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Was ist Religion (6)? :
Die Frage nach dem unbekannten Gott.
September 2005
Tatsache ist: niemand hat Gott je gesehen; niemand kann letztlich
Auskunft geben über den, den die Menschheit "Gott" oder "göttliche Urkraft"
zu nennen pflegt. Gott ist der oder das große Unbekannte. Person? Göttliches
Prinzip? Allherrschende Kraft? Vorantreibende schöpferische Dynamik? Eine
eindeutige Antwort gibt es nicht.
Der Apostel Paulus, als er in Athen die vielen Altäre und
Anbetungsstätten beobachtet, spricht von dem "unbekannten Gott", den alle
verehren; der das ganze Menschengeschlecht erschaffen hat; der "keinem von
uns fern ist"; den es zu suchen und zu ertasten gilt; der den Tag des
Gerichtes für den Erdkreis festgesetzt hat...(Apg 17.22-31).- An einer
anderen Stelle ist von dem "Herrn der Herren" die Rede, "der allein die
Unsterblichkeit besitzt; der in unzugänglichem Lichte wohnt; den kein Mensch
gesehen hat noch zu sehen vermag: ihm gebührt Ehre und ewige Macht"(1 Tim
6.16). -
Dieser Gott, von dem alle Völker und Kulturen in einer anderen Sprache
reden, ist bis heute der große Unbekannte geblieben. Der Buddhismus
spricht von einem göttlichen Urgrund aller Dinge. Aus ihm geht alles hervor;
zu ihm kehrt auch der Mensch zurück - auf dem mühevollen Weg der vielen
Wiedergeburten. Das Nirwana ist das göttliche Urmeer der ewigen Ruhe und des
tiefen Schweigens. - Der Islam spricht von Allah, der durch kein Bild
und keine Vorstellung gegenständlich sichtbar gemacht werden kann; der dem
Propheten ewige und unveränderbare Wahrheiten ein für allemal mitgeteilt,
ins Ohr geflüstert hat... Im Judentum und Christentum
entwickelt sich der Glaube an den Einen Gott, den Schöpfer des Himmels und
der Erde, den - wie Paulus sagt - "kein Mensch zu sehen vermag".
Obwohl der große Unbekannte, benennen ihn die Menschen mit hundert Namen,
Vorstellungen, Deutungen: er ist allmächtig, allweise, allgütig,
gerecht, schöpferisch, heilend und erlösend tätig. Er ist verborgen,
unerforschlich, unergründlich, zornig, richtend und strafend... Er stellt
unsere gesamte Lebenswirklichkeit als relativ, unvollendet, unerlöst in
Frage... Im Christentum sendet er seinen Sohn in die Welt, um der
gefährdeten Schöpfung einen Weg zu weisen, einen neuen Anfang zu setzen...
Vielleicht haben diese unzähligen Eigenschaften Gottes weniger mit Gott zu
tun als viel eher mit menschlichen Lebenslagen, in denen die Menschen
ihre jeweilige Existenz zu ergründen versuchen. Wer in seiner Kindheit einen
strengen und autoritären Vater erlebt hat, für den wird Gott leicht zu einem
Richter und Bestrafer. Wer einen besonderen Hang nach Macht, Einfluss und
Karriere hat, beansprucht den Namen Gottes leichtfertig als Allmächtigen und
Herrscher, der es verdient, - wenn nötig - mit Feuer und Schwert auf der
Welt bekannt gemacht zu werden. Wer konfliktscheu ist und keine Spannungen
auszuhalten vermag, für den ist Gott nur voller Güte und liebevoller
Barmherzigkeit. Wer sein Leben gerne nach Gesetz und Ordnungsprinzipien
gestaltet, für den ist Gott die Begründung für unverrückbare (knallharte)
Anordnungen und unwiderlegbare Standpunkte...
