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Was ist Religion (3)? :
Sehnsucht nach etwas ganz Anderem.
August 2005
Max Horkheimer hat vor ca. 30 Jahren in einem Spiegel-Interview diese
Antwort gegeben. Religion ist die Sehnsucht nach etwas ganz Anderem! Das
hört sich so an, als wäre der Mensch nie ganz zufrieden mit sich selbst; mit
dem, was er ist und was er hat so, als lebte er in ständiger Unruhe nach
etwas Höherem, Besseren, Schöneren ... In einer unreligiös sich gebärdenden
Gesellschaft kann sich solche Sehnsucht schnell im Drang nach "Mehr"
gegenüber allen nur denkbaren Werten und Sachverhalten äußern. Dann werden
Karriere um jeden Preis, der Geldbeutel, das Auto als
Selbstbestätigungssymbol, das körperliche Training, der Sport, der
Gesundheitskult, die "Tour des France"... zu Ersatzreligionen. Aber auch
Ersatzreligionen bleiben Ausdruck derselben Sehnsucht über sich selbst
hinaus. Sie feiert kultische Triumphe auf Sportplätzen, in Discos, Theatern,
Kinos und Fitnesszentren.
Was Max Horkheimer eine "andere Sehnsucht" nennt, läßt sich in der
gesamten Menschheitsgeschichte nachweisen. Schon in den archaischen
Kulturen, in deren Begräbnisriten und Höhlenzeichnungen, ist sie lebendig
feststellbar. Erst recht in den sog. "Hochkulturen". Sie bekunden in Wort
und Kunst das, was in Menschen eklatant vorhanden ist: das nie zufrieden
sein können mit den Erfahrungsbereichen einer Welt, die als unerlöst,
hinfällig, vergänglich, zerbrechlich, als relativ und vorläufig empfunden
wird. Viele denken darüber nach. Cicero leitet das Wort Religion vom
Lateinischen "religere" ab - "sorgfältiges Beobachten der Gottesverehrung";
Laktanz von "religare": Verbindung des Menschen mit Gott. - Andere
sprechen von einer "Entscheidung für Gott in Gottesliebe und Gottesbesitz" (Augustinus);
von der "Ordnungsbeziehung des Menschen zu Gott als seinem Schöpfer" (Thomas
von Aquin); von der "Bezogenheit des Menschen auf das Unendliche" (Schelling);
von der "Beziehung des Menschen mit einer überweltlichen Macht" (Söderblom);
von der "Überwindung der eigenen Begrenztheit" (Girgensohn); von der
"theoretischen und praktischen Anerkennung eines Höheren" (Rademacher);
vom "Versuch des Menschen, seine Existenz überweltlich zu begründen" (Brunner);
vom "totalen Sich-Einlassen des Menschen auf den Sinngrund seiner selbst,
auf den heiligen, geheimnisvollen Sinngrund aller Dinge" (Fries); vom
"Gefühl der Koexistenz mit dem Unendlichen", von der "Lust und dem
Verlangen, durch alles Endliche des Unendlichen inne zu werden" (Schleiermacher);
vom "Selbstbewusstsein Gottes im Menschen" (Hegel); von der
"Erkenntnis unserer Pflichten als göttliche Gebote" (Kant); vom
"Erlebnis des Heiligen und Numinosen" (Otto); von der "erlebnishaften
Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln als vom Heiligen
bestimmten Menschen" (Mensching).
Man kann kreuz und quer durch die Kulturgeschichte der Menschheit gehen:
Religion gibt immer Kunde von einer "Provinz im Menschen", die darauf aus
ist, die Welt und das Leben in ihrer Ganzheit vor-wissenschaftlich oder
wissenschaftlich zu deuten. Der Mensch will wissen, wer er ist, woher er
kommt und wohin er geht. Er will sich selbst und seinen "Ort" erkennen im
Gesamtgeschehen der Welt, seinen Lebens-Sinn innerhalb eines größeren
Zusammenhangs.
In den sog. Offenbarungsreligionen setzt sich dieser Prozess nicht so
sehr "vor-wissenschaftlich" oder "wissenschaftlich" fort; viel mehr
personalisiert sich hier die Begegnung Gottes mit dem Menschen als Hörer
und Gesprächspartner. Mohammed behauptet, er habe alle Wahrheiten und
Anweisungen des Korans von Allah direkt und unmittelbar in Ohr und Herz
zugesprochen bekommen. Deshalb sei seine Lehre unverrückbar,
uninterpretierbar und unüberholbar. - In diesem Sinne steht der Islam ganz
in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes. Nur spricht im AT diese
Art des wörtlichen Gottesdiktates eine nicht so entscheidende Rolle. Jahwe
spricht zunächst zu seinem Volk. Er führt es von Anfang an durch die
wechselvolle Geschichte und beruft es, einen Bund mit ihm zu leben. Gott und
Mensch werden Partner. Der Mensch als Ebenbild Gottes ist dazu berufen, die
von Gott geschaffene Welt zu verwalten und schöpferisch weiter zu gestalten.
