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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Was ist ein religiöser Mensch?

Oktober 2003

1. Die Geschichte.
Francesco Petrarca war sein Name. Er lebte vor langer Zeit, vor gut 600 Jahren. Berühmt und angesehen war er auch. Als junger Mann hatte er bereits den Ruf eines bedeutenden italienischen Dichters und Schriftstellers. Damals galt das Reisen noch als ein sehr strapaziöses Abenteuer. Aber er liebte die großen Städte und Landschaften wie Paris, Köln, Prag, Mailand, Venedig und Flandern. Was er auf seinen Reisen erlebte und persönlich erfuhr, beschrieb er in seinen faszinierenden Schilderungen über die Natur, ihre Menschen und Tiere, ihre kulturellen Leistungen und bedeutenden Errungenschaften.

Eines Tages genügte es ihm nicht mehr, nur innerhalb dieser Welt herumzufahren. Er wollte seine Lebensperspektive radikal verändern. Er wollte über den Wolken sein. Weil damals noch niemand eine Ahnung davon hatte und haben konnte, daß es in späteren Jahrhunderten einmal Flugzeuge geben würde, die in eine grenzenlose Freiheit über den Wolken führen, gab es für ihn nur die Möglichkeit, den hohen Berg Ventoux zu besteigen. Dieser war über 2000 Meter hoch. Voller Begierde und Sehnsucht, das Maß des "Irdischen" zu durchbrechen und sich dem "Himmlischen" zu nähern, brach er eines Tages zum Aufstieg auf den "Berg des Windes" auf, dessen Gipfel hoch in den Wolken lagen. Sein Bruder und seine Diener begleiteten ihn.

Der Weg auf die Höhe des Berges erwies sich, mehr als erwartet, als äußerst gefährlich und strapaziös. Die Bergsteigergruppe machte tagelang die bittere Erfahrung, daß die ursprüngliche Munterkeit leicht in Ermattung umschlug, die leidenschaftliche Begeisterung in Überdruß. Jedoch: die stets neu gewonnenen Ausblicke, die sich einstellende Faszination der Berge, ließen Anfechtung und Versuchung zum Aufgeben schnell wieder verfliegen. Doch dann kamen wieder neue Strapazen. Warum sie auf sich nehmen? Warum so viel Energie und Freizeit opfern? Warum auf viele Annehmlichkeiten verzichten?

Vor Beginn ihrer Reise hatte es genügend warnende Stimmen gegeben. Diese hatten sie wegen der Gefährlichkeit des Unterfangens umzustimmen versucht. Da war am Fuße des Berges der kleine Prinz gewesen. Er hatte ihre müden Gesichter und abgemagerten Körper lange schweigsam von oben bis unten angeschaut. Er hatte sich erstaunt gezeigt über ihr verwegenes Vorhaben. Er hatte davon gesprochen, daß Menschen dazu neigen, immer die höchsten, auch unerreichbaren Ziele anzustreben. Besser wäre es, sich auf für sie Angemessenes und Erreichbares zu konzentrieren. Zu hohe Ziele erreichen zu wollen, sei sinnlos. Zum Schluß hatte er sie gewarnt: "Von da oben werdet ihr nichts heimbringen; nur Reue und Mühe; einen von spitzem Dornengestrüpp zerrissenen Rock und einen von Felskanten verwundeten Leib".-

An all das mußte Petrarca denken, als er sich und seine Kameraden immer wieder neu anzuspornen versuchte. Er mußte auch an die ironischen Bemerkungen der gutwilligen Spötter denken, die jetzt da unten in den Kneipen saßen, die Wein tranken und Kaffee schlürften. Ihnen fehlte der Sinn für Dinge jenseits des Alltäglichen. Sich mit menschlichen Banalitäten zufrieden gebend, hatten sie kein Verständnis für faszinierende Abenteuer, die andere in ungewöhnliche Höhen führten und angeblich die Aussicht verhießen, über den Wolken zu sein.