Solche und andere Ambitionen haben alle gemeinsam, dass sie dem großen
Unbekannten auf die Spur zu kommen versuchen. Sie sind Ahnungs- und
Erfassungsversuche gegenüber dem Transzendenten und Grenzenlosen, der in
Wirklichkeit unerkannt ist und bleibt. Paulus, der darum weiß, sieht seine
Aufgabe darin, ihn zu verkünden. Dies wurde nur dadurch möglich, weil Gott
in der geschichtlichen Gestalt Jesu Fleisch angenommen, buchstäblich
Mensch geworden ist. Über dieses Geheimnis will Paulus "nicht in
Unwissenheit lassen" (Röm 11.25); er versteht sich als "Ausspender des
Geheimnisses Gottes" (1Kor 4.1), welches das Geheimnis Christi ist (Kol
4.3).
Seitdem ist für die Christenheit die Sprache Gottes nur durch eine
Menschengestalt zu verstehen. Wer also Gott ergründen und angemessen erahnen
möchte, muss auf Christus schauen, auf das, was er gesagt und getan hat; auf
die menschlichen Situationen, in denen er gelebt hat und die er so oder so
gemeistert hat; auf die Art und Weise, wie er mit den Menschen umgegangen
ist - sie kritisch unter die Lupe nahm oder sie aus ihrer Niedrigkeit
befreite; wie er selbst sein Leben verstanden und "eingeordnet" hat in das
große, alles umfassende Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen Gottes mit der
Welt, welches erst am Ende seine Vollendung findet; wie er auf vielfältige
Weise mit Worten und Taten den Menschen für alle Zeiten ein Beispiel gegeben
hat, wie es gottgemäß und sinnvoll Leben zu gestalten gilt - selbst noch
mitten in Niederlagen und Katastrophen.
In diesem sehr konkreten Sinne ist das Christentum keine Religion,
wie die Religionswissenschaft sie versteht; duldet auch keine abstrakte
Theologie um ihrer selbst willen, zumal sie dazu neigt, nicht zuzugeben,
dass sie mit all ihren Äußerungen im Dunklen, im Ungewissen tappt - und das
umso mehr, je fleißiger sie auf magische Art versucht, das angeblich
Unverfügbare in Worten, Symbolen und Begriffen verfügbar zu machen. Wenn
überhaupt eine Lehre, dann ist das Christentum eine Christologie, die
einzig und allein nach Christus fragt, nach jenem "exemplarischen Menschen"
(K. Jaspers), den die Christenheit als "Sohn Gottes", als "Gottgesandten"
versteht; der die Wege Gottes kundtut; der für die Menschen zum Maßstab und
Anhaltspunkt für alle christliche Lebensgestaltung geworden ist.
Solange das Christentum den unbekannten Gott in wohlformulierten
Lehrgebäuden zu fassen versucht, kann es zwar den Gottesbezug in der
Europäischen Verfassung einfordern; aber wenn es keinen lebendigen Bezug
zu den Wurzeln der eigenen Tradition überzeugend vorzuweisen vermag,
bleibt der Hinweis auf "Gott" eine Worthülse ohne wirksame Bedeutung. - Man
kann auch in der modernen Massengesellschaft eine neue christliche
Spiritualität auszumachen versuchen und sich darüber freuen. Aber ohne
die handfesten gesamtmenschlichen Wurzeln bleibt dieses Wort in der
Bedeutung nebulös und ungewiss; beliebig deutbar und anwendbar. - Ebenso ist
es mit der sog. Sinnfrage bzw. Sinn-Angebot. Der Eindruck wird
hinterlassen, als lasse sich diese Frage von "Kennern" ein für allemal für
alle beantworten. In Wirklichkeit möchte sich niemand mehr von irgendwelchen
Autoritäten vorschreiben lassen, welches der Sinn seines Lebens ist. Das
will und muss jede/jeder für sich selbst herausbekommen. Es handelt sich ja
nicht um einen simplen Gegenstand, auf den man verweisen könnte. Den
"Sinn" für alle und für jeden gibt es nicht. Was das Leben sinnvoll
macht, ist die Erfahrung einer bestimmten Lebens- und Handlungsweise. Was
macht mein Leben sinnvoll, lebenswert, lohnend? - diese Frage zu
beantworten, ist dem Einzelnen als Aufgabe aufgegeben. Sie zu beantworten -
dauert ein Leben lang.