Die "Sprache Gottes" sind nicht die in die menschlichen Ohren gesprochenen
Worte, sondern geschichtliche Ereignisse, die der Mensch als Anrufe Gottes
zu verstehen und zu bewältigen hat. Indem dieser Antworten findet und "tut"
auf die Herausforderungen der Zeit und die Anforderungen des Lebens,
entdeckt er auch - auf dem Weg oder Umweg vieler Erfahrungen - die Maßstäbe
des Lebens und Handelns, die Gott ihm setzen will und nach denen er sich zu
orientieren hat. Die Zehn Gebote regeln das Leben gläubiger Menschen
untereinander und ihre Beziehung zu Gott. Bei deren Formulierung auf dem
Berg Sinai spielt Moses eine entscheidende Rolle; zu deren Einhaltung
mahnen die Schriftgelehrten und Propheten.
In Jesus von Nazaret erreicht der personale Gottesbezug seinen
Höhepunkt. Weil Gott selbst immer "im unzugänglichen Lichte wohnt, den kein
Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag" (1Tim 6.16), ist der Glaube im
Christentum an die Menschwerdung Gottes zentral. Indem Gott Mensch wird,
vermag er Aussagen zu machen, die der Mensch versteht. An der
geschichtlichen Gestalt Jesu vermag der Mensch zu erkennen, wer Gott ist,
wie er denkt und an den Menschen handelt. Das menschen- und situationsnahe
Denken und Handeln Jesu werden die eigentliche "Sprache Gottes". Sie werden
die Maßstäbe für die Lebenshaltung von Christen überhaupt. Deren "Glaube"
ist nichts anderes als das Ja-Sagen zu den Heil schaffenden Worten und Taten
Jesu. Und Christen sind dafür da - sie finden ihre Existenzberechtigung in
der Welt nur dadurch -, dass durch sie die Heil schaffenden und erlösenden
Taten Jesu fortgesetzt werden. "Glaube" ist die verbindliche Übernahme der
Denk- und Handlungsweise Jesu in die eigene Lebenswelt. Das gilt für den
einzelnen Christen wie für die Christenheit als Ganze.
Im Neuen Testament werden die Maßstäbe allen Denkens und Handelns eindeutig
und verbindlich gesetzt. Sie heißen: Liebe, Gerechtigkeit, Güte,
Verzeihen... "Bleibet niemand etwas schuldig, nur die Liebe schuldet ihr
einander", schreibt Paulus (Röm 13.8). Und indem er das "Hohe Lied der
Liebe" besingt (1 Kor 13), aktualisiert er für die Gemeinde in Korinth das,
was Jesus gefordert hatte: "Das ist mein Gebot: dass ihr einander liebt, wie
ich euch geliebt habe" (Joh 13.8).
Dass solche "Bündnisbereitschaft" mit dem Heilswillen Gottes an der Welt
weit über Zeremonien, Riten und Liturgien hinausgeht, müssen sich
"Sonntagschristen" immer wieder vor Augen führen lassen. Das Christentum im
Originalton mobilisiert alle schöpferischen Kräfte des Menschen und lässt
Haltungen wie: "kirchlichen Gehorsam", Obrigkeitentreue und "Untertänigkeit"
als zweitrangig erscheinen. Der Christ ist wie kein anderer zur Freiheit
berufen. Freiheit bedeutet aber auch Unsicherheit, Ungewissheit und Wagnis.
Wer sich davor drückt oder sich durch manipulierende Machenschaften der
Mächtigen unterdrücken oder mundtot machen lässt, der zerstört sich selbst
und alles, was als "Charisma" in ihm angelegt ist: menschliche Würde,
Freiheit, Aufrichtigkeit...
Der wie auch immer dressierte Mensch - "gestutzter Adler in einem Hühnerhof"
- macht einen zwiespältigen Eindruck. Sein Ich steht immer unter dem
Imperativ eines Obrigkeiten- Ich. Er ist hin- und hergerissen zwischen
beiden. So vermag er - bei aller äußerlich geübten Religiosität - der
"Sehnsucht nach einem ganz Anderen" nicht gerecht zu werden. Er bleibt
unfähig und unwillig, den eigentlichen Sinn des Lebens zu begreifen.
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