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Sonntagsgedanken für den Alltag (10):
Thomas der Zweifler. Er hätte bei Johannes Paul II. keine Chance gehabt.
(Nach Joh. 20.19-31; Ev. vom 2. Sonntag der Osterzeit A)
Mai 2011
Der Evangelist Johannes schildert den Zweifler Thomas mit großer
Sympathie und Rücksichtnahme. Damals, in der Zeit nach Ostern, setzte sich
in der Jüngerschaft Jesu der Glaube an die Auferstehung durch. Viele
behaupteten, Jesus lebendig begegnet zu sein. Es gehörte viel Mut dazu, in
dieser Situation zu sagen: Ich glaube es nicht! Ich werde erst glauben, wenn
ich meine Finger in seine Seite legen darf.
Jesus gewährt ihm diesen anmaßenden (?) Wunsch. Offensichtlich liebte er
diesen Zweifler, Grübler, Denker, Hinterfrager..., der sich mit fertigen
Antworten und Behauptungen nur schwer zufrieden geben wollte. Wie sich in
der Nachfolgezeit bis heute herausgestellt hat, haben solche Denker den
Glauben, die Kirche und überhaupt die Weltgeschichte vorangebracht,
jedenfalls mehr als Eingesessene und Etablierte, die stets über jeden
Zweifel erhaben sind.
Das Evangelium vom Thomas passt gut zum heutigen Tag der Seligsprechung von
Johannes Paul II (1. Mai 2011). Er wird als "Jahrhundertpapst" gefeiert, als
"Papst der Superlative". Für die Polen ist er der Größte aller Zeiten.
Tausende von Touristen, die in Rom zusammenströmen, nehmen Teil an ihrer
Festlichkeit. Johannes Paul II. hat in seiner Amtszeit 247.613 km mit dem
Flugzeug zurückgelegt und 128 Länder besucht; er hat 1338 "Vorbilder im
Glauben" selig und 483 heilig gesprochen. Obwohl er nicht politisch, sondern
pastoral tätig sein wollte, hat er der Gewerkschaft Solidarnosc zum
Durchbruch verholfen, zur Zerschlagung des Warschauer Paktes beigetragen und
dem maroden kommunistischen System den Todesstoß versetzt. Seine Rolle, die
er bei allem spielte, hat er selbst so beschrieben: "Ich habe das nicht
veranlasst. Der Baum war schon in seinem Inneren verfault. Ich habe ihn nur
ordentlich geschüttelt, und dabei sind die verfaulten Äpfel
heruntergefallen".
Das Jahr 2000 sollte für ihn zum Wendejahr für die Kirche werden. In "Dominus
Jesus" heißt es, das volle Heil finde sich nur im Christentum, andere
Religionen seien "schwer defizitär" – eine Überzeugung, die ihn nicht davon
abgehalten hat, deren Führer 1986 und 2002 zu interreligiösen Treffen nach
Assisi einzuladen.
Wie immer bei "Events" und Massenkundgebungen die Gefahr besteht, so auch
hier: Tatsachen werden verschwiegen. So auch am Tag der Seligsprechung. Es
werden alle seine großen Verdienste hervorgehoben, um bei den Massen den
Eindruck makelloser Heiligkeit zu erwecken. Seine unübersehbaren Schwächen
werden verdrängt: sein gebrochenes Verhältnis zur Freiheit und
Selbstbestimmung des Menschen, lebend in einer "Kultur des Todes". Statt
Menschen in ihrem Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung Brücken zu bauen,
sie zu "läutern" und sie zu Werten hinzuführen – blieben seine strenge
Sexualmoral, sein abwertendes und entwürdigendes Urteil über Homosexuelle,
sein Verbot über den Gebrauch von Kondomen, selbst wenn Aidsgefahr
besteht...
Die schwarz-weiß-Malerei war ihm eigen. Hier das kirchliche Heil – dort das
säkularisierte Unheil, obwohl er selbst davon profitierte. Thomas, der
Zweifler, hätte bei ihm keine Chancen gehabt. Er ist auf seinen Reisen
vielen solcher "Zweifler" begegnet. Diese waren sich des Weges der Kirche in
der Welt von heute und morgen nicht mehr sicher. Dazu gehörten selbst
Päpste: Johannes XXIII., Paul VI.; ebenso viele Kardinäle, Bischöfe und
Theologen rund um den Globus. Er, der über alle Zweifel erhaben war, hat
alle Zweifler und Hinterfrager mundtot gemacht. Offensichtlich war er sich
des "polnischen Weges" für die gesamte Christenheit absolut sicher, ebenso
wie sein "Lebensbegleiter", Benedikt XVI. Das seltsame geschichtliche
Paradox besteht allerdings darin, dass unter der Regentschaft von beiden,
die strikt auf theologische und kirchenrechtliche Sicherheiten bedacht
waren, die christlichen Sicherheiten von einer wachsenden Mehrheit immer
mehr infrage gestellt werden. Sie, die auf die Zukunft aus waren, haben,
statt Fortschritte bei der Bewältigung der Kirchenkrise zu machen,
verhängnisvolle Rückschritte in eine Vergangenheit gemacht, die es seit 100
Jahren schon nicht mehr gibt.
Johannes Paul II. hätte ein Zukunftspapst werden können. Aber er wusste es
besser als seine unmittelbaren Vorgänger und als diejenigen Kleriker und
Laien, die sich ernsthaft Gedanken machten. Durch ihn sind Lernprozesse seit
der Würzburger Synode, seit der afrikanischen und lateinamerikanischen
Theologie abrupt zunichte gemacht worden. Wenn heute weltweit Tausende
Katholiken der Kirche enttäuscht und demotiviert den Rücken kehren, liegt
das wesentlich an der Politik des heute Seliggesprochenen.
Wenn Jesus gegenüber dem Thomas und vielen anderen ein ganz anderes
Verhalten zeigte, dann machte er deutlich, dass jeder Mensch mit seinen
guten und weniger guten Eigenschaften wichtig bleibt für das, was er das
"Schon-Jetzt" des Reiches Gottes nannte. Bei diesem "Schon-Jetzt" ist die
Einübung in die gegenseitige Liebe, Toleranz und Akzeptanz um des Friedens
und der Gerechtigkeit willen stets gefragt.
Führende Kirchenleute haben sich seit Jahrhunderten an andere Prioritäten
gewöhnt: es gilt, das im Mittelalter gewordene "heilige System Kirche" mit
ihren Hierarchien, klerikalen Strukturen und Privilegien um jeden Preis zu
retten. Dabei ist jeder willkommen, der sich auf Seilschaften und interne
Machenschaften einlässt. Andere, die sich auch nur annähernd wie der
Zweifler Thomas verhalten, bleiben draußen vor der Tür. Das wird so lange
der Fall bleiben, bis diejenigen, die jetzt "drin" sind, sich draußen vor
der Tür befinden. Die Zeiten stehen in dieser Weise auf Sturm. Man kann auf
künftige Entwicklungen gespannt sein.
Für den heutigen Tag steht jedenfalls fest: Die von Menschen gemachten
Seligen und Heiligen sind weit von der Vollkommenheit entfernt, von der
Jesus in der Bergpredigt gesprochen hat: "Seid vollkommen, wie euer Vater im
Himmel vollkommen ist" (Mt 5.48). Massenkundgebungen sind mit Vorsicht zu
genießen!
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