Die Realität der traditions-lastigen Kirche(n) wird der Personwerdung des
Menschen wenig gerecht. Was sie in Theologie und Liturgie treibt, ist
etwas Exotisches, welches auf einem anderen (theologischen) Planeten wächst.
Es werden dem Menschen immer wieder neue Katechismen und Glaubensbücher
zugemutet. Was "die Kirche" glaubt, wird (vergeblich) wie eine Glasglocke
über die Menschen gestülpt. Diese werden dann als besonders "gläubig"
eingestuft, wenn sie bestimmte theologische Formeln auswendig gelernt haben
und bei Festlichkeiten dabei sind. Würde die Kirche ihre ursprüngliche
religions-pädagogische Aufgabe wiederentdecken und ernst nehmen, müsste
sie es lernen, an den drei Dimensionen des religiösen Bewusstseins
anzuknüpfen, die es im Menschen gibt.
Die erste ist ein Ahnen, ein Fühlen, ein Hoffen auf etwas "ganz
Anderes". Dieser "Gott" bleibt im Ungewissen, ist unbekannt. Zu behaupten,
ihn zu kennen und dauernd über ihn zu reden, ist auf Dauer ermüdend und
kontraproduktiv. Man hört nur noch mit einem Ohr hin, und das auch nur bei
feierlichen Anlässen. In Wirklichkeit begegnet der Mensch dem Transzendenten
als "tremendum" und "fascinosum" (R.Otto) - als furchterregend-gewaltig und
faszinierend-erhaben. Man kann es feiernd erahnen, ihm tanzend und
magisch-beschwörend Huldigung erweisen.
Religiöse Massenveranstaltungen, Events, Weltjugendtage... werden dieser
Veranlagung des Menschen am meisten gerecht. Der Kirche gelingt es aber
weitgehend nicht mehr, die Menschen und deren Lebenseinstellungen mit der
zweiten Stufe in Einklang zu bringen: mit ihrer Lehre, ihrer Tradition,
ihrem Kult und ihren Strukturen. Obwohl die Bemühungen der Kirche in dieser
Richtung enorm sind, bleibt die Mehrheit der Menschen in ihren
Lebenseinstellungen unbeeindruckt. Für sie ist die "Amtskirche" in vielen
Lebensfragen "weit weg" und weltfremd. Was sie sagt, ist ohne nachhaltige
Bedeutung. "Einen Katechismus besitzen wir zwar; aber er verstaubt im
Bücherregal" - ist immer wieder zu hören. Es ist schlicht nur eine elitäre
Minderheit, die auf dieser Stufe des religiösen Bewusstseins beheimatet ist:
die Amtsträger, die Fachleute und Theologen, die Kirchenbeamten. Bisweilen
ist es aber auch nur ihr "Job".
Die dritte Stufe des religiösen Bewusstseins könnte man als
konsequente und strenge Orientierung am Gründer bezeichnen. Wahrscheinlich
ist dies die eigentliche Krankheit der Kirche(n): bei allem Pomp und
theologischen Getöse fehlt oft der klare Durchblick zu ihrer ureigenen
Aufgabe. Jesus wird eher als Aushängeschild und Etikett benutzt, um
kirchlichen Ambitionen (vergeblich) Kraft und Überzeugung zu verleihen. Denn
was de facto gedacht und getan wird, hat mit dem Gründer wenig zu tun. Sich
hinter der "gottgewollten Tradition" verstecken, macht die Sache auch nicht
überzeugender. Denn die Frage, ob die heiliggehaltenen Traditionen die
Entfaltung des Ursprünglichen sind oder dieses sogar verdecken und
verhindern - diese Frage wird gar nicht erst zugelassen.
Es bleibt auf Zukunft hin noch viel zu tun, um zu dem wieder fähig zu
werden, was Paulus treibt: den "Unbekannten" so zu verkünden, dass er
trotzdem der Unbekannte und Unverfügbare bleibt.
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