
Die "zielsicheren" Bombenangriffe auf Zivilisten, Frauen und Kinder im Irak;
die entwürdigende Behandlung irakischer Gefangener sprechen Bände für die
Mentalität eines Mannes und seiner Umgebung, die der eines Hitler oder
Stalin nicht unähnlich ist. Umso schlimmer wird das ganze Erscheinungsbild,
wenn Motivationsschübe der persönlichen Kompensation und des Säbelrasselns
sich mit religiösem Fanatismus verbünden. Dann treten solche Menschen
als "Friedensapostel" und Missionare für höhere Werte auf; sie versprechen
Menschenrechte und Heil für alle. Die Geschichte der Religionen zeigt, dass
Missionseiferer, die der Welt den Himmel auf Erden versprachen, immer die
Hölle hinterlassen haben.
Bei allem äußeren Anschein von Tapferkeit und Mut darf man nie die
Wachsamkeit gegenüber der Möglichkeit aufgeben, dass es sich in Wirklichkeit
um Feiglinge handeln könnte. Wegen früherer Verwundungen leben sie in der
Angst, noch mehr als früher mit unheilvollen Erfahrungen konfrontiert zu
werden. "Den Mutigen gehört die Welt" heißt es oft. Oder sind es vielleicht
doch eher die Feiglinge mit einer Versagensmentalität, die alles daran
setzen, durch Karriere und Ellenbogenverhalten zu Macht, Ansehen und Ehre zu
gelangen? Erich Kästner schreibt in seinem "Lesebuch": die
"Demaskierung von Herrschaften" sei bei allen Herrschenden von größter
Notwendigkeit. Denn "sie wandeln historisch kostümiert, als schöne Masken,
durch die Hallen der Geschichte". Und für viele sei es kaum vorstellbar: "im
Privatleben können sie sehr wohl Hanswürste, Geizhälse, Lügner, eitle Affen
und Feiglinge sein". -
Was bei Kästners "Feiglingen" besonders charakteristisch ist: sie
versuchen, das Zusammenleben von Menschen zu kontrollieren und zu
beherrschen; sie achten auf die Einhaltung der Spielregeln der Gemeinschaft
- vor allem, wenn sie selbst davon profitieren. Sie wollen nicht wahrhaben
und wehren sich dagegen, dass die Spielregeln sich ändern - eine
Veränderung, die ihre eigene Position gefährdet. Wer im Wandel der Zeit
solche Veränderungen zuerst bemerkt und ausspricht, gilt als
"Spielverderber" und "Falschspieler". Galilei, Luther, Goya, Voltaire,
Lessing, H. Heine…waren solche « Nestbeschmutzer ». Sie gewannen den
Kampf gegen diejenigen, die ihre Totems und Tabus mit Krallen und Klauen,
mit Bann und Acht verteidigten... Aber erst, nachdem sie gefallen waren. -
Erst später wurden sie in die Reihe der Mutigen und Tapferen der Geschichte
eingereiht. Sie waren getrieben von ihren gewonnenen Überzeugungen. In ihnen
mischten sich Ehrlichkeit, Verstand, Mut, Talent und "kaltes Feuer". Als
wenige standen sie - mit ihrem Gewissen und Rechtsempfinden - den vielen
gegenüber, die die geschichtlichen Herausforderungen "weder lesen noch
schreiben konnten, höchstens noch mit den Hühneraugen". Im Sinne
Tucholskys wurde ihnen zum Verhängnis "der Fluch der Zeit, der Fluch der
Mittelmäßigkeit".
5. Tapferkeit: Einsatz für das Gute gegen die Übermacht des Bösen.
Die Tatsache, dass sie den Kampf gewannen, "nachdem sie gefallen waren",
macht deutlich, was Tapferkeit ist. Augustinus beschreibt sie
als "unwiderlegbaren Zeugen" für die Existenz des Bösen. Tapferkeit ist
demnach alles andere als diesseitiger Optimismus oder Pessimismus. Solche
Haltungen zeugen eher von der Leugnung der Wirklichkeit des Bösen. Sie
beruhen darauf, stets zu verharmlosen, zu beschwichtigen, zu verhandeln,
risikolos und konfliktscheu zu verfälschen. Oder der einfallslose Glaube
bleibt vorherrschend, dass das Gute sich "von selbst" durchsetzt, weil der
Mensch und seine Absichten doch nicht anders sein können als "edel und gut".