Allen Widerständen gegenüber zum Trotz erreichte Petrarca den Gipfel. Es war ein ungewöhnliches Glücksgefühl, die Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Er sah mehr als diejenigen, die unten in den Kneipen hockten: die zerklüfteten Gebirgszüge; die abgründigen Tiefen; den Wechsel von Schatten und Licht; den strahlenden, alles überflutenden Aufgang der Sonne... Er sah Dinge, die nicht zu beschreiben waren. Er machte Erfahrungen, die zu wiederholen er in Zukunft keine Mühe scheuen würde. "Gipfelerlebnisse" hatte er auch früher schon gehabt: wenn er in schwerer Bedrängnis unerwartet innere Kräfte in sich spürte; wenn er bei Zweifeln und in Versagensgeschichten plötzlich eine Macht in sich vernahm, die ihn über alle Gräben zu tragen schien. Aber dies war nun der Gipfel von allem und der Lohn der Mühe: die ganze Welt lag vor ihm - in ungeahnter Pracht und Herrlichkeit.

2. Erläuterungen.
Der Sinn und Inhalt dieser Geschichte kommen der Frage nahe: was ist ein religiöser Mensch?

  1. "Religiöses" und "Glaube" lassen sich nicht schwarz auf weiß nach Hause tragen, lassen sich nicht in Gesetzen und Buchstaben festmachen. Es handelt sich um einen Weg, um ein lebenslanges Suchen nach den letzten Fragen und Antworten des Lebens - ein in vielen Lebenssituationen schwieriges und mühevolles Unterfangen.
     
  2. Religion und Glaube lehren, die Dinge und Ereignisse des Lebens aus einer ganz anderen Sicht und Perspektive zu sehen und verstehen zu lernen - sozusagen aus dem Blickwinkel des Ewigen und Überzeitlichen. Sie rücken viel unmittelbar Aufregendes und Aufwühlendes der Zeit und Geschichte in das rechte Licht; machen gelassen und schaffen innere Distanz zu Erfahrungen, die einen sonst auffressen und zermürben würden. Das Ahnen, daß jede kleine und vorübergehende Einzelheit in einem größeren Zusammenhang steht oder stehen muß, macht stark und tragfähig.
     
  3. Glaube lehrt die Offenheit für Vorbilder, die glaubwürdig genug sind, um eigenes Denken und Handeln an ihnen orientieren zu lernen: an "Helden und Heiligen", die es in allen Religionen gibt, die Maßstäbe gelebt und gesetzt haben. Diese gilt es nicht zu imitieren, wohl sich aber von ihren Fragen und Antworten inspirieren zu lassen, um eigene Optionen dabei zu entwickeln.
     
  4. Glaube verliert nicht den Blick und Sinn für das Wesentliche im Leben, für das, worauf es eigentlich ankommt. Oft müssen Menschen erst schwierige Kreuzwege gehen und herbe Niederlagen erleiden, um sich auf das "Eigentliche" zu besinnen. Wo Religiöses aufbricht, wird die Bewältigung des Lebens, aus tieferer Sicht gesehen, möglich.
     
  5. Weil je nach Lebenslage das religiöse Fragen und Suchen immer wieder neu aufbrechen, ist auch die Frage nach Gott keine endgültige. Sie beruhigt nie. Sie führt nie zu Selbstsicherheit und Geruhsamkeit. Sie bereitet eher Kopfschmerzen dem, der sie mit oft grausamen Wirklichkeiten des Lebens in Verbindung bringt. Solange solche "Kopfschmerzen" andauern, unterliegen Religionen nicht der Gefahr, im Sinne S. Freuds ein Betäubungsmittel zu werden, ein Lügen- oder Projektionsgebäude, ein Machtinstrument, um Menschen gefügig zu machen. Eher bestätigt sich das, was der englische Popsänger David Bowie über seine "zentrale Lebensfrage" sagt, die ihn bis an Ende seiner Tage verfolge: "Gott? Ich glaube an dich, ich glaube nicht an dich, ich glaube ein bißchen an dich ...Ich habe das Problem nie gelöst. Ich versuche es jeden Tag von neuem".-
     
  6. Beim Lesen und Bedenken der Bibel stellt sich "christlich" die (theoretische) Frage nach Gott vielleicht am wenigsten, sondern vorrangig nach Jesus Christus. Dieser hat eine Botschaft gelehrt und gelebt: alles, was Menschen sind und leben, steht in einem größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Jedes Werk der Liebe, der Barmherzigkeit, des Verzeihens und des Aufmunterns ist wie ein "Samenkorn": klein und unscheinbar, aber dennoch wachsend. Es eröffnet den Zugang zu Gott und zugleich in eine Zukunft, die, als "neue Schöpfung", als "erlöste und vollendete Welt" beschrieben, einst bleibende Wirklichkeit sein wird. Christliche Existenz muß sich darin, bereits im Hier und Heute, als liebende und hoffende erweisen.


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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