Der Tapfere dagegen sucht der unromantischen, herben Wirklichkeit des Lebens
und der Welt auf die Spur zu kommen. Er hütet sich, billige oder
geschwätzige "Begeisterung" für irgendeine Sache zu erzeugen. Er weiß, dass
alles Menschengemachte immer nur relativ ist und gefährdet, daher
beängstigend, bedrückend, schmerzlich. Er vermag in diesem "Realismus" Dinge
zu sehen, die andere geflissentlich nicht wahrhaben wollen. "Allen
geschaffenen Dingen... ist eine abgründige Traurigkeit zugeordnet, eine
unüberwindbare Traurigkeit", sagt Thomas von Aquin im Anschluß an die
Bergpredigt: "Selig die Trauernden...".
Während die Feiglinge durch Schlauheit, taktische Manöver, falsche
Besonnenheit und "ruhige Überlegung" alles tun, "um dem Ernstfall aus dem
Wege zu gehen", geht der Tapfere auf das Furchtbare zu, obwohl es für ihn
selbst sehr gefährlich ist. Er läßt sich nicht hindern, sich für das Gute zu
entscheiden, auch wenn das Böse, das Widerwärtige, das Banale, das
Oberflächliche im Umfeld übermächtig ist. Vielfach wird er als "der Dumme"
angesehen, weil er keine Vorteile für sich selbst sucht, sogar
Beleidigungen, Erniedrigungen und Verurteilungen in Kauf nimmt. Er liebt
zwar auch sein eigenes Leben, aber nicht um jeden Preis. Er ist sogar
bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, weil er an höhere Werte glaubt. Die
Geschwister Scholl, die Männer des 20. Juli sind Beispiele dafür,
dass es jemand bis zum Äußersten kommen läßt.
Bei allen Schwierigkeiten und persönlichen Nachteilen ist solchen
"Märtyrern" ein hohes Maß an Augenmaß und Sachlichkeit eigen. Im Denken und
Tun achten sie auf die Wahrheit und Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse.
Sie versuchen, ihnen gerecht zu werden. Mit Vernunft und Klugheit greifen
sie in das Geschehen ein, immer so, wie es dem Wesen und wahren Sachverhalt
entspricht. Nicht aus falschem Ehrgeiz oder blindem Eifer; nicht aus der
Angst heraus, für feige gehalten zu werden; nicht aus buckeligem Gehorsam
oder aus einem unüberlegten Draufgängertum heraus, welcher sich blindlings
einer Gefahr aussetzt.
Wer zur richtigen Beurteilung und Einschätzung einer Situation fähig ist,
der vermag auch mutig und voll Selbstvertrauen einzugreifen. Er ist
gefestigt in der Hoffnung, die er auf sich selbst setzt. Er vermag darin
standzuhalten - auch noch im äußersten Ernstfall, in dem das Machtgefüge
dieser Welt keine andere Möglichkeit mehr läßt. Im Christentum wie in
anderen Religionen ist das Martyrium die eigentliche und höchste Form
der Tapferkeit. Die äußerste Form des Guten erweist sich in der Ohnmacht
gegenüber den Intrigen der Welt. Menschen werden dann "wie Lämmer mitten
unter den Wölfen" (Mt 10.16). Sie werden erst "Sieger", nachdem sie gefallen
sind...
Aus psychologischer Sicht könnte man sagen, dass die Tapferkeit im
Gegensatz steht zur Introvertiertheit des Menschen auf sich selbst, auf sein
eigenes Ego. Wer immer nur auf sich selbst konzentriert bleibt; wer unfähig
ist, sich in Liebe loszulassen zum Du des anderen hin; wer nicht den Mut
aufbringt, über seinen eigenen Schatten zu springen und zur Selbsthingabe
fähig zu werden, wird seelisch krank. Einengende, auf sich selbst fixierte
Verhaltensweisen sind gemeinsamer Grundzug aller Neurosen. Es scheint dem
Menschen wie eine innere Veranlagung gegeben, dass "nur, wer sein Leben
verliert (um eines höheren Gutes willen), es neu gewinnt" (Mt 10.39). Ein
solches dem Menschen eingegebenes "Naturgesetz" gilt für dieses Leben, aber
auch für das Leben über den Tod hinaus.
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